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17. März |
Der Zug am Ende der Welt |
Ich schaue aus dem Fenster,
sehe die Sonne, wie sie mir durch die Bäume zuzwinkert und denke
in meiner unheilbaren Naivität, dass dies die Ankündigung
eines wunderbaren Tagesverlaufs sei. |
Eine halbe Stunde später – o Wunder, ich sehe noch immer keine
Wolke am Himmel - steige ich ins Auto, lasse mich wie üblich
auf der Erdstraße kräftig von den vielen Schlaglöchern
durchschütteln und bin guten Mutes. |
Nur kommt mir heute das Rütteln etwas kräftiger vor als
sonst. Nach einer Weile steige ich aus, sehe mir die Reifen an, und
schon bekommt der makellose Tag seine erste Schramme - ich habe nämlich
einen Platten. |
Gleich kommt mir ein hilfsbereiter, fein aussehender Herr aus Javiers
Nachbarschaft zur Hilfe. Das heißt: Ich mache die Arbeit und
er schaut zu, bzw. dreht ein wenig den Hebel des Wagenhebers und lächelt
dabei recht freundlich. |
Im Rekordtempo von fünf Minuten habe ich es geschafft. Ich bin
ganz stolz darauf. In Windeseile bin ich also beim Autovermieter,
um ihm mein Leid zu klagen, und während er das Auto überholen
lässt, nutze ich die Gelegenheit, um einen Sprung zum Büro
der Aerolineas Argentinas zu machen und den morgigen Weiterflug
bestätigen zu lassen. Und schon bin ich wieder unterwegs. |
Blaue Hügel mit rotbraunen Wäldern schieben sich zwischen
Gletschern und Meer. Zivilisation bleibt Ausnahme. Nur der südlichste
Golfplatz der Welt, an dem ich nach etwa einer halben Stunde vorbeifahre,
drängt sich mir auf und will nicht so recht ins Bild passen. |
Ganz in der Nähe schnauft die Lokomotive des Tren del Fin
del Mundo [] (Zug am Ende der Welt) zwischen 20 Meter hohen Lenga-Bäumen.
Bei der Estacion Fin del Mundo, dem kleinen Bahnhof dieser
historischen Eisenbahn, die heute ausschließlich zur Touristenbeförderung
dient, mache ich einen kurzen Halt, in der Hoffnung, ein Foto der
alten, aber auf neu getrimmten Lokomotive machen zu können. Während
ich auf die Ankunft des Zügerl warte, gönne ich mir einen
Drink in der kleinen Bahnhofs-Bar. |
Als ich das Barmädchen, wegen ihrer amüsanten gelb-schwarz
gestreiften Uniform, zu überreden versuche, für ein Foto
zu posieren, komme ich ins Gespräch mit der Männergruppe
vom Nebentisch. Einer von ihnen zeigt ganz stolz auf ein vergilbtes
Foto an der Wand, und erklärt, dass einer der darauf abgebildeten
Herren sein Vater sei, damals Offizier bei der Marine. Die Eisenbahntrasse,
erzählt er mir, sei 1910 von Insassen der Strafkolonie gebaut
worden, der Zug habe früher Bauholz und Kalk, Verbannte und Verbrecher
transportiert. Er ist ein Teil der Geschichte Feuerlands und dessen
düsteren Ausstrahlung. |
Chile hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts bereits zu beiden Seiten
der Magellanstraße festgesetzt, so musste Argentinien versuchen,
ehe es zu spät war, einen anderen Teil von Feuerland zu kolonisieren.
Und weil es zweifelsohne nicht leicht gewesen wäre, Kolonisten
zu bewegen, sich in dieser unwirtlichen Gegend anzusiedeln, beschloss
die argentinische Regierung, entsprechend einer im neunzehnten Jahrhundert
üblichen Taktik, eine Strafkolonie zu gründen. |
Die Strafkolonie wurde 1896 auf der Isla de los Estados, der am westlichsten
gelegenen Insel, gegründet und später, 1902, nach Ushuaia verlegt. In jenen Tagen bestand die Stadt nur aus einer Gruppe von
etwa 40 Häusern. |
Es ist unmöglich, sich Ushuaia ohne diese Strafanstalt vorzustellen.
Es bestand eine enge Verbindung zwischen Ushuaia und dem Zuchthaus;
es war das Alpha und Omega der Stadt, ihre einzige Berechtigung
und Lebensbedingung. Dank der Arbeit der Gefangenen bekam die Stadt
den Hafen, die Post und die Gebäude der Hauptstraße; das
Elektrizitätswerk des Zuchthauses lieferte Licht und Kraft, und
die verschiedenen Werkstätten des Gefängnisses, wie Druckerei,
Schneiderei, Schuhmacherwerkstatt und Schreinerei arbeiteten fleißig
für die Bürger von Ushuaia. |
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Erst 1947 wurde das Gefängnis endgültig geschlossen. Zu
diesem Zeitpunkt hatte Ushuaia bereits mehr als 2000 Einwohner. |
Ich frage, absichtlich naiv, nach dem Grund für die gelb-schwarz
gestreiften Uniformen der Gefangenen. Woraufhin einer der Männer
ins Gespräch eingreift, ein Auge zukneift, beide Arme zu einer
Gebärde, als würde er mit einem Gewehr auf jemanden zielen,
hochhebt, und mit einem eindeutig britischen Akzent äußert:
„So you could see them better and shoot them“. Er
sei technical engineer, stellt er sich vor – ich schätze,
damit ist gemeint, dass er die alte Lok wartet - und wurde, was unüberhörbar
ist, nicht in Argentinien geboren. „I have been imported“,
sagt er mit einem Grinsen. Seine Kumpeln fügen lachend hinzu,
er sei deshalb hierher gekommen, weil es „el pais mas bonito
del mundo“ (das schönste Land der Welt) sei. Weshalb
er von England weg gegangen ist? „Too many people there“
ist die lapidare Antwort. |
Ein
fast ungetrübter Ausflug in den Nationalpark |
Als ich weiterfahre, ist der
Himmel immer noch blau. Allerdings komme ich nicht sehr weit. Denn
kurz nach der Einfahrt in den Nationalpark werde ich von einem Pickup
der Parkwache angehalten. Ihnen sei gemeldet worden, dass ein Auto
mit einem verdächtig flachen Reifen in ihre Richtung unterwegs
sei. Diesmal ist es der linke hintere Reifen meines Schnauferls, der
an der Reihe war, seine Luft auf-zugeben. Ich kann mich aber beim
besten Willen nicht wirklich darüber ärgern, weil es einfach zu komisch ist. |
Die beiden Ranger machen sich sofort dran, mir beim Reifenwechsel
zu helfen. Die junge Frau, eine aparte Brünette mit feinen Händen
und einer schmucken hellbraunen Rangeruniform, macht die meiste Arbeit.
Diesmal bin ich derjenige, der vornehm zuschaut. Als die Frau den
kleinen Reifen meines Daewo hochhebt, sagt sie: „Wie leicht
ist der!“ und lacht. Ihr compañero, der ebenfalls
nur zuschaut und sich in lockerer Haltung am Landrover, dessen Reifen
die Dimension von aufgerollten Elefantenrüsseln haben, anlehnt,
schmunzelt. |
Ich muss in diesem Zusammenhang eine Lanze für die Argentinier
brechen. Ich erlebe in diesem Land nur reine Freundlichkeit. Einzig
und allein der alte Kauz an der Rezeption des Hotels in Buenos Aires wirkte blasiert und abweisend. Allerdings ist es nicht mit überschwänglicher,
lauter, „Hallo“ rufender Umarmung, dass ich in diesem Land empfangen
werde, nein, es ist eher mit schüchternem, ruhigem Lächeln
und einer sehr zuvorkommenden Art. |
Nun mit keinem weiteren Ersatzreifen im Kofferraum traue ich mich
nicht mehr, eine längere Fahrt zu planen. Ich fahre also nur
die kürzmöglichste Strecke, die zur Bahia Ensenada führt. Dort stelle ich das Auto ab, genieße kurz den Blick
auf das spiegelglatte Meer, die Redonda-Insel und das in der
Ferne imposant aussehende Zickzack der chilenischen Cordillera und
mache mich auf zur 6 1/2 Km langen Küstenwanderung. |
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Drei Südbuchenarten (Nothofagus) bestimmen das Vegetationsbild:
die laubwerfenden Lenga und Ñire und der immergrüne Coihue. Was diese Wälder so verzaubert, das sind auch
die hellgrünen Flechten, die als barba de viejo (Altmännerbart)
von den Ästen hängen. So empfindlich sind diese (für
die Bäume nicht schädlichen) Gewebe, dass sie als erste
eingingen, wäre die Luft hier nicht absolut rein. Auch die "Chinesische
Laterne“ genannten nestartigen Kugeln (Halbschmarotzer der Gattung Myzodendrum), die das Geäst mit gelben und roten Farbtupfern
füllen, tragen zur Verzauberung dieser Wälder bei. |
Ich kann der Strecke die Schönheit nicht absprechen. Einmal wandere
ich in dichten Wäldern mit ausgeprägtem Urwald-Charakter,
dann spaziere ich auf kleinen von Unmengen von Muscheln übersäten
Stränden, dann gehe ich bergauf zu herrlichen Aussichten auf
dicht bewachsene Küstenberge, und immer wieder öffnet sich
der Blick auf den Beagle-Kanal und die ferne Cordillera. |
Merkwürdigerweise will aber trotz der objektiven Großartigkeit
dieser Landschaft bei mir partout keine Begeisterung aufkommen. Irgendetwas
fehlt mir, jedenfalls. Ob es daran liegt, dass es zu idyllisch, zu
zahm wirkt? Es fehlt mir – schon wieder – der Wind, der Sturm, der
dramatische Himmel, das bewegte Meer, das Wilde, das Abenteuer suggerierende,
mir fehlen - könnte es sein? - die an den Felsen zerschellten
Schiffe, die ich in meiner Vorstellung immer mit der "Tierra
del Fuego“ assoziiert habe. |
Drei lange Stunden bin ich unterwegs, bevor ich wieder an die Hauptstraße
in der Nähe des Rio Lapataia gelange. Müde
schleppe ich mich jetzt die staubige Erdstraße zurück in
Richtung Parkeingang. Die schwere Fototasche und das Stativ schneiden
schmerzhaft meine Schultern ein. Ein Schuh drückt. Jedes Mal,
wenn ich ein Auto kommen höre, muss ich mich, so weit ich kann,
von der Straße entfernen, um nicht in eine Staubwolke zu geraten.
Mittlerweile hat sich ein Schleier auf die bereits schwache Nachmittagssonne
gelegt und dem Wald rechts und links der Fahrbahn seinen letzten Glanz
genommen. |
Wieder bekomme ich dieses beklemmende Gefühl, ins Leere zu greifen.
Dieses Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein, und nur eine
– wie schön sie auch sein mag – Urlaubslandschaft gefunden zu
haben, eine Landschaft, die sich nicht subtil meines Unterbewusstseins
bemächtigt, sondern zum Konsum freigegeben und bereits in mundgerechte
Stücke aufgeteilt worden ist. Es werden mir keine Geschichten
ins Ohr geflüstert, keine abenteuerliche Gestalten lauern hinter
einem Felsen, kein pfeifender Wind lässt mich erschauern, keine
Bilder aus spannenden Romanen scheinen wahr zu werden. Aber wie könnte
das auch sein, wenn keine zwei Kilometer von hier Ottonormaltourist
gerade seine Bratwurstsemmel verschlingt? |
Gran finale |
Aber wie so oft, wenn ich es
am wenigsten erwarte, geschieht ein kleines Wunder. Es ist wie ein
Wink vom Himmel. Links von der Straße lichtet sich der Wald
allmählich und eine weite, freie, rot leuchtende Moorfläche
tritt vor meinen Augen in Erscheinung. Zeitgleich verschwindet der
letzte Schleier vom Himmel, die Sicht wird von Minute zu Minute klarer
und die nunmehr befreite Nachmittagssonne taucht die unberührte
Fläche des Moors und die Berge im fernen Hintergrund in ein sanftes,
gelbes Licht. |
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Als ich, um mich diesem Fleckchen unberührter
Natur ungehindert hinzugeben, von der Straße entferne, über
Steine, Äste und verfilzte Grasbüschel stolpere und immer
wieder knöcheltief im feuchten Moor einsinke, sind alle grauen
Gedanken wie weggefegt, die Touristenwelt ist auf einem Schlag verschwunden
und ich fühle ich mich voller Energien und Begeisterung. Ein
geisterhafter, ausgetrockneter Baum ragt aus einem Sumpf heraus, ich
halte den Atem an, blinzle gegen die Sonne, sehe einen Vogel auffliegen,
die Gräser leuchten rotgelb im Gegenlicht. Minuten, für
die allein sich der Fünf-Stunden-Marsch schon gelohnt hat. |
Als ich auf die Hauptstraße zurückkehre und weitermarschiere,
dauert es nur noch eine Viertelstunde bis ich den Pfad zum Ausgangspunkt
meiner Wanderung aufspüren kann. So mache ich mich auf, zum letzten,
zwanzigminütigen Marsch bergab zur Bahia ensenada. Als ich endlich
am Meer ankomme, sind auch die allerletzten Wolken verschwunden und
es herrscht ein klares, „nordisches“ Licht. Weiß-blaue
Fahnen flattern an der Bootsanlegestelle im Wind. Am Liebsten würde
ich mich hinsetzten, völlig regungslos den Abend kommen lassen,
mich ins Sehen und Meditieren versenken und nie mehr zurück fahren. |
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