|
14. März |
Kleiner Spanisch-Unterricht,
lection cuatro: |
Ich bin erstaunt, wie gut
ich inzwischen Spanisch verstehe. Vorausgesetzt allerdings, dass ich
mich nicht von einigen Besonderheiten der argentinischen Aussprache,
die sich vom klassischen Spanisch unterscheiden, verunsichern lasse.
So hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich etwas mit dem Wort ballena (Walfisch) anfangen konnte, denn das doppelte „l“ wird hierzulande
wie das „dg“ im englischen budget ausgesprochen -
man spricht also ballena wie „badgena“ aus.
Noch größere Verwirrung verursacht bei mir das verschluckte
„s“. Dieser Buchstabe wird vor Konsonanten (aber nicht nur
dort) sehr gerne weggelassen, bzw. nur so leicht angedeutet, dass
fast nur noch ein lautloses Anstoßen der Zunge an die Zähne
übrig bleibt. Und noch eine Beobachtung. Beim Geldzählen
wird gerne ein "con“ (mit) zwischen der Peso-Zahl
und den Centavos gestellt. Also zum Beispiel: uno con cinquenta, dos con quarenta usw. |
Erste Begegnung mit dem Nationalpark |
Heute werde ich mir noch kein
Auto mieten. Denn der 6300 ha große Parque Nacional Tierra
del Fuego ist bestens erschlossen. Regelmäßig bringen
Busse die Besucher zu dem 12 Kilometer entfernten Park, der mit seinen
25 Kilometern Wanderwege den Vergleich mit seinen Europäischen
Genossen nicht zu scheuen braucht. Mit einem Kleinbus der Firma Eben
Ezer mache ich mich also einigermaßen zeitig (das heißt,
so gegen 10 Uhr) auf die Fahrt. |
Zielort und Ausgangspunkt für eine Reihe von Wanderwegen ist
der Campingplatz am Lago Roca. Der Touristenbusse-Rummel rund
um das angeschlossene Restaurant, der Andrang im Informationszentrum
und die Schlange am Bratwurst-Kiosk suggerieren allerdings kaum, dass
man am „Ende der Welt“ sei, inmitten einer wilden, naturbelassenen
und menschenleeren Landschaft. |
Nach einem heißen mate cocido [] mache ich mich schleunigst dem Lapataia-Fluss entlang in
Richtung Süden auf den Weg. Kaum bin ich wenige Schritte vom
Campingplatz – welcher zurzeit völlig verwaist ist – entfernt,
schon geschieht ein kleines Wunder: Es ist still. Kein Windhauch ist
zu spüren. Eine schwache Sonne lugt hervor und lässt die
Oberfläche des Rio Lapataia, der an dieser Stelle ziemlich
breit ist, silbern glänzen. Von seinem flachen Ufer fliegen immer
wieder mir zunächst unbekannte Vögel auf. Ihr Gefieder ist
an der Oberseite braun und an der Unterseite zimtbraun mit weißlicher
Fleckung. Ich identifiziere sie als eine kleine Falkenart und ziehe
daraus den Schluss, es seien die im Süden des Kontinents sehr
häufig vorkommenden Chimangos [] (Milvago chimango). |
An einer seichte Stelle des Flusses waten weitere Vögel – aber
um welche Art handelt es sich? –, die penibel den Sicherheitsabstand
zu mir halten. Schließlich bin ich ja bewaffnet – mit einem
Teleobjektiv! |
|
Nachdem ich die Brücke über
den Fluss und eine Station der Gendarmeria National passiert
habe, gelingt es mir immerhin, mit der Kamera an einzelne Magellangänse
(Chloephaga picta) näher heranzu-kommen, die entlang des Paseo de la Isla (Inselwanderweg) häufig zu sehen sind.
Der Lapataia wirkt an dieser Stelle fast wie ein See mit einzelnen
kleinen Inseln und wird Archipel der Kormorane genannt. Tatsächlich
kann ich einige dieser Vögel in der Ferne erspähen. |
Der Weg führt in einem ständigen Auf und Ab durch eine Urlandschaft
unerwarteter Schönheit, in der ich der einzige Besucher bin,
und weil die Sonne immer öfter den Eindruck erweckt, sich durchsetzen
zu wollen, schwebe ich bald auf einer Wolke der Zufriedenheit, wenn
nicht gar der Begeisterung. Ein paar Mal überquere ich die Hauptstraße
und werde prompt – nur damit ich nicht vergesse, das ich eben nicht
fern von allem und allen bin – von vorbeifahrenden Touristenautos
mit einer Staubwolke beglückt. Bei der Laguna Verde (Grünen
Lagune) halte ich mich etwas länger auf – so atemberaubend schön
ist die Aussicht. Leider trübt es sich dann langsam wieder ein,
und als ich bei der Laguna Negra (Schwarzen Lagune) ankomme,
wo ein beeidruckendes Moor in Entstehung zu bewundern ist, fängt
es an zu tröpfeln. |
Bald ist es grau in grau. Wald und Landschaft konturenlos und ohne
Raumtiefe. Zu diesem Wetter passen einzig und allein die gespensterhaft
wirkenden toten Bäume, die hie und da aus modrigen kleinen Tümpeln
herausragen. So wandere ich, nunmehr nicht mehr so beschwingt, über
den Paseo del Mirador zur Baiha Lapataia (Lapataia-Bucht),
wo die Busse abfahren, die mich zurück nach Ushuaia bringen sollen. |
Gegen Abend, während ich gemütlich in einer Bar sitze und
– was sonst? – ein „bife“ esse, wird der Regen stärker. Bald gießt
es in Strömen. Ich kann gerade noch ein Taxi finden, der mich
die in Schlamm verwandelte Straße hinauf zur cabana fährt. |
15.
März |
Zur Estancia Harberton |
Ein kleiner südkoreanischer
Daewo, ein Zwerg von einem Auto, für nur 95 Pesos pro Tag, und
das bei unbegrenzter Kilometerzahl! Es soll mir die Freiheit bringen,
den anderen Touristen ein wenig aus dem Weg zu gehen. Laut Vermieter
ist der Wagen auch für rutas no pavimentadas (unbefestigte
Straßen) tauglich, sofern man con cuidado (mit Vorsicht)
und höchstens 50 Kilometer pro Stunde fährt. |
|
Nach einem Abstecher in die Randbezirke
der Stadt – die Luft ist stechend klar und ich will die Gelegenheit
nutzen, um ein paar Bilder zu schießen – fahre ich die große
Ausfahrtstraße, die Ruta 3, in Richtung Osten. Die ersten
30 Kilometer sind noch geteert, der Himmel noch klar, ich fahre und
fühle mich frei – es ist ein Vergnügen! Nach der Umfahrung
des Monte Olivia, des Wahrzeichens Ushuaias, öffnet
sich die Aussicht auf ein weites Tal, das zu einem beachtlichen Teil
aus einem Hochmoor besteht, aus dem an manchen Stellen Torf gestochen
wird. Im Hintergrund ragen sonnenbeschienene Bergspitzen empor. Ein
atemberaubendes Panorama! Wenige Kilometer weiter verbreitert sich
das Tal noch weiter, jetzt besteht es fast vollständig aus einem
noch ausgedehnteren Moor, das rötlich im Gegenlicht schimmert.
Kurz darauf fahre ich an den Wintersportzentren Tierra Mayor, Cerro Castor und Haruwen vorbei, von denen ich aber
von der Straße aus nur einzelne Berggasthäuser, die Trasse
eines Sessellifts und Schilder, die auf Langlaufstrecken verweisen,
sehen kann. |
Kurz darauf zweige ich in die Erdstraße in Richtung Estancia Harberton ab. Die plötzlich auftretende Bewölkung
gibt den Wäldern einen düsteren Charakter und unterstreicht
die Einsamkeit dieses Landstrichs. Zwischendurch sehe ich immer wieder
kleine Gruppen von abgestorbenen Bäumen, die gespensterhaft aus
einem Tümpel her-ausragen. Sie sind – so habe ich gelesen – auf
die unermüdliche Dammbau-Tätigkeiten von Bibern zurückzuführen.
Durch die Dämme staut sich das Wasser, und das zum führt
Bäumesterben. Die Biber, die in Patagonien nicht heimisch sind,
wurden ihrer Felle wegen 1946 aus Kanada eingeführt. Das Projekt
wurde aber zu einem kompletten Fiasko, weil die Biber, da die Winter
in Feuerland nicht annähernd so streng sind wie in Nordamerika,
weniger dicke und weiche Pelze als ihre kanadischen Vorfahren entwickelten.
Außerdem vermehrten sie sich, weil sie hier keine natürlichen
Feinde haben, wie die Kaninchen. So wurden sie zur Plage. |
Als mich nur noch wenige Kilometer vom Beagle-Kanal trennen, öffnet
sich die Landschaft und verändert fast schlagartig ihren Charakter.
Aus einer bedrohlichen Wildnis, in der düstere Sümpfe und
bizarre Geisterwälder vorherrschen, wird eine sanfte, hügelige,
fast anheimelnde Weite. Zur gleichen Zeit reißt die Wolkendecke
auf und die kräftige Mittagssonne taucht die Hügel in ein
grelles, warmes Licht. Und weil der Wind die Wolken immer wieder vor
die Sonne schiebt und sie kurz darauf erneut wegfegt, sieht es fast
so aus, als wäre ich im Theater, wo die Bühne abwechselnd
von Scheinwerfern hell beleuchtet und abgedunkelt wird. Die Bühne,
das sind gewellte, von gelben Grasbüscheln und sparrigen Bäumen
bedeckte Anhöhen im Vordergrund, fjordartige Meeresbuchten in
der Ferne und weit, weit hinten, als Kulisse, die Zacken der Chilenischen
Cordillera. |
|
Ein roter Reisebus, der exakt auf der Kuppe eines Hügels stehen
geblieben ist, lässt mich vermuten, dass es dort etwas Sehenswürdiges
geben muss – und sei es auch nur eine besondere Aussicht. Die Reisegruppe
besteht in der Hauptsache aus jungen Menschen, die sich, in kleine
Grüppchen aufgeteilt, auf den Hügel begeben haben und dem
Anschein nach ganz merkwürdige Dinge tun. Ausnahmslos trägt
jeder ein Notizheftchen in der Hand, guckt vorwiegend auf den Boden,
hebt Steine auf, schaut in die Ferne. In Gruppen scharen sie sich
um einzelne Personen, von deren Äußerungen ich nur einzelne
Worte aufschnappen kann: subglacial, formacion de los arboles, morphologia, maxima pendencia. Es sei, erfahre ich,
eine „class of geology" der Universität von
Ushuaia. |
Der Zufall will es, dass diese sehr stark dem Wind ausgesetzte Anhöhe
noch etwas anderes bietet als Mineralien und Aussicht auf Moränenlandschaften.
Hier gibt es nämlich einen, wenn nicht sogar den
Hain mit jenen windzersausten, krummen Bäumen, die beinahe als
Symbol der windgepeitschten Tierra del Fuego gelten. Die meist
fotografierten Bäume Südamerikas, vermute ich, und schaue
sie demütig an – Schweigeminute! |
Touristen wären nach zehnminütiger Besichtigung wieder zu
ihrem Bus zurückgepfiffen worden, die Studenten bleiben hingegen
wie festgenagelt hier. Nach einer halben Stunde sind sie immer noch
da. So warte ich nicht nur auf die Sonne, die immer wieder verschwindet,
um für Augenblicke wieder leuchtende Flecken in die Landschaft
zu zaubern, sondern auch auf den Augenblick, an dem ich überall
hinschauen kann, ohne eine menschliche Gestalt erblicken zu müssen. |
Der Mensch ist Besitz ergreifend. Die schönsten Fleckchen Erde
möchte er gerne für sich allein haben, und sei es auch nur
für einen Augenblick der Inspiration. |
Als ich weiterfahre und kurz darauf bei der berühmten Estancia
Harberton ankomme, bin ich trotz des extraklaren Nachmittagslichts
ein wenig enttäuscht. Die Küste ist flach und kahl, die
Bucht schmal und ihre Ufer weisen nur unscheinbare dunkle, steinige
Strände auf. Von keiner Anhöhe aus gibt es berauschende
Ansichten. Außerdem ist gerade ein Ausflugsschiff aus Ushuaia
eingetroffen, dessen Passagiere in alle Richtungen ausschwärmen
und in großer Anzahl die Teestube des Farmhauses überfallen,
in der ich hoffte, in aller Stille einen Kaffee trinken zu können. |
Es verdüstert sich wieder. Nicht weit von der estancia und direkt an einem Strand gelegen, befindet sich ein Gehege, in dem
ein halbes Dutzend Rinder eingepfercht sind. Rund um die Einzäunung
liegen, auf der Erde verstreut und der Verwesung preisgegeben, Knochenreste,
abgeschnittene Hufe und sogar ein abgetrennter Rinderkopf. Meine Aufmerksamkeit
wird von einer Schar Greifvögel mit nacktem, rotem Gesicht geweckt,
die sich hier versammelt haben. Einige von ihnen nagen an den Knochen,
andere sitzen auf den Quersprossen des Zaunes oder auf einem Holzgerüst,
das ein wenig wie ein Galgen aussieht. Vermutlich sind es Caranchos (auch Caracaras genannt), aus der Familie der Geierfalken.
Die Caranchos zu fotografieren - ich versuche es mit einem
Teleobjektiv - gelingt mir nicht, denn sie fliegen erschreckt auf,
sobald ich ihnen zu nahe komme. Ein paar Meter weiter lassen sie sich
dann wieder nieder. Das Spielchen treiben sie immer und immer wieder.
Die Faszination aber, die von der düsteren Stimmung, vom kühlen
Wind, und von der Tatsache ausgeht, dass ich niemals solche Raubvögel
aus großer Nähe in der freie Natur erlebt habe, lässt
mir diese Schwierigkeiten bei meinem Versuch als Naturfotograf schnell
vergessen. |
Ich spüre es schon die ganze Zeit: Irgendetwas fehlt mir. Erst
jetzt fällt es mir wie Schuppen vor den Augen. Es ist der Wind.
Wie kann ich windzersauste Bäume sehen, aber den Wind vermissen
müssen, der ihre Form gestaltet hat? Habe ich nicht gelesen,
dass über Patagonien immer der Wind herrscht? Dass er von Sonnenaufgang
bis Sonnenuntergang weht, an einem Tag wie dem anderen, Sommer wie
Winter, Jahr für Jahr? Dass er sich von den Bergen stürzt,
schaumgekrönte Wellen auf die Seen zeichnet und über die
Steppe fegt und Bäume krumm wachsen lässt? Und gerade jetzt,
hier wo jedes Detail vom Wind erzählt, erlebe ich nur ein so
schwaches, schüchternes Lüftchen? |
Es spukt |
Als ich mich in die cabana zur Nachtruhe begebe, erwarten mich dort, statt der nächtlichen
Stille, schier unheimliche Geräusche. Es ist, als würden
Scharniere quietschen oder Hagelkörner aufs Dach klopfen, als
kratzte ein Geist an die Fenster, oder es schlüge jemand mit
Peitschen gegen die Wände. Es ist unheimlich. Die Geister der
ausgerotteten Ona- oder Alacaluf-Indianer? Einbrecher?
Das Geheimnis ist bald geklärt: Es ist der Wind, der die dünnen
Äste der Buchen, die äußerst dicht am Haus wachsen,
gegen Wände und Fenster schlägt. |
|
|
|
|