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Freitag, 29. Mai |
Mazedonien |
„Captain Cook“ hat vergeblich versucht, mich zu überzeugen, mit seinem Boottaxi hinüber zur Altstadt zu fahren, denn es ist windig, kalt, ein Wolkenbruch scheint knapp bevorzustehen, und allein der Gedanke, auf dem Wasser von einer Dusche erwischt zu werden, lässt mich erschaudern. Weit hinten auf dem See erzeugen bedrohliche dunkle Wolken ein fantastisches Bild, das um ein vielfaches inspirierender auf mich wirkt als das übliche Ansichtskartenwetter. |
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Aber eines nach dem anderen: Der Grenzübertritt nach Mazedonien verlief problemlos, wenn auch bei strömendem Regen, der wohl keinen meiner Reisetage verschonen will. Aber bereits der Charakter der Landschaft machte mich friedfertig, schien diese doch plötzlich völlig anders, weiter, sanfter, eines hellen Grüns, mit Wiesen und von Klatschmohn besprenkelten Kornfeldern: alles in allem eine Kulturlandschaft, in starkem Kontrast zu den wilden Abgründen und steilen Bergflanken des östlichen Albanien. Und zusammen mit dieser Wildheit war auch das Trostlose der Dörfer und Städte schlagartig verschwunden. Keine von Ruß geschwärzten Wohnblocks aus den 1950ern, kein Eindruck von Schäbigkeit und hoffnungsloser Armut. |
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Und doch verflog dieser Anflug von positiven Gefühlen sehr schnell, als ich am Ufer des Ohrid-Sees entlang fuhr und sich der Regen wie ein mitteleuropäischer Dauerregen an die Landschaft festzukrallen schien. Einen Tiefpunkt erreichte meine Laune bei der verregneten (und teuren) Besichtigung der musealen Rekonstruktion einer Pfalbausiedlung aus der späten Bronze- bzw. frühen Eisenzeit um 1200-600 v. Chr. Bin ich 2000 Kilometer gefahren nur für dieses bisschen Besichtigen? |
Samstag, 30. Mai |
Ohrid |
Ohrid gilt als die Perle unter den mazedonischen Städten. Die gut erhaltene Altstadt, die Festung mit Rundblick, die vielen Kirchen, Klöster und Moscheen sowie der große, Millionen Jahre alte See ziehen Fremde aus der ganzen Welt an. Die UNESCO erklärte 1979 den Ohridsee und ein Jahr darauf die Umgebung des Sees zum UNESCO-Welterbe.
„Am Ufer des landschaftlich überaus reizvollen Ochridsees liegt die Stadt Ochrid, die sich amphitheatralisch über einen bis an den See heranreichenden Hügel erstreckt. Hoch über den wie Schwalbennester an den Steinhang klebenden Häusern thront die alte Festung des Zaren Samuil. Wenn man durch das bezaubernde Winkelwerk der Gäßchen wandert, sprechen rissiges Mauerwerk, bloßgelegte Backsteinziegel und Holzsparren, die hochstrebender, uralter wilder Wein und schwerhängende Glyzinien schamhaft zu überdecken scheinen, eine beredte Sprache von dem einstigen, seltenen Patrizierreichtum. Bis zu vier Stockwerken streben die Häuser in die Höhe, zusammengedrängt auf einen möglichst kleinen Platz, so daß man sich von den Balkons und den Emporen unschwer die Hände zu reichen imstande war.“ |
George und sein Wassertaxi |
Es ist Zeit, dass ich erläutere, weshalb ich überhaupt diese zweitausend Kilometer lange Strecke von München bis hierher gefahren bin. Warum habe ich mir das angetan?
Es mag merkwürdig klingen, aber die Idee zu dieser Reise kam mir durch einige alte Fotos, die mein Vater, der in den 1940er Jahren umfangreiche Reisen in den Balkan unternommen hatte (er war Bildberichterstatter der "Wiener Illustrierten"), damals geschossen hatte.
Mir war selbstverständlich klar, dass er eine Welt fotografiert hatte, die ich nicht erwarten konnte, wiederzufinden. Als ich aber in das Wassertaxi von „Captain Cook“ (eigentlich Alexander) einsteige, kurz darauf vom See aus auf den Ort blicke und dabei dieselbe Aussicht eines von Vaters Bildern erlebe, überkommt mich augenblicklich eine so starke Rührung, dass ich die Tränen nur mit Mühe zurückhalten kann. |
Der kurze Beschreibungstext von weiter oben stammt übrigens von einem Artikel meines Vaters in der Wiener Illustrierten. |
Alexander erweist sich als sehr gesprächig, was für mich eine gute Gelegenheit ist, das Leben im Lande aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ich höre ihm gespannt zu.
Er habe viele Jahre in einer Fabrik gearbeitet, aus der er, weil er zu viel redete – in anderen Worten, seine Chefs zu sehr kritisierte –, mit einer Abfindung von umgerechnet 2000 DM rausflog. Das war 2003. Mit diesem Geld habe er dieses Boot gekauft, und seitdem schippere er tagein und tagaus die Touristen entlang der Küste dieser wunderbaren Stadt. Freilich fiele es ihm schon seit Langem schwer, immer wieder dieselbe Strecke zu fahren und dieselben Sachen zu erzählen.
Er ist einer der Vielen, mit denen ich gesprochen habe, die den Zeiten des Sozialismus nachtrauern. Es hätte früher Arbeit für alle gegeben, weniger Kriminalität und soziale Sicherheit. Alexander wiederholt mir das Gleiche, was ich in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks gehört hatte: Wie die Machthaber von damals bei der Privatisierung das Allgemeingut in ihren Besitz nahmen. Kriminelle seien es gewesen, ohne Ausnahmen! |
Nikola |
Als ich vom grellen Licht des Hauptplatzes ins Café eintrete und meine Augen gerade versuchen, sich an die rauchgeschwängerte Dunkelheit zu gewöhnen, donnert mir von einem Tisch in der Ecke eine Stimme entgegen, die mich fragt, woher ich komme. Als ich "Deutschland" antworte, kommt wie aus dem Maschinengewehr geschossen die Antwort: "Heil Hitler!", "Sieg Heil!" Es dauert nicht lange und ich sitze mit einigen Männern und deren Frauen an einem Tisch und werde auf ein Bier eingeladen. |
Nikola, so heißt der Mann, hat etwas von Bud Spencer in seinem Erscheinungsbild und eine Stimme wie eine Mischung aus Kreissäge und Donner. Er spricht ein einfaches Englisch mit einem derart rollenden "R", dass bei manchen Wörtern mein Brustkorb fast in Resonanz tritt. Nach wenigen Sätzen bin ich bereits sein "Brrrotherrr", und er verleiht jeder seiner Behauptungen Autorität, indem er mich fest am Oberarm packt oder mehrmals auf die Schulter klopft. Er entschuldigt sich zwar für seinen ersten Satz, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm genommen hat oder nicht. |
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Ich erhalte einen Schnellkurs in Geschichte. Danach seien die drei größten Männer der Weltgeschichte Alexander der Große (war der denn nicht aus Mazedonien?), Stalin und eben Hitler. Als ich frage, was denn Hitler und Alexander gemeinsam hatten, so nennt er mir drei Fakten: Zum einen, behauptet er und streckt dabei den Arm zum Hitlergruß aus, hätten sie die gleiche Art zu grüßen, zum Zweiten sei das Hakenkreuz auch das Symbol von Alexander gewesen, nur entgegen dem Uhrzeigersinn, und zum Dritten hatte Hitler die gleiche Militärstrategie wie der illustre Mazedonier. |
Seine Deutschlandliebe ("my brothers") sei auf seine Familiengeschichte zurückzuführen, als ein deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg seinem Großvater das Leben rettete. Nach dem Krieg kam dieser deutscher Soldat nach Ohrid zu Besuch und wurde von seinem Großvater wie ein Sohn aufgenommen. Als ich versuche, das Bild Deutschlands etwas vom Nationalsozialismus zu trennen und von der derzeitigen Kanzlerin spreche, hat er auch für sie nur begeisterte Worte: "A good friend of Macedonia, a grrrreat woman!". Als ich erwähne, dass mein Vater während des Krieges hier in Ohrid war und ich letztlich auf seinen Spuren unterwegs bin, will seine Begeisterung kein Ende nehmen. Er übersetzt die Geschichte an alle Anwesenden und nimmt anschließend meine Hand fest zwischen seinen Händen und führt sie zum Herz! "My brrotherrrr!" |
Kurz bevor ich mich verabschiede, offenbart mir Nikola, dass ihm, als er mich noch vor unserem Treffen auf der Straße gesehen hatte, augenblicklich ein Gedanke durch den Kopf schoss: "Adolf Hitler!" Nur schade, dass ich aus Diskretionsgründen ein Foto dieses exzentrischen Menschen nicht auf diesen Seiten veröffentlichen möchte. |
Kurz bevor ich mich verabschiede, vertraut mir Nikola noch an, dass er, unmittelbar als er mich auf der Straße vorbei gehen sah, sofort den Gedanken hatte: "Adolf Hitler!" Nur schade, dass ich aus Diskretionsgründen ein Foto dieses exzentrischen Menschen nicht auf diesen Seiten veröffentlichen kann. |
Abschiedsspaziergang |
Während ich an diesem Samstagabend am Kai Marschall Tito leicht fröstelnd (12° C) zurück ins Hotel schlendere, gerät mir der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase. Der abnehmende Mond schaut wie in einem Märchen auf den nächtlich schwarzen See hinunter und es ist mir merkwürdig ums Herz. Und noch seltsamer ist der Gedanke, dass vor mehr als sechzig Jahren mein Vater diese Stadt sah, aber es diese Promenade am See noch nicht gab, nicht die Cafés, Bars, Restaurants und die Touristen. Es war noch eine andere unverwechselbare Welt. Und dass diese Welt verschwunden ist, die damals hier lebenden Menschen ebenso, das erzeugt ein noch merkwürdiges Gefühl. |
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