|
18. März |
Abschied von Ushuaia |
Vor dem Abflug sitze ich
noch eine Weile in der Saint Christopher Bar bei cafe con leche und einer herrlichen Aussicht auf die Ushuaia-Bucht, auf die Cordillera und auf ein altes Schiffswrack. Das Schiff, die Saint Christopher,
ist ein Schlepper, der vor fünfzig Jahren hier auf Grund lief.
Und weil die Versicherung nicht zahlen wollte, steht es immer noch
da, idealer Touristenfang und Kundenfang für diese Bar. |
Jetzt, wo ich wegfahre, ist plötzlich diese nordisch klare Luft
da, die ich den letzten Tagen vermisst habe. Es ist kühler geworden,
aber das Meer ist immer noch zahm, man kann sich die wilden Stürme,
die so vielen Seeleuten das Leben gekostet haben, kaum vorstellen.
Mir wird bei der Ansicht des alten Schiffes plötzlich bewusst,
wie groß meine Sehnsucht nach Erlebnissen ist, wie sehr Bilder
aus der Kindheit, aus zahlreichen Büchern und Filmen aufgenommen,
meine Vorstellungswelt geprägt haben. Es ist nicht lange her,
da sah ich den Film „Master and commander“ von Peter Weir.
Wie stark beeindruckten mich damals die dramatischen Bilder des gewaltigen
Sturms, die das Kriegsschiff bei der Umrundung von Kap Horn überstehen
musste, welche Emotionen lösten die Wucht der gegen den Bug schlagenden
und über das Deck peitschenden Wellen bei mir aus! |
Das Schöne an der Fantasie ist, dass man Situationen – auch die
gefährlichsten – nur im Kopf abspielen lassen kann, ohne dass
die Konsequenzen, die das Geschehen in der Wirklichkeit hätte,
auch nur im Geringsten zum tragen kämen.
So „erlebe“ ich in dieser letzten Stunde in Ushuaia in der
Behaglichkeit dieses Lokals ein - völlig harmloses - Abenteuer
im Kopf. |
Beagle-Kanal
Titanic |
In diesem Schiffswrack steckt
mehr Geschichte, als es den Anschein hat. Sie begann am 22. Januar
1930, als das deutsche Passagierschiff „Monte Cervantes“
der Hamburg-Südamerika-Linie die Bucht von Ushuaia verließ.
Der Weg führte, vorbei an hohen Bergen, durch schmale, aber sehr
tiefe Kanäle. Auf dieser schicksalhaften Fahrt lief das Schiff
auf einen Unterwasserfelsen auf und schlug leck. Es gelang zwar, mit
Hilfe der Rettungsboote alle Passagiere zu retten, aber das Vorschiff
begann rasch zu sinken, und das Heck mit den Propellern hob sich aus
dem Wasser. Das Schiff ging jedenfalls nicht unter, es schwamm mit
tief im Wasser liegenden Vorschiff und erheblicher Backbord-Schlagseite
wei-ter. Am nächsten Tag wurde die „Monte Cervantes“
vom Wind und starker Strömung zwischen eine Felsengruppe getrieben,
wo der Kapitän Theodor Dryer sie mit dem Heck auf Grund setzte.
Ein Versuch, das Schiff abzuschleppen, scheiterte. |
Am Tag darauf setzte
es sich plötzlich in Bewegung und kenterte. Die restlichen noch
an Bord gebliebenen Besatzungsmitglieder konnten sich retten, nur
der Kapitän schaffte es nicht mehr und ertrank im kenternden
Schiff, man weiß heute noch nicht, ob er sich das Leben nahm
oder einen Unfall hatte. Man munkelt auch, er könnte mit dem
Inhalt des Schifftresors verschwunden sein.
Ein weiterer Versuch, die „Monte Cervantes", dessen Heck
Jahre später immer noch aus dem Wasser ragte, zu bergen, wurde
im Oktober 1954 durch den Schlepper „Saint Christopher“
unternommen. Er schlug fehl und der Passagierdampfer versank endgültig
im tiefen Wasser des Beagle-Kanals. |
Jetzt steht nur noch der Schlepper da - für alle Ewigkeit, wie
ein monumento nacional [].
Von Javier habe ich auch eine weitere, druckreife Episode in diesem
Zusammenhang erzählt bekommen. Vor einigen Jahren kam eine alte
Frau nach Ushuaia, die 1930 – sie war damals ein zehnjähriges
Kind – das Schiffsunglück miterlebt hatte. Sie erzählte,
wie sie viele Jahre später in Buenos Aires einen Mann kennen
gelernt hatte und sich mit ihm angefreundet hatte. Nun, der Leser
mag es schon ahnen: Es stellte sich heraus, dass auch er Passagier
auf dem verunglückten Schiff gewesen war, damals gerade erst
12 Jahre alt. Und natürlich heirateten die beiden. Sonst wäre
die Geschichte nur halb so schön zu erzählen. |
In
El Calafate |
Tante Helga und ihre Freundin
Catalina Matzi, eine blonde, jung aussehende Austro-Argentinierin
mit einem ständigen Gute-Laune-Ausdruck im Gesicht, warten bereits
am Flughafen auf mich. Sie sind bereits seit gestern hier und holen
mich mit einem gemieteten VW ab mit dem wir in kurzer Fahrt durch
eine wüstenartige Landschaft zum Städtchen El Calafate gelangen. |
El Calafate liegt am größten See Argentiniens, dem Lago Argentino. Die Architektur dieses kleinen Städtchens
ist eine merkwürdige Mischung nordischer Landarchitektur und
Westernstadt. Die zum größten Teil vollständig aus
Holz gebauten, mit großen Fenstern ausgestatteten und meist
nur einstöckigen Häuser versprühen aber einen speziellen
Charme und wirken alles andere als südamerikanisch. |
Vor 50 Jahren gab es hier gerade mal zwanzig Häuser und ein paar
Läden, die den Bedarf der umliegenden estancias deckten.
Heute hat El Calafate etwa 3000 Einwohner, und geschätzte
80 % seiner Häuser sind Beherbergungsbetriebe. Das explosionsartige
Wachstum dieses Ortes hat nur eine einzige Ursache: Gleich vor seinen
Toren, das heißt etwa 50 Kilometer westlich, liegt der Nationalpark Los Glaciares, darin der berühmte, von mir bereits erwähnte Perito-Moreno-Gletscher. Der ist natürlich das absolute
Muss in Patagonien, und selbst solche Pauschal-Reiseangebote wie „In
zwei Wochen durch ganz Südamerika“ widmen dieser Gegend
zwei ganze Tage. |
Wir sind in einem kleinen hospedaje turistico am Ortsrand untergebracht,
wo wir, weil das Wetter kaum besser sein könnte, nur rasch unser
Gepäck ablegen und uns frisch machen. Dann steigen wir sofort
wieder ins Auto und fahren auf einer gut ausgebauten, breiten Teerstraße
ein paar Kilometer den Lago Argentino entlang in Richtung Westen.
Tante Helga möchte gerne zu einer Felsengruppe fahren, die sie
von ihrer letzten Fahrt in diese Gegend - es ist schon zehn Jahre
her - in Erinnerung hat: den Elefantenfelsen. |
Merkwürdigerweise habe ich erst hier, in der Nähe des Lago
Argentino, zum ersten Mal wirklich das Gefühl, in Amerika
zu sein. Denn die Aussichten sind so weiträumig und der Himmel
so riesig, wie ich es fast nur von Western-Filme kenne. In Europa kann man eine derart weite Landschaft vielleicht nur in Spanien, in
den schottischen Highlands oder in den Steppen Russlands erleben.
Ich liebe solche Weiten. |
Landschaften zu beschreiben ist – sofern man nicht das Talent eines
Adalbert Stifters hat – eine schwierige Sache. Man verfängt sich
leicht in Kitsch, Übertreibungen, Gemeinplätzen. Wenn überhaupt,
fällt es mir leichter, die Gefühle zu veranschaulichen,
die sie in mir wecken. |
|
Eine unglaubliche Weite! Mir stockt fast der Atem. Es ist, als wäre
ich in einem Western gelandet, und säße nicht in einem
Auto sondern auf einem Pferd. Und es würde mich nicht wundern,
wenn plötzlich eine Horde Indianer von hinter den Hügeln
auftauchte. |
Ich habe einen Begriff im Kopf, der mich seit eh und je begleitet
und das Ziel eines Großteils meiner Landschafts-Sehnsüchte
symbolisiert: „Big sky". Ein Land so weit wie der
Ozean und mit einem großen, weiten Himmel. Aber es darf nicht
der milchige Himmel Mitteleuropas sein, dem die Feuchtigkeit des Atlantiks,
die Ausdünstungen der Städte und die Abgase von Millionen
Autos die Transparenz genommen haben. Es muss
ein Himmel sein, wie ihn die bayerische Fremdenverkehrswerbung gerne
darstellt: tief blau mit Wolken wie Zuckerwatte, ein Cinemascope-Himmel,
den man nicht nur als kleinen Ausschnitt zwischen Häusern oder
Bäumen sieht, ein Himmel, in anderen Worten, in den man bei Sonnenuntergang
– wie am Ende eines Filmes – hineinreiten möchte. |
Würde ich nicht auch von den Farben sprechen, fehlte in meiner
Beschreibung etwas Wesentliches, denn mehr als das Blau des Himmels
fasziniert mich sein Kontrast zur zarten Farbe des Sees. Dieser Lago
argentino weist trotz seiner Größe die Farben eines
Gletschersees auf, zartestes Türkis. Und die Gegenüberstellung
dieses Pastelltons, der magische Anspielung an Indianerschmuck einflüstert,
mit dem braungrau der Berge und eben diesem „bayerischen“
Blau des Himmels will meine Blicke nicht loslassen. |
Bald finden wir die Stelle mit der beeindruckenden Felsformation,
die „Los Elefantes“ genannt wird. Wind und Erosion
haben diese Felsen so bearbeitet, dass man glauben könnte, eine
Herde Elefanten käme, Kopf an Kopf, auf einen zu. Sie sind zu
dieser späten Stunde in ein sanftes Licht getaucht und erwecken
bei mir anregende Assoziationen zu südindischen Tempeln. |
Ein endloser Stacheldrahtzaun ist der einzige Schönheitsfehler
und das einzige Hindernis zum perfekten Genuss dieser verzauberten
Momente. Aber ich kann selbst kaum einige Meter den Zaun entlang in
Richtung Felsen gehen, da hat es Tante Helga, die immerhin schon über
achtzig Jahre alt ist, bereits mit Hilfe von Cati geschafft, das Hindernis
zu überwinden. Als ich selbst über den Zaun komme, um mir
die „Elefanten“ aus größerer Nähe anzusehen,
klettere ich ein wenig auf einen der Felsen bis zu einer Nische, in
der eine kleine Madonnenfigur, die Virgen de Lujàn,
die Patronin Argentiniens, aufgestellt ist. |
Es ist vielleicht interessant zu erwähnen, dass die Farben der
argentinische Fahne (Weiß und Hellblau) jenen der Kleider der
Gottesmutter entsprechen, denn diese schmückt ein weißes
Gewand und ein hellblauer Mantel. |
Als wir aus dem Gelände wieder zurückkommen sind in meinen
Schuhe, Socken und Jeans Dutzende von Kletten verhakt. Mühsam
muss ich sie während der Rückfahrt wieder abzupfen. Zum Abendessen in einer parilla an der Hauptstraße
gibt es – was sonst? – bife. |
|
|
|
|