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Bulgarien |
Die anhaltende Gewitterstimmung gibt dem Panorama einen Hauch von Dramatik! Als ich in eine kleine Nebenstraße einbiege, um zu dem vom Reiseführer gepriesenen Ort Melnik zu fahren, ist er plötzlich und unerwartet wieder da, dieser Eindruck von „Ferne“, von „Abgeschiedenheit“, das ich so gerne erlebe, und das hier von einer wilden, weiten und einsamen Landschaft, in der die Stille noch zu Hause ist, herbeigezaubert wird. Wunderschön die Mischung an Brachflächen mit ihren bereits gelben Gräsern, einzelnen Weinbergen, einem idyllischen Dorf und den Bergen im Hintergrund. Weit, weit hinten ein Paar Flecken Schnee auf dem höchsten von ihnen. |
Melnik |
Stilgerechte Balkanhäuser, Erdpyramiden als imposante Kulisse, ein wunderschönes, nahezu perfektes Ambiente, aber letztlich merke ich bald, dass Melnik schon lange kein „echter“ Ort mehr ist. Melnik ist ein Museum, konserviert und aufgebaut für Touristen. Wie schnell haben es in den ehemaligen kommunistischen Ländern der Staat und das freie Unternehmertum nach der Wende geschafft, die schönen Orte für sich zu vereinnahmen, sie aufzubereiten, aufzupolieren und in einen Touristenmarkt umzugestalten. |
Dennoch, ich fühle mich sehr wohl in diesem Ort, der sich in einem engen Tal an einem kleinen Fluss erstreckt, fast nur Häuser aufweist im Stil, der auf die Epoche der Nationalen Wiedergeburt zurückgeht, und, zumindest in dieser Vorsaison, ruhig und gemächlich wirkt. Da stört es wenig, dass jedes zweite Haus ein Hotel ist, und es von Souvenirläden nur so wimmelt. Aber als ich abends mich wenige Schritte von der musealen Hauptstraße entferne, entdecke ich auch ein paar alte Häuser, die noch nicht zweckentfremdet wurden. Sie zerfallen wohlwollend vor sich hin. Und die Landschaft, die Stille und die fette Kröte, die mir über den Weg läuft, die sind alle echt. |
Melnik ist die kleinste Stadt Bulgariens. Ihre Bevölkerung erreicht knapp die Zahl von 200 Menschen.
Die großartigen und imposanten Erdpyramiden machen das Städtchen besonders anziehend. Sie umgeben es wie ein Theaterdekor. Die Pyramiden von Melnik sind ein faszinierendes Naturphänomen aus stark ausgewaschenen Erdpyramiden, hoch aufragende Sandsteinpfeiler aus einem Sand-Lehm-Gemisch. Gemeißelt wurden sie von den Flüssen, dem Wind, von der Sonne und der Kälte: pilzförmig, igelförmig, konusförmig, pyramidenförmig. |
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Auf der einen Seite weisen die Ruinen, deren Zahl die der bewohnten Häuser übersteigt, immer wieder auf den Verfall des Ortes hin. Auf der anderen Seite wirken sie inmitten der steilen Hänge der malerischen Sandsteinfelsen wie einzigartige Denkmäler der traditionellen Baukunst. Ihre steinernen Erdgeschosse werden zu Haushaltszwecken genutzt – quasi als Keller. In den oberen vorkragenden Stockwerken befindet sich hingegen der Wohntrakt. Mit ihren Erkern, Fensterläden und weit ausladenden Dächern wirken sie einladend und überraschend modern. Von den ehemals mehr als 3600 architektonisch bedeutsamen Wohnhäusern sind nicht mehr als 100 erhalten geblieben, darunter befinden sich allerdings zahlreiche Prachtstücke. |
Donnerstag, 4. Juni |
Melnik |
Soll das etwa blauer Himmel sein? Es sieht ganz danach aus, als würde sich die Sonne heute trauen, etwas länger zu scheinen und die kalte Feuchtigkeit aus Luft wegzufegen. Sei es wegen des frühlingshaften Wetters, der Aussicht auf diese architektonisch für mich „passende“ Umgebung oder des Beschlusses, einen ganzen Tag in Melnik zu bleiben, jedenfalls bin ich milde gestimmt. Es ist eine optisch heile, intakte Welt und gleichzeitig bin ich in einer Insel der sicheren, wohl organisierten Moderne. |
Es rührt mich, zu sehen, wie die alte Frau ihre altmodischen Holzspielzeuge fein auf einem Tisch aufreiht, Lokomotiven, ein Feuerwehrauto, eine Wiege und sogar ein Schaukelpferd, Spielsachen wie anno dazumal. Die Frau setzt sich dann neben ihre Ware und liest ruhig in einem Buch. Eine Szene aus anderen Zeiten.
Der Klang des Bulgarischen ähnelt sehr dem Russischen, mehr als in den anderen Ländern, die ich bisher besucht habe. |
Beim Kloster der Jungfrau Maria Spileotisa |
Durch zackige Felsen winden sich von Gras gesäumte Pfade, an deren Ende ein traumhafter Ausblick winkt. Die Mönche, bzw. die Nonnen wussten schon, wo sie ihre Klöster bauten. Der Blick hinunter auf Melnik und die Erdpyramiden ist überwältigend! Vögel zwitschern, Insekten Summen, man hört auch sporadisch das Klopfen eines Spechtes. Über den Bergen im Nordosten ballt sich wieder eine Fron gewaltiger Gewitterwolken zusammen, ein Wetter, das außerordentlich theatralisch wirken kann und hier, wo die Natur so friedlich, so in Ruhe gelassen und wuchernd erscheint, sich auch von der gewaltigen Seite zeigen kann. |
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Mittagszeit |
Der Lieferwagen des Bäckers hält an und er händigt der Frau, die immer noch bei ihren Spielsachen sitzt, zwei Packungen Brot und eine mit Krapfen. Dann setzt er sich ein paar Minuten zu ihr auf ein kleines Schwätzchen. Es geht gemächlich zu. Kaufen will aber anscheinend keiner. Schulklassen gehen vorbei, Buben sehen sich die holzgeschnitzten Schwerter an und ziehen weiter. Bald sitzen zwei weiter Frauen bei der Verkäuferin und knabbern genüsslich an den Krapfen. Mag sein, dass die Menschen hier, trotz des Touristengeschäfts, noch relativ arm sind, großem Stress scheinen sie zumindest nicht ausgesetzt zu sein. |
Verirrt in einer Zauberwelt |
Es sollte nur ein kurzer Spaziergang werden. Das Tal mit dem ausgetrockneten Fluss ähnelt einem breiten Canyon, dessen Wände die Erdformationen und -pyramiden ausmachen, die den Ort charakterisieren. Irgendwie dachte ich, ich könnte, wenn ich nur weit genug ginge, auf den Grat der Pyramiden hinauf gelangen, um von oben wieder zurück in den Ort zu kommen. Ich bildete mir ein, mein Orientierungssinn würde mich nicht täuschen. Als ich bereits fast eine Stunde unterwegs war, kamen mir erste Zweifel. Ich ging aber noch eine Weile im trockenen Bett des Wasserlaufes weiter, bald im Dickicht, bald auf einem offeneren Weg, der den Blick auf die von der späten Sonne beleuchteten Spitzen der Erdpyramiden freigab. |
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Es war bereits 19 Uhr, als ich mich entschloss, umzukehren. Es dunkelte schon. Eine kurze Zeit noch waren die Spitzen der Erdformationen von der Sonne beleuchtet, dann senkte sich der Schatten über Berg und Tal. Weil aber wegen meiner Entscheidung die innere Unruhe schlagartig verflogen war, verwandelte sich in meinen Augen die Umwelt in eine Zauberwelt voller kurioser Felsgestalten, Waldwesen und rätselhafter Pflanzen.
Ich brauchte nur einen Augenblick stehen zu bleiben, schon waren tausend Vogelstimmen zu hören. Erweckten an einer Stelle dunkle Schatten den Eindruck in mir, verloren zu sein in einer Welt voller Gefahren, so ließen wenige Schritte weiter die letzten Sonnenstrahlen die Blätter der Akazien im Gegenlicht golden glitzern. Ich hatte keine Eile mehr, zu sehr ließ ich mich von dieser Zauberwelt einnehmen und zu unzähligen Fantasien verleiten. Ich war überwältigt von so viel Schönheit. |
Freitag, 5. Juni |
Kloster Rila |
„Eine der schönsten Sehenswürdigkeiten Bulgariens ist zweifellos das Rilakloster. Wer immer Bulgarien besucht, wird nicht verfehlen, dieses einzigartige Bauwerk mit seinen Schätzen an alten Malereien und Handschriften zu besuchen. Um so mehr, als die sprichwörtliche Gastfreundschaft seiner Mönche und die grandiose Landschaft einen weiteren Anreiz darstellen. Wie alle Ausflugsziele, so ist auch das Rilakloster am besten von Sofia aus zu erreichen. Vom Zentrum Sofias startet der Autobus und führt uns hinaus in die sommerliche Landschaft. In dem kleinen Gebirgsdorf Rila steigen wir der Bequemlichkeit halber auf die Rücken von Maultieren, die uns geruhsam gegen die Höhen tragen und so erlauben, mit Muße die herrliche Landschaft zu bewundern. Über steinige Pfade geht es bergauf, manchmal auch auf den von Tannennadeln weichbestreuten Waldwegen und zwischen dunklen hohen Stämmen hindurch, Endlich, in einer Höhe von 1180 Metern, bietet sich das Kloster in seiner imposanten Größe dem staunenden Auge des Besuchers an.“ So schrieb mein Vater 1940 in einem Artikel für die Wiener Illustrierte. |
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Auszug eines Reiseangebots auf der Webseite www.pilgerreisen.de: „Am 7. Tag geht es weiter nach Rila, wo wir das berühmte orthodoxe Rila-Kloster bewundern, das als Nationalheiligtum Bulgariens gilt und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Bereits im Mittelalter entwickelte es sich zu einem Zentrum des geistigen und kulturellen Lebens in Bulgarien. In der Klosteranlage essen wir zu Abend und übernachten auch dort – so können wir den Zauber des Klosters besonders intensiv erleben!“ |
Ein paar Klicks, eine Überweisung, Reiseführer kaufen, Wäsche waschen und bügeln, Kofferpacken, am Abreisetag früh aufstehen: Das dürfte im Großen und Ganzen alles sein, was dem Reisenden an selbstständigem Handeln abverlangt wird. |
Eine der sonderbarsten Annahmen der Quantentheorie, die Physiker und Philosophen gleichermaßen fasziniert, lautet, dass indem ein Betrachter ein Phänomen beobachtet, er dieses beeinflusst, also verändert. Mit einer kleinen Gedankenkapriole auf das Reisen angewandt bedeutet das, dass Reisende, besonders, wenn sie in großen Mengen auftreten, die besuchten Orte und Menschen verändern. Sie sehen niemals das, was war. |
Man stelle sich das Leben der Mönche im Kloster Rila vor. Nur noch neun Mönche leben hier, bei jährlich 800.000 Touristen. Den ganzen Tag über müssen sie die fotografierenden Menschen ertragen, und vor allem das Fotografiertwerden, wenn sie in der Kirche sind, wenn sie über den Hof gehen oder auf das hölzerne Brett schlagen, mit dem zum Gebet gerufen wird. Wo bleibt dabei das, was ein Klosterleben eigentlich ausmacht: Stille, Beichte hören, Gespräche führen, den Gottesdienst feiern? |
Bei solchen Zahlen
ist
es klar, dass die „sprichwörtliche Gastfreundschaft“ keinen Platz mehr findet. Dennoch: Chrisostomos, der junge Mönch, ist aufmerksam, umgänglich und freundlich, wenn auch in einer Sache unnachgiebig. Ich könne zwar überall fotografieren, meint er, aber nicht in der Kirche und keinesfalls von den oberen Stockwerken aus. Das sei der Wohnbereich der Mönche. Er würde aber sehr gerne, falls ich es wünschte, ein Foto von oben für mich knipsen. Zerknirscht aber verständnisvoll bedanke ich mich bei ihm. |
Es ist sowieso, wenn man von diesem wunderbaren Gebäudekomplex absieht, alles anders, als ich es mir gewünscht hätte. Gewünscht, notabene, nicht vorgestellt, denn meine Erwartungen hatte ich längst heruntergeschraubt. Man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Die große Anzahl Touristen mache es mir unmöglich, mich mit der Atmosphäre dieses Klosters anzufreunden. Der Satz, den ich im Prospekt eines Reiseunternehmens gelesen habe:
„Der Ort besitzt eine eigene Energie, die dafür verantwortlich ist, dass man einfach zur Ruhe kommt und die Zeit vergisst“ hätte früher vielleicht seine Wahrheit gehabt. |
Denke ich zurück an die Einsamkeit und an das beschauliche, Ehrfurcht erweckende Ambiente des Kloster Sihastria [] im Norden Rumäniens, das touristisch völlig unbekannt ist und nicht das zweifelhafte Glück hatte, UNESCO-Welterbe zu werden, so werde ich traurig. Aber der tiefere Grund dieser Traurigkeit ist ein anderer. Das Bewusstsein nämlich, wie sehr Zeit verändert und nicht immer zum Besseren. Als mein Vater vor fast siebzig Jahren dieses Kloster besuchte, war er kein Tourist. Er war Gast, er genoss Respekt. Seine einfühlsame Fotos beweisen das. Heute, wenn man nicht gerade ein prominenter Politiker oder Medienmensch ist, kann man kein Gast mehr sein. Man ist ein Käufer von Ansichtskarten und Souvenirs. Vor den zwei Eingangstoren warten unzählige Verkäufer von Devotionalien auf Kundschaft. Sie bieten vornehmlich Kreuze, Ikonen und religiöse Literatur an. |
Als ich Chrisostomos die Zeitungsausschnitte von Vaters Reportage zeige, erkennt er auf einem der Bilder einen (damals jungen) Mönch. Das sei Vater Zacharias, sagt er. Und ich wundere mich, denn der Mann muss schon lange tot sein. Aber wenn man in einer derart kleinen Gemeinschaft lebt, erinnert man sich auch an die seit langem Verstorbenen. |
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