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16. März |
Die kurze lange Fahrt |
Das Wetter ist schön,
meine Laune entsprechend, meine Unternehmungslust groß. Ich
habe mir vorgenommen, zum etwa zweihundert Kilometer entfernten Cabo
San Pablo an der Atlantik-Küste zu fahren. |
Ich fahre also die selbe Strecke wie gestern noch einmal, ohne jedoch
nach Harberton abzuzweigen. Über den Garibaldi-Pass
soll es, am Lago Escondido vorbei, nach Tolhuin gehen
und dann weiter in Richtung Rio Grande. Etwa 50 Kilometer von Tolhuin soll mich eine nach Westen führende Erdstraße
schließlich zum Atlantik bringen. |
Leider scheint es der Wettergott heute nicht besonders gut mit mir
zu meinen, denn bereits lange vor dem Pass hüllen schwere graue
Wolken die Berge ein. Bald fängt es an zu regnen und die Fahrbahn
verwandelt sich in kürzerster Zeit in eine rutschige, schlammige
Fläche. Ich muss die bereits moderate Geschwindigkeit weiter
verringern. Straßenarbeiten, die an manchen Stellen Einbahnverkehr
erzwingen und aus der Fahrbahn eine aufgewühlte, steinige und
matschige Piste machen, behindern das Fahren noch zusätzlich.
Als ich die Passhöhe erreiche, kann ich die Konturen des Sees
zwar gerade noch erkennen, die Bergkulisse aber, die vielleicht aus
der Aussicht etwas Atemberaubendes
gemacht hätte, ist so gut wie verschwunden. |
Als mir ein erschöpfter, durchnässter und völlig verschmutzter
Radfahrer entgegen kommt – unglaublich welche Strapazen Reisende auf
sich nehmen können, um ihrem Ego einen Kick zu geben – und mich
fragt, wie lange er sich noch quälen müsse, mache ich ihn
mit der Perspektive auf ein sonnenüberflutetes Ushuaia glücklich.
Seine Wetternachrichten für mich sind hingegen weniger erbauend.
Weiter in Norden soll es weiterhin trostlos sein. |
Ich fahre und fahre und hoffe, dass der Regen bald aufhören möge.
Schließlich tut er es auch, aber der Himmel bleibt im eintönigen
grau. Am See angekommen steht mein Entschluss fest: Bin ich denn verrückt,
dass ich vor der Sonne fliehe und mich dazu auch noch unter diesem
grauen, undurchsichtigen
Himmel stundenlang durchrütteln und -schütteln lasse? |
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Um mein Ego zu befriedigen, begebe ich mich kurz mit geschultertem
Stativ in den Sumpf am Seeufer, um die dürren, gespenstischen
Bäume in ihrer düsteren Stimmung zu fotografieren. Knöcheltief
trete ich dafür ins feuchte Ufermoor – ein erhabenes Gefühl
von fünfminütigem Abenteuer! Dann mache ich kehrt und fliehe
wieder in Richtung Sonne. |
Pause zum Nachdenken |
Nur von
Kerzenlicht beleuchtete Toiletten – so eine Erfahrung musste ich auch
einmal machen! Der Inhaber dieser rustikalen Gaststätte in Haruwen,
direkt an der Straße vom Paso Garibaldi nach Ushuaia,
glaubt mir eine Freude zu machen – und täuscht sich dabei nicht
–, indem er Tangomusik auflegt. Mehr als eine Handvoll Schokoladenkekse
zum cafe con leche kann er mir jetzt in der Nachsaison allerdings
nicht anbieten. |
Aber es ist gerade dieses Fehlen von etwas, das mich in eine gelöste
und wohltuende Gemütsverfas-sung versetzt. Ich bin der einzige
Gast, ein alter Schäferhund döst auf dem Boden, das Interieur
erinnert ein wenig an eine urige Berggaststätte in der Schweiz:
ein rustikal eingerichteter Raum, holzgetäfelte Wände, die
Decke ein flaches, von Querbalken gestütztes hölzernes Satteldach,
alles dezent in nussbraun gestrichen. Es ist beglückend für
mich, hier sitzen zu können, bedächtig am Kaffee zu nippen
und mich von manchen meiner Erwartungen frei zu denken. |
Natur! |
Ich marschiere los. Auf
schlammigen Pfaden dringe ich tief und tiefer in den Wald ein, und
je mehr ich mich von der Gaststätte entferne, desto mehr fühle
ich mich in meinem Element und meinen Zielen näher. Das erregende
Gefühl, endlich eine Kostprobe von ungezähmter Wildnis zu
bekommen, eine verlorene Welt aufzuspüren und in eine geheimnisvolle
Urwelt einzudringen, begleitet jeden meiner Schritte. Wenn die Sonne
manchmal hinter einem Schleier verschwindet, entsteht zudem eine düstere,
fast unheimliche Atmosphäre, die mich für Augenblicke vergessen
lässt, dass ich mich nur wenige Minuten von der „Zivilisation“
(also von der Hauptverkehrsstraße) befinde. |
Bald komme ich zu einer Waldlichtung, dessen Boden von unzähligen
braunroten Pflanzen übersät ist, die so dicht nebeneinander
stehen, dass sie aus der Ferne wie ein rötlicher Teppich aussehen.
Aus diesem ragen gespenstische Baumgerippe empor. Grauweiß und
kerzengerade stehen die abgestorbenen Bäume im feuchten Moor,
ebenso viele liegen vermodernd auf dem Boden. Manchmal sind sie von
hohem Gras überwachsen, manchmal ruhen sie am sandigen Ufer eines
sich durch diese Wildnis schlängelnden Baches. Im Hintergrund
dunkle Wälder und spitze Bergrücken. |
Minutenlang stehe ich stillschweigend und wie gebannt vor dieser unberührten
menschenleeren Wildnis. Dann tauche ich in die Natur ein. Querfeldein
wandere ich inmitten dieser Wildpflanzen, manchmal muss ich über
einen im Gras verborgenen Stamm stolpern, manchmal sinke ich knöcheltief
im Moos ein, verstricke mich in den Gräsern oder balanciere auf
morschen Stämmen. Die Sonne kommt und geht. Nicht selten schaudere
ich bei einem plötzlichen kühlen Windstoß, der meine
Haut durch das verschwitze Hemd streift. |
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Ich stapfe ohne ein Gefühl für die Zeit in dieser Urwelt,
die von Menschen völlig unberührt zu sein scheint, und es
überkommt mich dabei das beglückende Gefühl, eine innige
Berührung mit der Natur zu erleben und mich ganz weit weg zu
fühlen. |
Meine erste Panne |
In die Wirklichkeit werde
ich sehr schnell wieder zurückgeführt. Noch ganz berauscht
von dem Erlebnis kehre ich gedankenverloren zum Auto zurück,
steige ein, drehe den Zündschlüssel. Aber es ist nur ein
leises Klick, das ich höre. Beim zweiten Versuch nicht einmal
mehr das, nicht die Spur eines Geräusches – die Autobatterie
ist leer. Es ist sechs Uhr nachmittags und ich bin noch etwa vierzig
Kilometer von der Stadt entfernt. |
Ich laufe zur Gaststätte, klopfe an die inzwischen geschlossene
Tür – aber es antwortet mir nur Hundegebell. Also laufe ich zur
Straße und warte auf vorbeifahrende Autos. Aber in den nächsten
zehn Minuten fährt kein einziges Vehikel vorbei. Noch einmal
laufe ich zum Haus, klopfe wieder und rufe so laut ich kann. Ein paar
Sekunden lang macht sich eine Vorstufe von Panik bei mir breit. |
Leider ist das Auto so ungünstig in einer Mulde geparkt, dass
ich den Motor nicht mittels Bergabschieben und Rollenlassen des Autos
zum anspringen bringen kann. |
Als mir bereits dünkt, ich würde in dieser Einsamkeit übernachten
müssen, sehe ich endlich einen Mann, der von einem kleinen Holzgebäude
abseits der Gaststätte mir zuwinkt. Es ist der freundliche Wirt
von vorhin! Und weil solche Verdrießlichkeiten hier anscheinend
des öfteren geschehen, ist gleich eine riesige, schwere Batterie
und ein Startkabel angeschleppt - und schon brummt es wieder unter
der Motorhaube des kleinen Koreaners. |
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