Reisebericht von Bernd Zillich    
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Melnik/ Kloster Rila (Bulgarien)
Im Rila-Gebirge / Die Rückfahrt
   
Reise Know-How Bulgarien
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Freytag Berndt Autoatlanten, Balkan Süd, Superatlas - Maßstab 1:200.000 - 1:500 000
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Reise durch BULGARIEN - Ein Bildband mit über 210 Bildern - STÜRTZ Verlag
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Die fingierte Revolution: Bulgarien, eine exemplarische Geschichte
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rische Geschichte
 
 
 
 
 
Bulgarien
Bild vergrössernDie anhaltende Gewitterstimmung gibt dem Panorama ei­nen Hauch von Dramatik! Als ich in eine kleine Neben­stra­ße einbiege, um zu dem vom Reiseführer gepriesenen Ort Melnik zu fahren, ist er plötzlich und unerwartet wieder da, dieser Eindruck von „Ferne“, von „Abgeschiedenheit“, das ich so gerne erlebe, und das hier von einer wilden, weiten und einsamen Landschaft, in der die Stille noch zu Hause ist, herbeigezaubert wird. Wunderschön die Mischung an Brachflächen mit ihren bereits gelben Gräsern, einzelnen Weinbergen, einem idyllischen Dorf und den Bergen im Hin­tergrund. Weit, weit hinten ein Paar Flecken Schnee auf dem höchsten von ihnen.
Melnik
Stilgerechte Balkanhäuser, Erdpyramiden als imposante Kulisse, ein wunderschönes, na­hezu perfektes Ambiente, aber letztlich merke ich bald, dass Melnik schon lange kein „echter“ Ort mehr ist. Melnik ist ein Museum, konserviert und aufgebaut für Tou­ris­ten. Wie schnell haben es in den ehemaligen kommunistischen Ländern der Staat und das freie Unternehmertum nach der Wende geschafft, die schönen Orte für sich zu ver­ein­nah­men, sie aufzubereiten, aufzupolieren und in einen Touristenmarkt umzuges­talten.
Dennoch, ich fühle mich sehr wohl in diesem Ort, der sich in einem engen Tal an einem kleinen Fluss erstreckt, fast nur Häuser aufweist im Stil, der auf die Epoche der Natio­nalen Wiedergeburt zurückgeht, und, zumindest in dieser Vorsaison, ruhig und ge­mäch­lich wirkt. Da stört es wenig, dass jedes zweite Haus ein Hotel ist, und es von Sou­ve­nirläden nur so wimmelt. Aber als ich abends mich wenige Schritte von der mu­se­alen Hauptstraße entferne, entdecke ich auch ein paar alte Häuser, die noch nicht zweck­ent­frem­det wurden. Sie zerfallen wohlwollend vor sich hin. Und die Landschaft, die Stille und die fette Kröte, die mir über den Weg läuft, die sind alle echt.
Melnik ist die kleinste Stadt Bulgariens. Ihre Bevölkerung erreicht knapp die Zahl von 200 Menschen. Die großartigen und imposanten Erdpyramiden machen das Städtchen besonders anziehend. Sie umgeben es wie ein Theaterdekor. Die Pyramiden von Melnik sind ein faszinierendes Naturphänomen aus stark ausgewaschenen Erdpyramiden, hoch aufragende Sandsteinpfeiler aus einem Sand-Lehm-Gemisch. Gemeißelt wurden sie von den Flüssen, dem Wind, von der Sonne und der Kälte: pilzförmig, igelförmig, konus­för­mig, pyramidenförmig.
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Auf der einen Seite weisen die Ruinen, deren Zahl die der bewohnten Häuser übersteigt, immer wieder auf den Verfall des Ortes hin. Auf der anderen Seite wirken sie inmitten der steilen Hänge der malerischen Sandsteinfelsen wie einzigartige Denkmäler der tra­di­tionellen Baukunst. Ihre steinernen Erdgeschosse werden zu Haushaltszwecken genutzt – quasi als Keller. In den oberen vorkragenden Stockwerken befindet sich hingegen der Wohntrakt. Mit ihren Erkern, Fensterläden und weit ausladenden Dächern wirken sie ein­ladend und überraschend modern. Von den ehemals mehr als 3600 architektonisch be­deut­samen Wohnhäusern sind nicht mehr als 100 erhalten geblieben, darunter befinden sich allerdings zahlreiche Prachtstücke.
Donnerstag, 4. Juni
Melnik
Soll das etwa blauer Himmel sein? Es sieht ganz danach aus, als würde sich die Sonne heute trauen, etwas länger zu scheinen und die kalte Feuchtigkeit aus Luft wegzufegen. Sei es wegen des frühlingshaften Wetters, der Aussicht auf diese ar­chi­tektonisch für mich „passende“ Umgebung oder des Beschlusses, einen gan­zen Tag in Melnik zu blei­ben, jedenfalls bin ich milde gestimmt. Es ist eine optisch heile, intakte Welt und gleich­zei­tig bin ich in einer Insel der sicheren, wohl organisierten Moderne.
Bild vergrössernEs rührt mich, zu sehen, wie die alte Frau ihre altmodischen Holzspielzeuge fein auf einem Tisch aufreiht, Lokomotiven, ein Feuerwehrauto, eine Wiege und sogar ein Schaukel­pferd, Spielsachen wie anno dazumal. Die Frau setzt sich dann neben ihre Ware und liest ruhig in einem Buch. Eine Szene aus anderen Zeiten. Der Klang des Bulgarischen ähnelt sehr dem Russischen, mehr als in den anderen Län­dern, die ich bisher besucht habe.
Beim Kloster der Jungfrau Maria Spileotisa
Durch zackige Felsen winden sich von Gras gesäumte Pfade, an deren Ende ein traum­haf­ter Ausblick winkt. Die Mönche, bzw. die Nonnen wussten schon, wo sie ihre Klöster bauten. Der Blick hinunter auf Melnik und die Erdpyramiden ist überwältigend! Vögel zwitschern, Insekten Summen, man hört auch sporadisch das Klopfen eines Spechtes. Über den Bergen im Nordosten ballt sich wieder eine Fron gewaltiger Gewitterwolken zusammen, ein Wetter, das außerordentlich theatralisch wirken kann und hier, wo die Natur so friedlich, so in Ruhe gelassen und wuchernd erscheint, sich auch von der gewaltigen Seite zeigen kann.
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Mittagszeit
Der Lieferwagen des Bäckers hält an und er händigt der Frau, die immer noch bei ihren Spielsachen sitzt, zwei Packungen Brot und eine mit Krapfen. Dann setzt er sich ein paar Minuten zu ihr auf ein kleines Schwätzchen. Es geht gemächlich zu. Kaufen will aber an­scheinend keiner. Schulklassen gehen vorbei, Buben sehen sich die holzgeschnitzten Schwerter an und ziehen weiter. Bald sitzen zwei weiter Frauen bei der Verkäuferin und knabbern genüsslich an den Krapfen. Mag sein, dass die Menschen hier, trotz des Tou­ristengeschäfts, noch relativ arm sind, großem Stress scheinen sie zumindest nicht aus­gesetzt zu sein.
Verirrt in einer Zauberwelt
Bild vergrössernEs sollte nur ein kurzer Spa­zier­gang werden. Das Tal mit dem ausgetrockneten Fluss ähnelt einem breiten Can­yon, dessen Wände die Erd­for­mationen und -pyramiden aus­ma­chen, die den Ort charak­te­ri­sie­ren. Irgendwie dachte ich, ich könnte, wenn ich nur weit genug ginge, auf den Grat der Pyramiden hinauf gelangen, um von oben wieder zurück in den Ort zu kommen. Ich bildete mir ein, mein Orien­tie­rungs­sinn würde mich nicht täuschen. Als ich bereits fast eine Stunde unter­wegs war, kamen mir erste Zweifel. Ich ging aber noch eine Weile im tro­ckenen Bett des Was­ser­laufes weiter, bald im Dickicht, bald auf einem offeneren Weg, der den Blick auf die von der späten Sonne beleuchteten Spitzen der Erdpyramiden frei­gab.
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Es war bereits 19 Uhr, als ich mich entschloss, umzukehren. Es dunkelte schon. Eine kur­ze Zeit noch waren die Spitzen der Erdformationen von der Sonne beleuchtet, dann senkte sich der Schatten über Berg und Tal. Weil aber wegen meiner Ent­schei­dung die innere Unruhe schlagartig verflogen war, verwandelte sich in meinen Augen die Um­welt in eine Zauberwelt voller kurioser Felsge­stal­ten, Waldwesen und rätselhafter Pflanzen. Bild vergrössern
Ich brauchte nur einen Augenblick stehen zu bleiben, schon waren tausend Vogelstimmen zu hören. Erweckten an ei­ner Stelle dunkle Schatten den Eindruck in mir, verloren zu sein in einer Welt voller Gefahren, so ließen wenige Schritte wei­ter die letz­ten Sonnenstrahlen die Blätter der Akazien im Gegenlicht golden glitzern. Ich hat­te keine Eile mehr, zu sehr ließ ich mich von dieser Zauberwelt einnehmen und zu un­zähligen Fantasien verleiten. Ich war überwältigt von so viel Schönheit.
Freitag, 5. Juni
Kloster Rila
„Eine der schönsten Sehenswürdigkeiten Bulgariens ist zweifellos das Rilaklos­ter. Wer immer Bulgarien besucht, wird nicht verfehlen, dieses einzigartige Bau­werk mit seinen Schätzen an alten Malereien und Handschriften zu besuchen. Um so mehr, als die sprichwörtliche Gastfreundschaft seiner Mönche und die gran­dio­se Landschaft einen weiteren Anreiz darstellen. Wie alle Ausflugsziele, so ist auch das Rilakloster am besten von Sofia aus zu erreichen. Vom Zentrum Sofias startet der Autobus und führt uns hinaus in die sommerliche Landschaft. In dem kleinen Gebirgsdorf Rila steigen wir der Bequemlichkeit halber auf die Rücken von Maultieren, die uns geruhsam gegen die Höhen tragen und so er­lau­ben, mit Muße die herrliche Landschaft zu bewundern. Über steinige Pfade geht es berg­auf, manchmal auch auf den von Tannennadeln weichbestreuten Wald­we­gen und zwischen dunklen hohen Stämmen hindurch, Endlich, in einer Höhe von 1180 Me­tern, bietet sich das Kloster in seiner imposanten Größe dem staun­en­den Auge des Besuchers an.“ So schrieb mein Vater 1940 in einem Artikel für die Wiener Illustrierte.
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Auszug eines Reiseangebots auf der Webseite www.pilgerreisen.de: „Am 7. Tag geht es weiter nach Rila, wo wir das berühmte orthodoxe Rila-Kloster bewundern, das als Na­tio­nal­hei­lig­tum Bulgariens gilt und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Bereits im Mittelalter entwickelte es sich zu einem Zentrum des geistigen und kulturellen Lebens in Bulgarien. In der Klosteranlage essen wir zu Abend und übernachten auch dort – so können wir den Zauber des Klosters besonders intensiv erleben!“
Ein paar Klicks, eine Überweisung, Reiseführer kaufen, Wäsche waschen und bügeln, Kofferpacken, am Abreisetag früh aufstehen: Das dürfte im Großen und Ganzen alles sein, was dem Reisenden an selbstständigem Handeln abverlangt wird.
Eine der sonderbarsten Annahmen der Quantentheorie, die Physiker und Philosophen gleichermaßen fasziniert, lautet, dass indem ein Betrachter ein Phänomen be­o­bach­tet, er dieses beeinflusst, also verändert. Mit einer kleinen Gedankenkapriole auf das Rei­sen angewandt bedeutet das, dass Reisende, besonders, wenn sie in großen Men­gen auftreten, die besuchten Orte und Menschen verändern. Sie sehen niemals das, was war.
Bild vergrössernMan stelle sich das Leben der Mönche im Kloster Rila vor. Nur noch neun Mönche leben hier, bei jährlich 800.000 Tou­risten. Den ganzen Tag über müssen sie die foto­gra­fie­renden Menschen ertragen, und vor allem das Foto­gra­fiert­wer­den, wenn sie in der Kirche sind, wenn sie über den Hof gehen oder auf das höl­zer­ne Brett schlagen, mit dem zum Gebet gerufen wird. Wo bleibt dabei das, was ein Klosterleben eigentlich ausmacht: Stille, Beichte hören, Gespräche führen, den Got­tes­dienst feiern?
Bei solchen Zahlen ist
es klar, dass die „sprichwörtliche Gastfreundschaft“ keinen Platz mehr findet. Dennoch: Chrisostomos, der junge Mönch, ist aufmerksam, umgänglich und freund­lich, wenn auch in einer Sache unnachgiebig. Ich kön­ne zwar überall foto­grafieren, meint er, aber nicht in der Kirche und keinesfalls von den oberen Stock­wer­ken aus. Das sei der Wohnbereich der Mön­che. Er würde aber sehr gerne, falls ich es wünsch­te, ein Foto von oben für mich knipsen. Zerknirscht aber verständnisvoll be­dan­ke ich mich bei ihm.
Es ist sowieso, wenn man von diesem wunderbaren Gebäudekomplex absieht, alles an­ders, als ich es mir gewünscht hätte. Gewünscht, notabene, nicht vorgestellt, denn mei­ne Erwartungen hatte ich längst heruntergeschraubt. Man kann die Zeit nicht mehr zu­rückdrehen. Die große Anzahl Touristen mache es mir unmöglich, mich mit der At­mos­phä­re dieses Klosters anzufreunden.

Der Satz, den ich im Prospekt eines Reiseunternehmens gelesen habe: „Der Ort besitzt eine eigene Energie, die dafür verantwortlich ist, dass man einfach zur Ruhe kommt und die Zeit vergisst“ hätte früher vielleicht seine Wahrheit gehabt.
Bild vergrössernDenke ich zurück an die Einsamkeit und an das beschau­li­che, Ehrfurcht erweckende Ambiente des Kloster Sihastria [] im Norden Rumäniens, das touristisch völlig unbe­kannt ist und nicht das zweifelhafte Glück hatte, UNESCO-Welterbe zu werden, so werde ich traurig. Aber der tie­fere Grund dieser Traurigkeit ist ein anderer. Das Be­wusst­sein näm­lich, wie sehr Zeit verändert und nicht im­mer zum Bes­se­ren. Als mein Vater vor fast siebzig Jahren dieses Kloster besuchte, war er kein Tou­rist. Er war Gast, er genoss Respekt. Seine einfühlsame Fotos beweisen das. Heute, wenn man nicht gerade ein prominenter Politiker oder Medienmensch ist, kann man kein Gast mehr sein. Man ist ein Käufer von Ansichtskarten und Souvenirs. Vor den zwei Eingangstoren warten unzählige Verkäufer von Devotionalien auf Kund­schaft. Sie bieten vornehmlich Kreuze, Ikonen und religiöse Literatur an.
Als ich Chrisostomos die Zeitungsausschnitte von Vaters Reportage zeige, erkennt er auf einem der Bilder einen (damals jungen) Mönch. Das sei Vater Zacharias, sagt er. Und ich wundere mich, denn der Mann muss schon lange tot sein. Aber wenn man in einer derart kleinen Gemeinschaft lebt, erinnert man sich auch an die seit langem Ver­storbenen.