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12. März |
Sehnsucht |
Die Sehnsucht nach der Ferne
kommt eines schönen Tages, wenn man es am wenigsten erwartet,
wie ein Schnupfen oder ein Lotterie-Gewinn. Monoton hämmernde
Eisenbahnräder, der Duft eines Steaks in einem Speisewagen, ein
im Hafen heulender Dampfer oder eine Postkarte von einer fernen Küste
– schon hat es einen gepackt. Bei mir hat die Sehnsucht nach meinem
nächsten Ziel bei der Lektüre eines alten Buches Einzug
gehalten. „Reise ans Ende der Welt“ heißt es []. Es schildert
die Reise eines dänischen Journalisten und eines Freundes nach
Feuerland, dem südlichsten Zipfel Patagoniens. Es war in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Anfahrt allein
– von Hamburg aus per Frachtschiff – war ein Abenteuer. Denn damals
konnte man Passagen auf Frachtern noch nicht, wie heutzutage, als
ganz normale Kreutzfahrten buchen! Meine Sehnsucht hat lange – zu lange? – warten müssen. Aber jetzt
ist es so weit: Heute Nachmittag fliege ich nach Ushuaia, der
südlichsten Stadt der Welt. |
Aber gibt es, in einer Zeit, in der die Tourismusbranche nur die weniger
schönen Fleckchen unserer Erde übrig gelassen hat, überhaupt
noch ein "Ende der Welt"? Seitdem Argentinien den Eins-zu-eins-Wechselkurs
zum Dollar aufgehoben hat, ist es für Ausländer zum Billig-Reiseland
geworden und für Argentinier zum einzigen Land, dass sie sich
leisten können. So überschwemmen die nun zahlreicher gewordenen
Touristen alle landschaftlich interessanten Gebiete des Staates, von
den Anden bis zum Atlantik. Sie machen auch vor der „Tierra
del Fuego" nicht Halt. Bezeichnend ist, dass ich meine Bleibe
in Ushuaia übers Internet buchen konnte! Aber immerhin
ist es eine „casa de familia“ (eine Privatunterkunft) und die
Gastgeber sind Italiener, was vielleicht doch interessanter sein könnte
als das Logieren in einem der teueren Hotels. |
Anflug auf Ushuaia |
Die Aussicht aus dem Flugzeug
ist großartig: mit der schneebedeckten chilenischen Cordillera in der Ferne, den näheren Bergen, deren Farben in der Abendstunde
von braun bis dunkellila variieren, dem Metallblau der Seen und Fjorde,
den fantastischen, abstrakten Mustern von Buchten, schlängelnden
Flüssen, Küstenlinien und Schneeresten. |
Dachte ich vor kurzem noch, dass die Fortbewegungsart „Fliegen"
etwas Künstliches sei, das dem Wesen des Reisens, den Landschaften
mit ihren Räumen und der Zeit nicht gerecht würde, so muss
ich nun meine Meinung ändern. Denn was sich unter mir abspielt,
ist ein Erlebnis, dass ich nie mehr vergessen werde. |
Letzteres denke ich jedenfalls bis zu dem Augenblick, als der Flug
anfängt, ungemütlich zu werden. Denn kurz vor der Landung
bekommt der Boeing plötzlich Schluckauf und die so genannten
Luftlöcher stellen meine Nerven minutenlang auf eine harte Probe.
Dann wäre ich doch lieber in einem rüttelnden und schüttelnden,
erdnahen Überlandbus! Aber wie auch das Bohren beim Zahnarzt,
so sind auch diese unangenehmen Momente bald vorbei und die Maschine
rollt mit einem überglücklichen Passagier auf der Landebahn. |
Dabei soll die Landung früher, als sie auf einer wesentlich kürzeren,
oft quer zum Wind verlaufende Landebahn erfolgte, noch viel aufregender
gewesen sein. |
Sicher angekommen |
Herr Piatti (Javier) wartet bereits,
mit dem üblichen hoch gehaltenen Namensschild versehen, in der
Ankunftshalle auf mich. Er ist ein untersetzter junger Mann mit dunklen,
leicht schütter werdenden Haaren und einem gewinnenden Lächeln.
Ich bin auf ihn, so wie ich es auch mit meinen bisherigen Unterkünften
in Argentinien getan habe, mittels einer Internet-Suchmaschinen gekommen:
Stichwort casa de familia, wie Privatunterkünfte hier
genannt werden. |
Als wir als eines der ersten Gesprächsthemen meine weitere Reiseroute
anschneiden und ich dabei El Calafate, meine nächste Etappe,
erwähne, konfrontiert er mich prompt mit der Nachricht, dass
gerade in diesen Tagen der Riesengletscher Perito Moreno vor
dem "Kalben" stehe. Dazu muss man wissen, dass alle paar
Jahre das Endstück der 60 Meter hohen Eiswand dieses Gletschers
explosionsartig und mit Ohren betäubendem Krach abbricht. Ein
Schauspiel, dass gewaltig sein muss.
Ich habe kaum Zeit, über mein missglücktes Timing zu räsonieren,
da fügt er hinzu, dass sich neben den zahlreichen Fernsehteams
aus der ganzen Welt bereits mehr als zehntausend Touristen vor Ort
befänden, die alle auf das Großereignis warteten. Man stelle
sich nur das Gedränge vor! Angesichts einer solchen Horrorvision
bin ich gleich wieder beruhigt.
Wir steigen in sein japanisches Allradgefährt ein und nach kaum
mehr als einer Viertelstunde holpert der Wagen bereits, zahlreiche
Schlaglöcher ausweichend, eine von einem Wäldchen gesäumte
staubige Erdstraße hinauf, die sich zwischen einfachen Holzhäusern
hinaufschlängelt. Bellende Hunde und einzelne spielende Kinder
begleiten uns.
Der in Buenos Aires gebürtige Javier, dessen Familie aber aus
Süditalien stammt, spricht seine Muttersprache noch erstaunlich
gut, man hört ihm sogar den südlichen Akzent der Marken (seine Eltern stammen aus Macerata) an. Er betreibe, erklärt
er ganz selbstbewusst, die erste Bed-and-breakfast-Pension Feuerlands
und verdinge sich dazu noch als Reiseführer für Italienisch
sprechende Reisegruppen.
Meine Behausung entpuppt sich als eine mitten in einem Südbuchen-Wäldchen
gelegene cabaña, eine einfache Holzhütte mit einem bis
zum Boden reichenden steilen Satteldach.
Nachdem ich mein Gepäck abgestellt habe, ist Javier so zuvorkommend,
mich auch noch die zwei Ki-lometer zurück ins Stadtzentrum zu
fahren, damit ich nicht hungrig zu Bett gehen müsse. |
Abendessen |
Das Zentrum
- das ist nicht viel mehr als die Avenida San Martin: ein Souvenirgeschäft
neben dem anderen, ein Café neben dem anderen, ein Restaurant
neben dem anderen, ein locutorio internet (Internet-Café)
neben dem anderen; des weiteren heladerias (Eisdielen), Banken,
noch mehr Cafés und überall Neon-Reklameschilder, die
Las Vegas als Vorbild gehabt haben könnten. Es gibt sogar ein
Spielkasino. Die Stadt ist eine Mischung aus Wildwest-Stadt und einem
amerikanisierten Berchtesgaden. Alles scheint einzig und allein auf
den Tourismus ausgerichtet zu sein. |
Spätestens wenn man ein Grillrestaurant (parilla genannt)
betritt, besteht kein Zweifel mehr da-ran, in welchem Teil der Welt
man sich befindet. In Argentinien wird nämlich vor allem eines
ser-viert: gegrilltes und über Holzfeuer gebratenes Fleisch! |
Direkt an einer offenen Feuerstelle und für den Gast gut sichtbar
garen auf Spießen gesteckte Zicklein- und Lammhälften.
Gleich daneben kommt der Koch kaum noch dazu, genügend dicke
Rindfleisch-Scheiben abzuschneiden, auf ein Grillrost zu legen und
den Garfortschritt unter Kon-trol-le zu halten, so ein Betrieb herrscht
noch zu dieser späten Stunde. |
Obwohl ich eigentlich keinen großen Hunger mehr habe, bin ich
von diesem Tempel der Flei-sches-lust so beeindruckt, dass ich mich
für ein lomo a la parilla (Filet-Steak) überrede.
Unnötig zu sa-gen, dass das zwei Finger dicke Fleisch saftig und
zart ist. |
Weil ich sehr stark daran zweifle, in der Dunkelheit dieser späten
Stunde den Weg zurück zu mei-ner Hütte zu finden, beschließe
ich, ein Taxi zu nehmen. So werde ich in Null Komma Nichts die zwei
Kilometer zur Bahia Paradiso 812 gefahren, wo meine Behausung
bereits auf mich wartet. Der Fahrpreis beträgt ganze drei Pesos,
der Preis einer Kurzstrecke mit der Münchner U-Bahn. |
13. März |
Zur Seelöweninsel |
Ich sitze an Deck des MS Barracuda [ ], eines in die Jahre gekommenen Ausflugsschiffs, und warte auf die
Abfahrt. Unzählige Male muss das gute Stück mit Touristengruppen
den Beagle-Kanal auf und ab geschippert sein! Eine als Matrose
verkleidete Fremdenführerin kommt gerade, die Passagiere freundlich
anlächelnd, an Bord und balanciert dabei geschickt eine Tortenglocke
auf jeder Handfläche. Schließlich sollen wir raue Seefahrer
nicht auf unser Fünfuhr-Kaffeekränzchen verzichten müssen.
Magellan und Darwin fuhren diese Strecke lange vor uns. Der Wind tobte,
die See peitschte eisige Wellen übers Deck und das Leben der
tapferen Männer war fortdauernder Gefahr ausgesetzt. Das unauffällige
belgische Ehepaar mittleren Alters, das bequem neben mir auf der Holzbank
Platz genommen hat, scheint diese Gefahren völlig zu ignorieren.
Mut und Zuversicht ist in ihren wettergegerbten Gesichtern
und in ihren funkelnden Augen zu erkennen. |
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Das trügerische Meer zeigt sich
aber heute nur von seiner harmlosen Seite. Die Wasseroberfläche
ist spiegelglatt, der berüchtigte patagonische Wind ist einer
uneingeschränkten Flaute gewichen und der Himmel ist milchig-weiß.
Es ist drückend heiß – jedenfalls dann, wenn man sich wie
ich vorsorglich eine dicke Daunenweste angezogenen hat. Am Pier steht
unser Steuermann Alejandro vor dem Fallreep und fertigt die weiteren
hinzukommenden Rentner und Paare mittleren Alters ab, die wie ich
ihre Abenteuerader entdeckt haben. |
Bis wir wegfahren, hat sich der Himmel fast völlig zugezogen
und die Sonne ist nur noch als konturloser heller Fleck zu erkennen.
Immerhin sorgt der Fahrtwind jetzt für etwas kühlere Luft. |
Während ich so ahnungslos und friedlich die Aussicht und die
frische Brise in vollen Zügen genieße, taucht ungebeten
das Zynismus-Teufelchen in meinen Gedanken auf und versucht mir zu
suggerieren, dass auch diese Tour (wie die zur Valdes-Halbinsel)
zum Schlag ins Wasser werden könnte. Nur mit Mühe schaffe
ich es, ihn in Schach zu halten, indem ich die wunderbare Meer-und-Berge-Landschaft
genüsslich auf mich einwirken lasse und mich dabei in eine wohltuende
philosophische Gleichgültigkeit versenke. |
Als wir uns der Isla de los Lobos (Insel der Seelöwen)
nähern, werde ich trotzdem (oder der Fotograf in mir wird) ein
wenig ungeduldig. Wie erlöst fühle ich mich deshalb, als
wir endlich mit der Insel, die fest im Zangengriff der Ausflugsschiffe
ist, auf Tuchfühlung kommen und tatsächlich Dutzende von
Seelöwen beobachten können. |
Das über 50 Jahre alte Schiff wird mit Gespür und Geschicklichkeit
bis auf wenige Meter an die Insel, eigentlich nur ein größerer
Felsen, heranmanövriert. Als schließlich der Motor abgestellt
ist, geht eine Knipsorgie los, die ihresgleichen sucht. Eine kurze
Rechnung: Wenn jeder der geschätzten fünfzig Passagiere
im Durchschnitt ein Dutzend Mal auf den Auslöser drückt
(wobei ich selbst den Durchschnitt in die Höhe treibe), dann
macht das nach Adam Riese etwa sechshundert Aufnahmen. Bei etwa sechs
bis acht Ausflugsschiffen pro Tag (in der Hochsaison dürfte es
weit darüber liegen) ergibt das im Jahr nicht weniger als – sage
und schreibe – eine Million Aufnahmen! Welches Hollywood-Starlet würde
da nicht vor Neid erblassen? |
Die Tiere zeigen aber trotz dieses Interesses
überhaupt keine Eitelkeit. Sie stellen sich weder in Pose, noch
achten sie in irgend einer Weise auf den ganzen Rummel. Sie liegen
nur zu Hunderten faul und gleichgültig auf dem kleinen Felsen
mitten im Beagle-Kanal herum. Keine Hektik kann sie dazu bewegen,
hin und her zu hopsen und sich gegenseitig auf die Füße
(Pardon, auf die Flossen) zu treten. Aber vielleicht sind sie so aufgeklärt,
dass sie bereits wissen, was mit all den Fotos passieren wird: Denn
sie werden kaum auf dem Schreibtisch eines nach neuen Talenten suchenden
Filmproduzenten landen. Nein, ihr ruhmloses Schicksal wird die Schublade
sein! Ich kann mir nicht helfen. Es ist plötzlich stärker
als ich. Ich muss schallend auflachen. |
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Von da an - das heißt, nachdem
ich mein Fotografengewissen beruhigt habe - wird die Fahrt für
mich zur reinsten Entspannung. |
Bei der Isla de los Pájaros (Vogelinsel) sind es Kormorane,
die wir aus größter Nähe erleben, und als wir den
Leuchtturm Les Eclaireur erreichen, reißt der Dunstschleier
wie durch ein Wunder auf, das Licht wird sanft, das Meer glitzert,
und einzelne Robben treiben ihre Taucherspielchen direkt vor unserer
Nase, so wie man es normalerweise nur von den Delphinen kennt. Die
meisten Ausflügler sind inzwischen im Inneren verschwunden – es ist schließlich ziemlich genau fünf Uhr nachmittags
– und ich bin fast allein an Deck. Der Wind streichelt sanft mein
Gesicht. In solchen Situationen weiß ich, dass ich lebe. |
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