Reisebericht von Bernd Zillich    
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Post vom Balkanspion: Depeschen aus einem verschwundenen Land
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Depeschen aus einem verschwundenen Land
   
Durmitor NP (Montenegro) 1:22.000 Wanderkarte Intersistem
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Tara Schlucht, Durmitor (Montenegro) 1:100.000 Wanderkarte Intersistem
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Sonntag, 24. Mai
Montenegro
Es gibt Tage, die würde ich am liebsten gleich von der inneren Schiefertafel wegwischen. Ich könnte zwar versuchen, all das, was mir nicht gefallen Bild vergrössern hat, zu einem Abenteuer um­zudefinieren, aber solch ein Selbst­betrug klappt sicher nur in Ausnahmefällen oder in gro­ßer zeitlicher Entfernung. Die Widrigkeiten waren zu banal und zu sehr von mir selbst er­zeugt, als dass ich sie hät­te "adeln" können. Schließlich hatte ich weder eine Au­topanne in der Wüste, noch wurde ich durch ein plötzliches Gewitter bis zu den Kno­chen durch­nässt oder von einer zwielichtigen Figur übers Ohr gehauen. Das wären "Er­leb­nisse" gewesen, über die ich hätte schreiben können.
Bild vergrössernIch hatte – anders kann es nicht genannt werden – ei­nen wasch­ech­ten „Reisekoller“! Ich saß Stun­den um Stunden im Auto, und wäh­rend eine wunderschöne Land­schaft an mir vorbeiraste, tat ich – außer fahren – nichts. Weder zog es mich hinunter zur grünen Piva, die hier im Norden von Montenegro ein beein­dru­cken­des Tal durchfließt, um in einem Schlauchboot auf dem wilden Was­ser tal­wärts zu brausen, noch ließ ich das Auto stehen, um auf Schusters Rappen die Landschaft aus­zukundschaften, noch ließ ich mir etwas anderes einfallen, was das pausenlose Fahren hätte unterbrechen können.
Es hatte damit begonnen, dass mir an der Grenzstation von einem freund­lichen Zöllner ohne viele Fragen ein Mann, Marko sein Name, ins Auto gesetzt wurde – sein einge­gips­tes Bein quasi als Mitfahrberechtigung. Aber was spricht man mit einem Mann, der außer Serbisch gerade Mal OK versteht? Immerhin konnte er mir auf der Kar­te zeigen, bis wo­hin er mitgenommen werden wollte, und er bemühte sich dann auch, mir die schöns­ten Stellen der Landschaft zu zeigen, indem er mich mehrmals zum An­hal­ten ermutigte. Ich musste jedes Mal mit "dobro" quittieren.
Als ich ihm andeutete, dass ich über den Sedlo-Pass fahren wollte, wirkte er entsetzt und wiederholte mehrmals das Wort „sneg“. Er nahm sein Handy in die Hand und rief je­man­den an. Kurz darauf hörte ich ein deutliches „ne“! Endlich verstand ich: Es lag noch Schnee auf dem Pass (sneg = Schnee)! „Jun“, wiederholte Marko mehrmals, und ich verstand, dass der Pass erst ab Juni offen sei.
Also fuhr ich, nachdem ich Marko abgesetzt hatte, wie gehetzt die nun viel längere vor mir liegende Strecke, weil ich vor Einbruch der Dunkelheit noch den Nationalpark mit dem selten anmutenden Namen erreichen wollte: "Durmitor", heißt er, was wie das italie­ni­sche Wort für "Schlafraum" klingt. Und dann, als die Landschaft wirklich begann, beein­dru­ckend zu werden und düstere Gewitterwolken für die nötige optische Theatralik sorg­ten, fühlte ich mich noch mehr unter Zeitdruck: Ich musste schleunigst eine Über­nach­tungs­ge­le­gen­heit finden.
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Aber so sehr ich fuhr und auf die verstreuten, bunten Holz­häuser schielte, die vor der ge­waltigen Kulisse der Berge ein Stück Idylle darstellten, so we­nig konnte ich einen Hin­weis auf Hotels, Pen­sio­nen oder Zim­mer finden. All die Farbtupfer waren wohl nur Wochenendhäuser von neureichen Montenegrinern, die mir jetzt am Sonntagnachmittag auf den schmalen Straßen mit ihren protzigen Geländewagen entgegenkamen und mich immer wieder zum Ausweichen nö­tigten.
Schließlich landete ich in Žabljak, einer Kleinstadt mitten im Durmitor-Nationalpark, wo ich letztlich zu einer Schlafmöglichkeit gekommen bin. Žabljak, die etwa 2.000 Ein­woh­ner zählt, und zugleich die höchstgelegene Stadt Montenegros ist, ist zwar die Ver­kör­pe­rung der Hässlichkeit, aber sie ist immerhin der Ausgangspunkt für zahlreiche Ex­kur­sionen und Ausflüge ins nahe Gebirge.
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Montag, 25. Mai
Nationalpark Durmitor
Der Name dieses Bergmassivs, Durmitor, soll aus dem Keltischen stammen und bedeu­tet etwa: "Berge der vielen Gewässer". Und in der Tat, eingebettet in diese teils schroffe Berglandschaft im äußersten Norden der Republik Montenegro findet man Gletscherseen und Karstschlunde, Quellen und Bäche und Flüsse, die hinunter in wilde, unzugängliche Täler tosen. Neben schier undurchdringlich erscheinenden Urwäldern prägen auch aus­ge­dehnte Hochalmen die Landschaft und geben ihr stellenweise ein idyllisches Antlitz.
Crno jezero
Meine sportliche Leistung wird an diesem sonnigen Vormittag nicht in Anspruch ge­nom­men. Die angepeilte Rundwanderung um den landschaftlich sehr schönen Crno Jezero (Schwarzen See) endet bereits nach kaum mehr als einem Kilometer, weil der Uferweg stellenweise unter Wasser steht und mitten in einem Wasserfall sein Ende nimmt. Aber auch nichts tun mit Blick auf Berge und See ist ein herrliches Erlebnis.
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Am Seeufer komme ich mit einem jungen Deutschen ins Ge­spräch, der seit einiger Zeit in Mon­te­negro lebt, wo er für die Organistion OM (Operation Mobilisation) tätig ist. Diese ist eine in­ter­na­tio­nale, christliche Hilfsorganisation und Missionsgesellschaft mit evangelikalem Hintergrund. Die von dem aus New Jersey (USA) stammenden Georg Verwer Anfang der 1960er Jahre gegründete Nichtregierungsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, junge Leute für einen bewusst und konsequent gelebten christlichen Glauben zu gewinnen und zu schulen.
Modro jezero
Später Nachmittag: Es braut sich wieder etwas zusammen. Hinter den Bergen wird es grauer und grauer, die Sonne ist hinter den Wolken verschwunden und ein dumpfes Grol­len leitet die nächs­te Phase des Wet­ter­schauspiels ein. Aber hier am Modro Jezero ist es noch so still, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Ein Kuckuck leistet mir Gesellschaft mit seinem Ruf, ferne Vögel zwitschern, und die schlechte Laune von gestern ist endgültig vorbei.
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Ich bin hier, weil ich die Passstraße von der anderen Richtung aus er­kunden wollte, neu­gierig auf die mir von Marko mit großer Begeisterung – mit Gestik mehr als mit Wör­tern – beschriebene Landschaft. Vor mir fährt, äußerst langsam, ein Auto mit ei­nem bel­gi­schen Nummernschild. Plötzlich, mitten in einer Kurve, fängt das Auto an zu blin­ken, es hält an, ein Mann steigt aus und kommt auf mich zu. Ein Schneefeld, sagt er auf Deutsch mit starkem französischen Akzent, ermögliche kein Weiterfahren.
Kurz darauf gesellt sich uns sein Kompagnon. Was für ein Typ! Sein T-Shirt stellt seine völlig durchtätowierten Arme zur Schau, zwei Ohrringe zieren sein extrem hageres Ge­sicht, blonde nach hinten gekämmte fettige Haarsträhnen verleihen ihm ein ziemlich ver­we­genes Aussehen. Er ist aber die Freundlichkeit in Person. Sie hätten, so sagt er, schon vor ein paar Tagen den Versuch unternommen, den Pass zu überqueren, durch das sonnige Wetter hatten sie gehofft, es heute zu schaffen.
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Zurück in Žabljak
Es bleibt mir versagt, einen Kaffee in einem „urigen“ Lokal trinken zu können, das rus­ti­kal ist, ohne künstlich zu wirken, wie fast alles, was in diesem Ort in letzter Zeit im Na­men des Fortschritts und des Tourismus gebaut wurde. Diese Aussage stimmt zwar nur für ein Dutzend Scheußlichkeiten im Zentrum, aber sie sind Charakter prägend. Viele der kleineren Häuser strahlen glücklicherweise noch einen Hauch von Ur­sprüng­lichkeit und Patina aus.
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Rund um den Ort wachsen indessen die Wochenendhäuser wie Pilze Bild vergrössern aus dem Boden. Mit ihren spitzen Dächern und den holzverkleideten, in allen Nuancen von Grün, Hellblau und Dunkelbraun gestrichenen Fassaden sind sie ein angenehmer Gegenpol zu den „mo­der­nen“ Klötzen im Zentrum des kleinen Ortes. Das Ein­zige, was mich wundert, ist ihre stetig wachsende Zahl. Auch hier, wie in Bosnien, wird gebaut auf Teufel komm raus, ganze Reihenhaussiedlungen im Jägerhüttenstil mit iden­ti­schen farbigen Dächern sind im Bau.
Abendlicher Spaziergang
Abseits von der Vergewaltigung des Ortes durch die öffentlichen Gebäude im Zentrum wie Banken, Hotels und Kaufhäuser, finde ich in den Seitengassen noch ein wenig des alten Flairs. Altmodische Hotels, die der Verwahrlosung überlassen worden sind, kleine Häuser mit holzverschalten Wänden, liebevoll gepflegte Gemüsegärten, Brache. Die kleine Welt von einst also, als die Besitzer der protzigen Geländewagen noch nicht das Sagen hatten. Die Welten, die verschwinden, sind leider die schöneren, der "Fortschritt" ist nur Überbringer von Hässlichkeit.
Dienstag, 26. Mai
Die Tara-Schlucht

Die Tara-Schlucht hat eine Länge von 78 Kilometern und eine Tiefe von bis zu 1300 Me­tern (von den Berggipfeln aus gemessen). Sie ist somit die längste und tiefste Schlucht Europas. 1977 wurde sie als Teil des Durmitor-Nationalparks von der UNESCO in die Welterbeliste aufgenommen. In der Welt soll sie die zweittiefste Schlucht sein, nach dem Gran Canyon, und sie ist tatsächlich beeindruckend, wenn sie auch einen ganz anderen Charakter aufweist als ihre große Schwester in Colorado.

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Die dicht bewachsenen Berge und die steilen Hänge hinunter zum Fluss sind eines kräftigen Dunkelgrüns, blaugrün das Wasser. Wie immer handle ich nach dem Prinzip: Such dir ein schönes Plätzchen, setz dich hin und erlebe. Die große Brücke, die ich von diesem Terrassencafé im Auge habe, ist 150 Meter hoch. Wann man davon absieht, dass mich der Raucherqualm meiner Tisch­nach­barn umhüllt – dass Rauchen ungesund ist, hat sich auf dem Balkan noch nicht he­rum­gesprochen – stört nichts die Idylle.
Von denselben Tischnachbarn erreicht mich ein Geplapper in dieser Sprache, die ich eigentlich per MP3-Player etwas lernen wollte. Ein Gerät, das aber seinen Geist auf­ge­ge­ben hat. Jetzt nützen mir Sprachkenntnisse sowieso kaum noch. Morgen bin ich vielleicht bereits in Albanien. Da weiß ich immerhin bereits, wie man „guten Tag“ sagt: „Mir dita“!
Die Morača-Schlucht
Eine Zeit lang zieht sich die Straße entlang der Morača. In ihrem Oberlauf ist die Morača ein reißender Gebirgsfluss, der zahlreiche beeindruckende Schluchten durchquert. Als ich einmal zum Fotografieren aus dem klimatisierten Auto aussteige, ist es, als würde ich in ein Treibhaus
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eintreten. Der Himmel ist zudem düster, und ein Grollen spricht von ei­nem entfernten Gewitter. Das düstere Wetter erhellt para­do­xer­wei­se meine Laune. Es er­höht die Dramatik der Szene, lässt die Fantasie spielen, gibt der Landschaft einen Hauch von Abenteuerlichkeit, fast von Gefährlichkeit. Kar May lässt grüßen.
Ich fahre weiter gegen Süden. Bald klatschen vereinzelte dicke Tropfen auf die Wind­schutz­scheibe und erzeugen dabei das Geräusch von Hagelkörnern. Bei einem kleinen Restaurant an der Straße nach Podgorica mache ich einen Halt, gerade als es anfängt, in Kannen zu gießen. Ich genieße diese besondere, ganz und gar untouristische At­mo­sphäre.
Mit den beiden paffenden – wie könnte es anders sein? – Herren vom Nebentisch ent­wi­ckelt sich ein unmögliches Gespräch. Gerade kann ich erklären, dass ich Österreicher bin, vom Durmitor komme und dass diese beiden Schluchten wirklich „dobri“ sind. Ich fühle mich mehr in meinem Element als es in einem der Touristencafés in Mostar (oder wo auch immer) war. Cappuccino gibt's leider nicht mehr wegen Stromausfalls.
Merkwürdig: Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, auf der Reise zu sein!
Podgorica
Es musste einmal geschehen: Ich bin in eine Falle getappt. Als ich in Podgorica die Ab­zwei­gung nach Albanien suche, hält mich ein Polizeibeamter an. Korrekt, aber mit stren­ger Miene wirft er mir vor, ich hätte gleich zwei Ordnungswidrigkeiten begangen. Ich hät­te beim Spurenwechsel einen Autofahrer bedrängt und einem Fußgänger auf Ze­bra­strei­fen den Vorrang genommen. Ich versuche mich aus der Affäre zu mogeln, indem ich auf gestressten Touristen mache. Keine Chance! Er müsse meine Daten aufnehmen und morgen müsse ich dann beim "Magistrat" die Strafe zahlen, volle 150 Euro.
Ich bin baff. Muss ich möglicherweise hier übernachten? Er könne kein Geld direkt an­neh­men, sagt er im Ton eines Bedauerns. Aha! Langsam rieche ich den Braten. Sein Kollege – der nirgendwo zu sehen ist – würde ihn kontrollieren. Der Dialog findet müh­sam auf Englisch statt. Er winkt einen Mann in einem Fiat Punto zu sich, schickt ihn weg, steigt ein und bittet mich, das ebenfalls zu tun. Klar! Ich muss ihm ein Angebot machen. Ein paar Mal meint er, das ginge nicht – weshalb sind wir dann in diesem Auto? –, lässt sich schließlich "erweichen". Ich müsse ihm aber versprechen, niemandem etwas davon zu sagen. So erfolgt die befreiende Transaktion und ich bekomme dazu auch noch die Instruktionen, wie ich auf die Ausfahrt nach Albanien komme. So weit, so gut, nur dass mir im Nachhinein der Verdacht kommt, dass die dreißig Euro, die ich losgeworden bin, eine um ein Vielfaches zu hohe Bestechungssumme gewesen sei!