Argentinien 2004
Reisebericht Argentinien - Patagonien    
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ARGENTINIEN 2004
Buenos Aires
Tango in San Telmo
Puerto Madryn
Pinguine in Punta Tombo
Halbinsel Valdes
Ushuaia
Zur Seelöweninsel
Nationalpark Feuerland I
Estancia Harberton
Garibaldi-Pass
Zug am Ende der Welt
Nationalpark Feuerland II
Beagle-Kanal Titanic
El Calafate
Perito-Moreno-Gletscher
Ruta 40
Nach Bariloche
Auf den Cerro Otto
Nahuel-Huapi-See
Nationalpark Lanin
Das verzaubert Tal
Lago Mascardi
Abschied von Bariloche
Buenos Aires
Im Paranà-Delta
 
 ARGENTINIEN 2008
 ARGENTINIEN 2011
 ARGENTINIEN / CHILE 2014
 
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Faszinierendes Patagonien
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  Buenos Aires    
 
23. März
Ein ganz ruhiger Tag
Wieder vergeht ein Tag ohne Welt bewegende Vorkommnisse. Pause machen, viel mit Tante Helga sprechen, im Staub der vielen calles mit europäischen Namen spazieren gehen und mich über die manchmal recht skurrile Bauart mancher Häuser wundern. Teils findet man bei ihnen Anklänge an Schweizer Berghütten, teils könnte man meinen, kanadische Blockhütten vor sich zu haben. Oft ist es ein gewagter Balanceakt im Vorfeld des Kitsches. Jedenfalls kann man aus solcher Architektur viel Nostalgie nach einer ganz und gar nicht südamerikanischen Welt entnehmen.
Und bei fast jedem Haus, an dem ich vorbeigehe, werde ich von Hunden angebellt. Kläffende Hund Tag und Nacht und vor jeder Tür. Als ich Tante frage, ob hier bisweilen Einbrüche vorkämen, be­jaht sie es. Es seien aber selten Profis am Werk und man täte gut daran, an einzelnen Stellen im Haus immer etwas Geld herum liegen zu lassen. Damit würden sich die Kerle meistens begnügen.
Zum Mittagessen sind wir vom befreundeten Ehepaar Moosbrugger in ein betont rustikal ein­ge­rich­tetes Restaurant am Rande der Innenstadt eingeladen.
Argentinien ist, ich bräuchte es nicht zu betonen, kein Land für Vegetarier. Argentinier essen Fleisch in allen Variationen aber am liebsten in möglichst naturnahem Zustand für ihr Leben gern. Es schmeckt tatsächlich hervorragend. Was wird uns also empfohlen? Bife de vacio (Hüftsteak) soll hier besonders gut sein.
Herr Moosbrugger ist Kulturingenieur. Für die Ausübung dieses Berufs lebte er lange Jahre mit sei­ner Familie in Persien, Afghanistan, in arabischen Staaten und in Bolivien. Schließlich kam er nach Patagonien, wo er sich jahrelang mit Desertifikationsbekämpfung (Verhinderung und Kontrolle der Ausbrei-tung der Wüste in) befasste. Stichwörter: geringere Beweidung, nachhaltige Schaf- und Tierhaltung, Einführung von Mischwirtschaft, Bewässerung, Schutztechniken für die gefährdeten Böden, Wiederaufforstung, alternative oder komplementäre Formen der Agrarproduktion, Um­sat­teln auf Farmtourismus.
Darauf angesprochen, ob er nicht irgendwann in seine Heimat Österreich zurückkehren möchte, schmunzelt Herr Moosbrugger und gibt als Antwort nur ein paar Betrachtungen über Wetter und Jahreszeiten zum Besten. Letztere seien hier viel ausgeprägter als in Mitteleuropa und es fehle vor allem dieses Trostlose Grau, das in der alten Heimat von November bis März herrscht. Darauf könne er gern verzichten.
Patagonien ist eine Fundgrube für Lebensgeschichten. Von überall kamen sie her: die schrägen Typen, die Überlebenskünstler, die kauzigen Alten und Frauen, die gestrandeten Existenzen, die Aussteiger. Herr Moosbrugger erzählt von einem Vietnam-Veteranen, der sich jahrelang und mehr schlecht als recht als Karate-Lehrer durchschlug, bis er erfuhr, dass er von einem amerikanischen Onkel Millionen geerbt hatte. Er blieb trotzdem und änderte überhaupt nichts an seinen Lebensgewohnheiten.
Tante Helga erzählt hingegen von Hermann Wolf, einer schillernden Persönlichkeit aus ihrem frü­heren Freundeskreis, einem absoluten Unikum. Im Krieg war er U-Boot-Maat, und es gelang ihm, gegen Kriegsende seine Braut aufs U-Boot mitzunehmen, um mit ihr aus Ostpreußen in Richtung Westen vor den Russen zu fliehen. Später ging er in Genua als blinder Passagier an Bord eines Schiffes, das nach Argentinien fuhr. Obwohl er schon auf der Überfahrt nach Spanien entdeckt wurde, konnte er dank seines einnehmenden Wesens und seiner handwerklichen Geschicklichkeit – solche Männer kann man an Bord immer brauchen – den Kapitän überzeugen, ihn doch mitzu­neh­men. Das Schiff nahm ihn also mit bis nach Feuerland. Dort wurde er zwar in das be­rühm­te Ge­fäng­nis eingesperrt aber recht schnell wieder freigelassen. Das einzige, was er aus Europa mit­ge­nom­men hatte, war sein Fotoapparat, mit dem er bald eifrig und überall fotografierte. Später schlug er sich vom Süden bis Bariloche durch, wo er schließlich seinem Fotohandwerk nachging und jahrelang mit dem Fotografieren von Touristen sein Lebensunterhalt verdiente.

Eine seiner originellsten "Geschäftsideen“ war die, ein Leintuch vor dem Hintergrund des impo­san­ten Gipfels des Cerro Tronador auszulegen, den Touristen Skier anzuschnallen und sie damit zu fotografieren. So konnte er seine Kunden in jeder Jahreszeit als Wintersportkanonen ablichten. Als Onkel Willy ihn zum ersten Mal sah, wunderte er sich nicht wenig und rief laut auf: "Schau dir den Schnee-Tandler an". Aus diesem ersten Kontakt wurde dann eine lebenslange Freundschaft.

Mit dem Kabinenlift auf den Cerro Otto
Nach dem Essen bringt mich Herr Moosbrugger mit dem Auto zur Talstation der Gondelbahn, die auf Bariloches beliebten Aussichtsberg, den Cerro Otto fährt.
Ich wollte den Wind? Jetzt kann ich ihn endlich haben! Die Kabine schaukelt, es heult und pfeift wie bei einem Sturm. Beim Fotografieren auf der Aussichtsplattform kann ich die Kamera kaum fest halten. Eine beeindruckende Aussicht auf den von Bergen eingerahmten Lago Nahuel Huapi. Von der Rückseite des Cerro Otto erblickt man im Tal den Lago Gutierrez, und einen Teil des Cerro Catedral. Lichtspiel der Wolken. Ich kann mich kaum satt sehen. Und ich kann mich deshalb kaum zum Rückweg entscheiden, den ich per Fuß bewältigen will.
Mir tut es gut, mal wieder in der Natur zu laufen. Es wird ein gemütlicher, langer Spaziergang hi­nun­ter. Auch deshalb lang, weil ich jeden zweiten Schritt anhalte, um durch die Kamera zu blicken. Es könnte mir ja ein tolles Bild entgehen. Die romantisch gewundene Strasse führt streckenweise einem wunderschönen Laubwald entlang und mundet, weil ich eine Abkürzung wähle, schließlich in einem Bambushain, in dem ich auf sandigem, steilen Gelände nach unten gehe. Die Verzweigung der Pfade ist so groß, dass ich befürchte, an der falschen Stelle wieder herauszukommen. Tatsächlich aber lande ich – es gleicht fast einem Wunder – direkt vor Tante Helgas Wohnviertel, keine hundert Meter von der Calle Austria entfernt.
24. März
Die Langsamkeit des Morgens im Café
Während ich auf den Bus warte, der mich zum Ausgangspunkt des organisierten Bootsausflugs auf dem Nahuel-Huapí-See bringen soll, trinke ich noch schnell einen cafe con leche im riesigen Salon des Café del Turista. Der Betrieb hat gerade erst begonnen, der Raum ist noch halb leer. Lang­sa­me südamerikanische Musik klingt diskret aus unauffälligen Lautsprechern.
Eine junge Kellnerin mit feinen Gesichtszügen – indianische Einflüsse sind kaum zu übersehen – geht langsam von Tisch zu Tisch, streift die Decken glatt und fegt die Bröseln mit dem Handrücken weg. Sie trägt einen schwarzen Rock und ein weißes Hemd mit Rüschenkragen. Die Farbe ihres Boleros, ihrer Schürze und des Bandes in ihrem pechschwarzen Haar ist ein kräftiges Grün. Ihr Ge­sichtsausdruck ist ein wenig traurig. Wie ein Automat wandelt sie durch dem Raum und seufzt ab und zu gedankenverloren vor sich hin.
Nach einer Weile nimmt eine weitere Kellnerin die Arbeit auf. Küsschenwechsel mit den Kolle­gin­nen. Groß, nicht gerade zierlich und auch nicht besonders hübsch, strahlt sie vom ersten Augen­blick an gute Laune aus. Im Gegensatz zur anmutigeren aber zurückhaltenden Kollegin begrüßt sie jeden Gast mit einem kräftigen buen dia. Es ist ansteckend. Sofort breitet sich die gute Laune aus.
Ich liebe die Atmosphäre einer langsam erwachenden Stadt. Ebenso das Beobachten der kleinen Gemeinschaft solch eines Betriebes. Die Blicke, die die Angestellten untereinander wechseln, die fast zum Ritus gewordenen Handlungen hinter der Theke oder an den Tischen, das Klappern des Geschirres, die routinemäßigen und doch jedes Mal unterschiedlichen Interaktionen mit den Gästen.
Nahuel Huapì
Punkt neun Uhr fünfzehn fährt der Bus ab. 24 Kilometer ist der kleine Yachthafen Puerto Pañuelo von Bariloche entfernt. Direkt daneben, auf einer kleinen Anhöhe, thront das berühmte Luxushotel Llao Llao, das zweifelsohne zu den am schönsten gelegenen Hotels der Welt gehört. Die großartige Kulisse des Nationalparks rahmt es ein. Berge wie in der Schweiz, Seen wie in Bayern.
Argentiniens Nahuel-Huapí-Nationalpark ist die Wirklichkeit gewordene Sehnsucht europäischer Auswanderer nach der Heimat, nur viel ursprünglicher als das Original.
Der Lago Nahuel Huapí, der dem Nationalpark den Namen gegeben hat, ist 100 Kilometer lang und seine 557 Quadratkilometer Fläche verteilen sich auf viele Arme, die wie Fjorde in die Bergtäler hineinragen. Seine tiefste Stelle ist 465 m, seine Höchsttemperatur 12 Grad im Sommer und durchschnittlich 6-7 Grad im Winter. Der Name ist eine Bezeichnung der Mapuche-Indianer und bedeutet „Schlafender Puma“.
Unser Schiff, die Modesta Victoria, wurde vor über siebzig Jahren in Holland gebaut, dort in Teile zerlegt, auf einem Überseedampfer nach Buenos Aires transportiert und schließlich per Eisenbahn weiter nach Bariloche befördert, wo es wieder zusammengebaut und vom Stapel gelassen wurde. Seitdem fährt das mit Bar und Restaurant ausgestattete Motorschiff das ganze Jahr über den See. Es strahlt einen altmodischen Charme aus, den ich den modernen, futuristisch und angeberisch aussehenden Katamaranen bei weitem vorziehe. Keine Assekuranzgesellschaft ist mehr bereit, das Schiff zu versichern &ndsh; gut, dass es die meisten Touristen nicht wissen.
Vom Ausflugsboot aus kann man kaum unterscheiden, ob sich die bewaldete Küste, die Berge im Hintergrund und die Verzweigungen des Sees in Südamerika oder in den heimatlichen Alpen befinden. Sieht man einmal von den Dimensionen ab, erinnert es mich tatsächlich ein wenig an das österreichische Salzkammergut. Man muss schon näher an die Küste heran, um die kahlen Bäume und die fremdartige Vegetation sowie weitere Unterschiede erkennen zu können.
Es sind mehr die kleinen, weniger auffallenden Dinge, die meine Gemütslage positiv beeinflussen. Da sind zum Beispiel die Möwen, die ständig unsere Modesta Victoria begleiten. Während mir der Wind kräftig ins Gesicht bläst, bemühe ich mich, sie mit meinem Teleobjektiv zu verfolgen, und ich fühle mich dabei, als ob ich auf der Jagd wäre, und jedes Mal, wenn ich glaube, eines der Vögel scharf erwischt und „geschossen“ zu haben, habe ich für einen Augenblick den Eindruck, wirklich da zu sein.
Oder ich beobachte den Bordfotografen, einen bärtigen, glatzköpfigen Mann, den ich mir gut als alten Seebären auf einem Walfangschiff vorstellen könnte. Er plappert seine Fotografier-Rat­schlä­ge ins Mikrophon, nur um dann zum Abschluss seines Vortrags auf die Gäste einzureden, dass sie sich von ihm vor dem Walt-Disney-Haus im Arrayanes-Wald ablichten lassen – mit einer Panorama-Kamera und für nur 30 Pesos. Am Abend würden die Bilder dann bereits fertig sein. Der Mann tut mir ein wenig Leid. Heute, im Zeitalter der Digitalkameras, sind die meisten Touristen fotografisch überversorgt. Es werden sich wohl wenige Gäste finden, die seinen Empfehlungen folgen werden.
Einen weiteren, sehr anregenden Moment erlebe ich auf der Halbinsel Quetrihué, wo sich der Bos­que de Arrayanes, der größte Myrthenwald der Welt, befindet. Ein kleines, mitten im Wald ste­hen­des Blockhaus und die in diesem Gebiet lebenden Hirsche sollen Walt Disney als Inspiration für seinen berühmten Zeichentrickfilm „Bambi“ gedient haben. Als ich in diesem Wald – ver­bo­te­ner­weise – einmal vom Touristenpfad abweiche und für einige Minuten ganz allein auf Du und Du mit dem fantastischen Urwald von merkwürdig rot gefärbten Bäumen stehe, ist es um mich geschehen: Es ist, als wäre ich bei den Ursprüngen der Welt angekommen.
Einen weiteren dieser Glück bringenden Augenblicke erlebe ich auf der Isla Victoria, die schmal und langgestreckte Insel mitten im Nahuel-Huapi-See, auf der wir uns einige Stunden aufhalten dürfen. Nach dem unser Boot angelegt hat, lasse ich erst einige Minuten verstreichen und mar­schiere dann gezielt in die zur Touristenschar entgegengesetzte Richtung. Dabei entdecke ich ein altes, unbewohn-tes Haus, stapfe auf verwildertem Pfad in Richtung Puerto Gross und finde schließ­lich eine Stelle am Seeufer, die eine zauberhafte Dornröschen-Atmosphäre aufweist. Ich bin allein mit dem See, der Sonne und der ursprünglichen Vegetation. Heckenrosen mit unzähligen rotorange leuchtenden Hagebutten und riesige Brombeersträucher mit einer Fülle von reifen Beeren, wie man sie in Mitteleuropa selten findet und auf die ich mich mit Gier stürze. Bald sind meine Fingerspitzen und meine Lippen ganz rot gefärbt.
Solche ungestörte Momente der Entspannung in der Natur geben mir weit mehr als „Sight-seeing“. Und dass auch eine Gruppe Taiwan-Chinesen den heimlichen lugar (Platz) entdecken, ist mehr amüsant als störend. Mit noch mehr Eifer als ich machen sie sich an die Brombeeren, füllen ganze Tüten damit und quasseln laut und mit greller Stimme in einem Ton, der in meinen Ohren wie eine Kreuzung aus Gesang und dem Gequake von Donald Duck klingt. Aber das mag an der krei­schen­den Stimme des jungen Mannes liegen, eines Chinesen, wie er im Buch steht, mit einem riesigen Gebiss, der zu einem Dauerlächeln erstarrt zu sein scheint. Ein Barilochenser übrigens, der seine Eltern aus der fernen Heimat zu Besuch hat.
Als auch ich mich schließlich gegen Ende unseres Aufenthalts auf der Insel mit der aerosilla (dem Ses-sellift) die 120 Meter bergauf befördern lasse, ist der Strom der Touristen bereits abgeebbt. Fast allein kann ich von der erhöhten Stelle die beeindruckende Aussicht auf den See genießen.
Leider sind die für jedermann frei begehbaren Wege sehr bald erschöpft, denn sie münden immer in eine area restringida (geschützte Zone), hinter der sich wohl ein Paradies für Naturalisten be­fin­den muss: einsame Strände, Wild, dichte, ursprüngliche Wälder. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, einmal hierher zurückzukommen - und länger zu bleiben.
Blick vom Cerro Otto Blick vom Cerro Otto Auf dem Cerro Otto Hotel Llao Llao Auf dem Nahuel-Huapi-See Im Myrthenwald Schiff Modesta Victoria Auf der Isla Victoria Auf der Isla Victoria Hagebuttenstrauch Hagebutten Isla Victoria