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23. März |
Ein ganz ruhiger Tag |
Wieder vergeht ein Tag ohne Welt bewegende Vorkommnisse. Pause
machen, viel mit Tante Helga sprechen, im Staub der vielen calles mit europäischen Namen spazieren gehen und mich über die
manchmal recht skurrile Bauart mancher Häuser wundern. Teils
findet man bei ihnen Anklänge an Schweizer Berghütten,
teils könnte man meinen, kanadische Blockhütten vor sich
zu haben. Oft ist es ein gewagter Balanceakt im Vorfeld des Kitsches.
Jedenfalls kann man aus solcher Architektur viel Nostalgie nach
einer ganz und gar nicht südamerikanischen Welt entnehmen. |
Und bei fast jedem Haus, an dem ich vorbeigehe, werde ich von Hunden
angebellt. Kläffende Hund Tag und Nacht und vor jeder Tür.
Als ich Tante frage, ob hier bisweilen Einbrüche vorkämen,
bejaht sie es. Es seien aber selten Profis am Werk und man täte
gut daran, an einzelnen Stellen im Haus immer etwas Geld herum liegen
zu lassen. Damit würden sich die Kerle meistens begnügen. |
Zum Mittagessen sind wir vom befreundeten Ehepaar Moosbrugger in
ein betont rustikal eingerichtetes Restaurant am Rande der Innenstadt
eingeladen. |
Argentinien ist, ich bräuchte es nicht zu betonen, kein Land
für Vegetarier. Argentinier essen Fleisch in allen Variationen
aber am liebsten in möglichst naturnahem Zustand für ihr
Leben gern. Es schmeckt tatsächlich hervorragend. Was wird
uns also empfohlen? Bife de vacio (Hüftsteak) soll hier
besonders gut sein. |
Herr Moosbrugger ist Kulturingenieur. Für die Ausübung
dieses Berufs lebte er lange Jahre mit seiner Familie in Persien,
Afghanistan, in arabischen Staaten und in Bolivien. Schließlich
kam er nach Patagonien, wo er sich jahrelang mit Desertifikationsbekämpfung
(Verhinderung und Kontrolle der Ausbrei-tung der Wüste in)
befasste. Stichwörter: geringere Beweidung, nachhaltige Schaf-
und Tierhaltung, Einführung von Mischwirtschaft, Bewässerung,
Schutztechniken für die gefährdeten Böden, Wiederaufforstung,
alternative oder komplementäre Formen der Agrarproduktion,
Umsatteln auf Farmtourismus. |
Darauf angesprochen, ob er nicht irgendwann in seine Heimat Österreich
zurückkehren möchte, schmunzelt Herr Moosbrugger und gibt
als Antwort nur ein paar Betrachtungen über Wetter und Jahreszeiten
zum Besten. Letztere seien hier viel ausgeprägter als in Mitteleuropa
und es fehle vor allem dieses Trostlose Grau, das in der alten Heimat
von November bis März herrscht. Darauf könne er gern verzichten. |
Patagonien ist eine Fundgrube für Lebensgeschichten. Von überall
kamen sie her: die schrägen Typen, die Überlebenskünstler,
die kauzigen Alten und Frauen, die gestrandeten Existenzen, die
Aussteiger. Herr Moosbrugger erzählt von einem Vietnam-Veteranen,
der sich jahrelang und mehr schlecht als recht als Karate-Lehrer
durchschlug, bis er erfuhr, dass er von einem amerikanischen Onkel
Millionen geerbt hatte. Er blieb trotzdem und änderte überhaupt
nichts an seinen Lebensgewohnheiten. |
Tante Helga erzählt hingegen von Hermann Wolf, einer schillernden
Persönlichkeit aus ihrem früheren Freundeskreis, einem
absoluten Unikum. Im Krieg war er U-Boot-Maat, und es gelang ihm,
gegen Kriegsende seine Braut aufs U-Boot mitzunehmen, um mit ihr
aus Ostpreußen in Richtung Westen vor den Russen zu fliehen.
Später ging er in Genua als blinder Passagier an Bord eines
Schiffes, das nach Argentinien fuhr. Obwohl er schon auf der Überfahrt
nach Spanien entdeckt wurde, konnte er dank seines einnehmenden
Wesens und seiner handwerklichen Geschicklichkeit – solche Männer
kann man an Bord immer brauchen – den Kapitän überzeugen,
ihn doch mitzunehmen. Das Schiff nahm ihn also mit bis nach Feuerland.
Dort wurde er zwar in das berühmte Gefängnis eingesperrt
aber recht schnell wieder freigelassen. Das einzige, was er aus
Europa mitgenommen hatte, war sein Fotoapparat, mit dem er bald
eifrig und überall fotografierte. Später schlug er sich
vom Süden bis Bariloche durch, wo er schließlich seinem
Fotohandwerk nachging und jahrelang mit dem Fotografieren von Touristen
sein Lebensunterhalt verdiente. |
Eine seiner originellsten "Geschäftsideen“ war die,
ein Leintuch vor dem Hintergrund des imposanten Gipfels des Cerro
Tronador auszulegen, den Touristen Skier anzuschnallen und sie damit zu fotografieren.
So konnte er seine Kunden in jeder Jahreszeit als Wintersportkanonen
ablichten. Als Onkel Willy ihn zum ersten Mal sah, wunderte er sich
nicht wenig und rief laut auf: "Schau dir den Schnee-Tandler
an". Aus diesem ersten Kontakt wurde dann eine lebenslange
Freundschaft. |
Mit
dem Kabinenlift auf den Cerro Otto |
Nach dem Essen bringt mich
Herr Moosbrugger mit dem Auto zur Talstation der Gondelbahn, die auf
Bariloches beliebten Aussichtsberg, den Cerro Otto fährt. |
Ich wollte den Wind? Jetzt kann ich ihn endlich haben! Die Kabine
schaukelt, es heult und pfeift wie bei einem Sturm. Beim Fotografieren
auf der Aussichtsplattform kann ich die Kamera kaum fest halten. Eine
beeindruckende Aussicht auf den von Bergen eingerahmten Lago Nahuel
Huapi. Von der Rückseite des Cerro Otto erblickt man
im Tal den Lago Gutierrez, und einen Teil des Cerro Catedral.
Lichtspiel der Wolken. Ich kann mich kaum satt sehen. Und ich kann
mich deshalb kaum zum Rückweg entscheiden, den ich per Fuß
bewältigen will. |
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Mir tut es gut, mal wieder in der Natur
zu laufen. Es wird ein gemütlicher, langer Spaziergang hinunter.
Auch deshalb lang, weil ich jeden zweiten Schritt anhalte, um durch
die Kamera zu blicken. Es könnte mir ja ein tolles Bild entgehen.
Die romantisch gewundene Strasse führt streckenweise einem wunderschönen
Laubwald entlang und mundet, weil ich eine Abkürzung wähle,
schließlich in einem Bambushain, in dem ich auf sandigem, steilen
Gelände nach unten gehe. Die Verzweigung der Pfade ist so groß,
dass ich befürchte, an der falschen Stelle wieder herauszukommen.
Tatsächlich aber lande ich – es gleicht fast einem Wunder – direkt
vor Tante Helgas Wohnviertel, keine hundert Meter von der Calle
Austria entfernt. |
24. März |
Die Langsamkeit des Morgens
im Café |
Während ich auf den
Bus warte, der mich zum Ausgangspunkt des organisierten Bootsausflugs
auf dem Nahuel-Huapí-See bringen soll, trinke ich noch
schnell einen cafe con leche im riesigen Salon des Café
del Turista. Der Betrieb hat gerade erst begonnen, der Raum ist
noch halb leer. Langsame südamerikanische Musik klingt diskret
aus unauffälligen Lautsprechern. |
Eine junge Kellnerin mit feinen Gesichtszügen – indianische Einflüsse
sind kaum zu übersehen – geht langsam von Tisch zu Tisch, streift
die Decken glatt und fegt die Bröseln mit dem Handrücken
weg. Sie trägt einen schwarzen Rock und ein weißes Hemd
mit Rüschenkragen. Die Farbe ihres Boleros, ihrer Schürze
und des Bandes in ihrem pechschwarzen Haar ist ein kräftiges
Grün. Ihr Gesichtsausdruck ist ein wenig traurig. Wie ein Automat
wandelt sie durch dem Raum und seufzt ab und zu gedankenverloren vor
sich hin. |
Nach einer Weile nimmt eine weitere Kellnerin die Arbeit auf. Küsschenwechsel
mit den Kolleginnen. Groß, nicht gerade zierlich und auch nicht
besonders hübsch, strahlt sie vom ersten Augenblick an gute Laune
aus. Im Gegensatz zur anmutigeren aber zurückhaltenden Kollegin
begrüßt sie jeden Gast mit einem kräftigen buen dia.
Es ist ansteckend. Sofort breitet sich die gute Laune aus. |
Ich liebe die Atmosphäre einer langsam erwachenden Stadt. Ebenso
das Beobachten der kleinen Gemeinschaft solch eines Betriebes. Die
Blicke, die die Angestellten untereinander wechseln, die fast zum
Ritus gewordenen Handlungen hinter der Theke oder an den Tischen,
das Klappern des Geschirres, die routinemäßigen und doch
jedes Mal unterschiedlichen Interaktionen mit den Gästen. |
Nahuel
Huapì |
Punkt neun Uhr fünfzehn
fährt der Bus ab. 24 Kilometer ist der kleine Yachthafen Puerto
Pañuelo von Bariloche entfernt. Direkt daneben,
auf einer kleinen Anhöhe, thront das berühmte Luxushotel Llao Llao, das zweifelsohne zu den am schönsten gelegenen
Hotels der Welt gehört. Die großartige Kulisse des Nationalparks
rahmt es ein. Berge wie in der Schweiz, Seen wie in Bayern. |
Argentiniens Nahuel-Huapí-Nationalpark ist die Wirklichkeit gewordene
Sehnsucht europäischer Auswanderer nach der Heimat, nur viel
ursprünglicher als das Original. |
Der Lago Nahuel Huapí, der dem Nationalpark den Namen
gegeben hat, ist 100 Kilometer lang und seine 557 Quadratkilometer
Fläche verteilen sich auf viele Arme, die wie Fjorde in die Bergtäler
hineinragen. Seine tiefste Stelle ist 465 m, seine Höchsttemperatur
12 Grad im Sommer und durchschnittlich 6-7 Grad im Winter. Der Name
ist eine Bezeichnung der Mapuche-Indianer und bedeutet „Schlafender Puma“. |
Unser Schiff, die Modesta Victoria, wurde vor über siebzig
Jahren in Holland gebaut, dort in Teile zerlegt, auf einem Überseedampfer
nach Buenos Aires transportiert und schließlich per Eisenbahn
weiter nach Bariloche befördert, wo es wieder zusammengebaut
und vom Stapel gelassen wurde. Seitdem fährt das mit Bar und
Restaurant ausgestattete Motorschiff das ganze Jahr über den
See. Es strahlt einen altmodischen Charme aus, den ich den modernen,
futuristisch und angeberisch aussehenden Katamaranen bei weitem vorziehe.
Keine Assekuranzgesellschaft ist mehr bereit, das Schiff zu versichern
&ndsh; gut, dass es die meisten Touristen nicht wissen. |
Vom Ausflugsboot aus kann man kaum unterscheiden, ob sich die bewaldete
Küste, die Berge im Hintergrund und die Verzweigungen des Sees
in Südamerika oder in den heimatlichen Alpen befinden. Sieht
man einmal von den Dimensionen ab, erinnert es mich tatsächlich
ein wenig an das österreichische Salzkammergut. Man muss schon
näher an die Küste heran, um die kahlen Bäume und die
fremdartige Vegetation sowie weitere Unterschiede erkennen zu können. |
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Es sind mehr die kleinen, weniger auffallenden
Dinge, die meine Gemütslage positiv beeinflussen. Da sind zum
Beispiel die Möwen, die ständig unsere Modesta Victoria begleiten. Während mir der Wind kräftig ins Gesicht bläst,
bemühe ich mich, sie mit meinem Teleobjektiv zu verfolgen, und
ich fühle mich dabei, als ob ich auf der Jagd wäre, und
jedes Mal, wenn ich glaube, eines der Vögel scharf erwischt und
„geschossen“ zu haben, habe ich für einen Augenblick
den Eindruck, wirklich da zu sein. |
Oder ich beobachte den Bordfotografen, einen bärtigen, glatzköpfigen
Mann, den ich mir gut als alten Seebären auf einem Walfangschiff
vorstellen könnte. Er plappert seine Fotografier-Ratschläge
ins Mikrophon, nur um dann zum Abschluss seines Vortrags auf die Gäste
einzureden, dass sie sich von ihm vor dem Walt-Disney-Haus im Arrayanes-Wald
ablichten lassen – mit einer Panorama-Kamera und für nur 30 Pesos.
Am Abend würden die Bilder dann bereits fertig sein. Der Mann
tut mir ein wenig Leid. Heute, im Zeitalter der Digitalkameras, sind
die meisten Touristen fotografisch überversorgt. Es werden sich
wohl wenige Gäste finden, die seinen Empfehlungen folgen werden. |
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Einen weiteren, sehr anregenden Moment erlebe ich auf der Halbinsel Quetrihué, wo sich der Bosque de Arrayanes, der
größte Myrthenwald der Welt, befindet. Ein kleines, mitten
im Wald stehendes Blockhaus und die in diesem Gebiet lebenden Hirsche
sollen Walt Disney als Inspiration für seinen berühmten
Zeichentrickfilm „Bambi“ gedient haben. Als ich in diesem
Wald – verbotenerweise – einmal vom Touristenpfad abweiche und für
einige Minuten ganz allein auf Du und Du mit dem fantastischen Urwald
von merkwürdig rot gefärbten Bäumen stehe, ist es um
mich geschehen: Es ist, als wäre ich bei den Ursprüngen
der Welt angekommen. |
Einen weiteren dieser Glück bringenden Augenblicke erlebe ich
auf der Isla Victoria, die schmal und langgestreckte Insel
mitten im Nahuel-Huapi-See, auf der wir uns einige Stunden
aufhalten dürfen. Nach dem unser Boot angelegt hat, lasse ich
erst einige Minuten verstreichen und marschiere dann gezielt in die
zur Touristenschar entgegengesetzte Richtung. Dabei entdecke ich ein
altes, unbewohn-tes Haus, stapfe auf verwildertem Pfad in Richtung Puerto Gross und finde schließlich eine Stelle am Seeufer,
die eine zauberhafte Dornröschen-Atmosphäre aufweist. Ich
bin allein mit dem See, der Sonne und der ursprünglichen Vegetation.
Heckenrosen mit unzähligen rotorange leuchtenden Hagebutten und
riesige Brombeersträucher mit einer Fülle von reifen Beeren,
wie man sie in Mitteleuropa selten findet und auf die ich mich mit
Gier stürze. Bald sind meine Fingerspitzen und meine Lippen ganz
rot gefärbt. |
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Solche ungestörte Momente der Entspannung in der Natur geben
mir weit mehr als „Sight-seeing“. Und dass auch
eine Gruppe Taiwan-Chinesen den heimlichen lugar (Platz) entdecken,
ist mehr amüsant als störend. Mit noch mehr Eifer als ich
machen sie sich an die Brombeeren, füllen ganze Tüten damit
und quasseln laut und mit greller Stimme in einem Ton, der in meinen
Ohren wie eine Kreuzung aus Gesang und dem Gequake von Donald Duck
klingt. Aber das mag an der kreischenden Stimme des jungen Mannes
liegen, eines Chinesen, wie er im Buch steht, mit einem riesigen Gebiss,
der zu einem Dauerlächeln erstarrt zu sein scheint. Ein Barilochenser
übrigens, der seine Eltern aus der fernen Heimat zu Besuch hat. |
Als auch ich mich schließlich gegen Ende unseres Aufenthalts
auf der Insel mit der aerosilla (dem Ses-sellift) die 120 Meter
bergauf befördern lasse, ist der Strom der Touristen bereits
abgeebbt. Fast allein kann ich von der erhöhten Stelle die beeindruckende
Aussicht auf den See genießen. |
Leider sind die für jedermann frei begehbaren Wege sehr bald
erschöpft, denn sie münden immer in eine area restringida (geschützte Zone), hinter der sich wohl ein Paradies für
Naturalisten befinden muss: einsame Strände, Wild, dichte, ursprüngliche
Wälder. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, einmal hierher zurückzukommen
- und länger zu bleiben. |
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