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Sonntag, 31. Mai |
Ernüchterung |
Was für ein Wetter! Voller Tatendrang packe ich meine vier Sachen und fahre los. Von dem Touristentrubel etwas gesättigt peile ich den Nationalpark Pelister an. Die Landschaft, durch die ich fahre, hat sich gewandelt. Dicht bewaldete Hügel mit Buchen, Kastanien, Eichen und Linden wechseln sich ab mit weiten, fruchtbaren Tälern, die Züge einer idealen Landschaft aufweisen mit Obstbäumen und bebauten Feldern: dies alles in einem wunderbaren zarten Frühlingsgrün. |
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Nach meiner Erfahrung mit dem Nationalpark in Bosnien (nur ein einziges, völlig ausgebuchtes Hotel, und das an einer hässlichen Ecke an der Hauptstraße) sind meine Erwartungen nicht überzogen. In der Tat kommt es auch nicht anders: Das einzige Hotel ist nicht nur der übliche pseudomoderne Klotz, es ist auch vollbesetzt – schließlich ist es Sonntag – und das Restaurant ist äußerst ungemütlich. Ein kleiner Spaziergang führt mich in den Wald, auf einen steilen Pfad, von dem ich nach kurzer Zeit aber wieder ablasse: In einem dunklen Wald bergauf zu hatschen, das kann ich auch zu Hause! |
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Also nichts wie weiter! Weil ich aber nicht so leicht aufgebe – und hungrig bin – zweige ich in ein Nebental ab, das sehr einladend wirkt. Eine weite, einsame Landschaft inmitten der Stille! Am Ende des Tals ein Hoffnungsschimmer: ein Schild "Ресторан" (Restaurant)! Ich sehe mich schon am Ziel. Es liegt mitten in einer Bungalowanlage mit kleinen Holzbaracken, die zumindest Abgeschiedenheit zu bieten scheint. Welcher Trugschluss! Ich brauche nur eine Ecke weiter zu gehen, um in ein Lager mit 24 (vierundzwanzig) Wohnwägen zu geraten. Und was ich als besonders bedrohlich empfinde: mit niederländischen Kennzeichen! Von einem gedeckten Klapptisch grüßen mich freundlich zwei ältere Damen, die ihre von Zuhause mitgebrachten Lebensmittel verzehren. |
Nun habe ich selbstverständlich nichts gegen dieses tolerante, freundliche Volk aus unserem regenreichen Nachbarland. Ein einzelner Wohnmobilreisender so weit weg von allem hätte mir sogar einen Hauch von Bewunderung entlockt, aber aufgepasst: Es handelt sich in diesem Fall um eine o r g a n i s i e r t e Wohnwagen-Gruppenreise! |
Das ist zu viel für mich! So eine Ballung spießiger Kleinbürgerlichkeit ist nur schwer zu ertragen. Als würde es zur Situation passen, ist das gesuchte Restaurant ein riesiger unpersönlicher dunkler Raum mit mindesten fünfzig Tischen und dem Charme einer Bahnhofgaststätte. So schnell bin ich noch nie von einem Ort geflohen. |
Schließlich lande ich im kleinen, unscheinbaren aber sympathischen Dorf Нижеполе (Nižepole). Von meinem Tisch im Freien ist der Blick frei auf einen Basketballplatz, wo ein paar junge Männer gerade spielen. In der Ferne die diesige Landschaft der Baba-Berge. Zu essen gibt es zwar nur ein dickes сендвич (Sandwich) mit Кашкавал (Kaschkawal), einem typischen Schafsmilchkäse des Balkans. |
Orientalische Klänge aus dem Radio und eine ruhige Sonntag-auf-dem-Dorf-Atmosphäre vor meinen Augen lassen mich pudelwohl fühlen. Es fehlte nur noch eine gastfreundliche balkanische Großfamilie, die mich zu sich nach Hause einladen würde, und mein Glück wäre unübertroffen. Zu Vaters Zeiten war ein Reisender noch etwas Besonderes, man fühlte sich beehrt, ihn als Gast zu haben. Tempi passati! Ich begnüge mich mit der Ausstrahlung des Ortes! Das Wiehern eines Fohlen, das am Straßenrand grast, und ein пиво (Pivo = Bier) bringen wieder Leichtigkeit in meine Gedanken. |
Heraklea (Хераклея) |
Mein nächster Versuch gilt der Kultur. Wenige Kilometer von Bitola entfernt liegt die Ausgrabungsstätte von Heraklea Lynkestis, der antiken Stadt, die von Philipp II., dem Vater von Alexander dem Großen gegründet wurde. Später, als sie dem Römischen Reich einverleibt wurde, entwickelte sie eine Hochkultur, die bis ins fünfte Jahrhundert anhielt. |
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Große Teile der freigelegten antiken Heraklea können heute besichtigt werden. Zahlreiche Objekte aus der Zeit des makedonischen Königreiches sowie aus jener der römischen Herrschaft (Denkmäler, eine Säulenhalle, Thermen, ein Theater und Reste der Stadtmauern) zeigen sich dem Besucher. |
Für einen Laien wie mich ist die Ausgrabungsstelle ziemlich ernüchternd. Ich versuche, den Hauch der Geschichte zu spüren, es will mir aber partout nicht gelingen: Zu klein ist die Anlage, zu sehr bleiben immer Baubaracken, Zelte, Strommaste und die Häuser im Hintergrund im Blickfeld. Nicht zu sprechen von den Touristenscharen. Und doch, als ich im kleinen Museum ein Exponat entdecke, der aus Teilstücken einer Vase aus blauem Glas besteht, bin ich baff. Ich dachte, das Glas sei erst viel später erfunden worden. |
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Das Missverständnis ist darauf zurückzuführen, dass ich an Fensterglas dachte. In der Tat bestand nördlich der Alpen bis ins Mittelalter die Füllung der Fensteröffnungen noch nicht aus Glas, sondern meistens aus Pergament oder Leinenstoff (die Römer benutzten Glasfenster hingegen bereits seit dem 1. Jh. v. Chr.). |
Und etwas später, als das Nachmittagslicht etwas schmeichelnder geworden ist und die Besuchergruppe fast verschwunden, gelingt es mir für wenige Augenblicke den Geist des Ortes zu spüren. Auch die Faszination, die von den gut erhaltenen spätantiken Mosaiken ausgeht, trägt dazu bei. |
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Die Zeit |
Zum ersten Mal ist mir, endgültig von jeglicher Illusion befreit, völlig ins Bewusstsein gekommen, dass von der Zeit, in der mein Vater diese Gegend durchkreuzte, also jener vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so gut wie nichts übrig geblieben ist, außer diese wunderbare, immer noch ursprüngliche Landschaft. Die Hotels, in denen ich übernachte, gab es damals noch nicht. Von den bäuerlichen würfelförmigen Häusern mit flachem Spitzdach gibt es nur noch wenige Exemplare, denn die traditionelle Bauweise hat einem 08/15-Stil Platz gemacht, der gar nichts Typisches mehr hat, abgesehen von der im Balkan überall verbreiteten Angewohnheit, jedes Häuschen mit Säulen, Säulchen und allerlei Kitsch zu einem Schlösschen gestalten zu wollen. |
Damals gab es auf dem Lande kaum Autos, keine Traktoren, man lebte mit den Haustieren wie in den Jahrhunderten davor! Ein alter Mann auf einem von einem Esel gezogenen Karren ist heute die Ausnahme, die bald auch verschwunden sein wird. Die traditionelle Tracht, die vor die Machtergreifung der Kommunisten auf dem Land gang und gäbe war, ist völlig verschwunden aus den Ortsbildern. Ein Fotoapparat war 1942 ein Wunder, eine Ehre abgelichtet zu werden, heute werden die fotografierenden Touristen, die meinen, unbedingt „das bunte Treiben“ auf einem Markt festhalten zu wollen, eher als Belästigung angesehen. |
Im Hotel Kristal Palas in Prilep (Прилеп) |
Ich sitze im Restaurant des Viersternehotels Кристал Палас und werde von einer unangenehmen Stimme mit einem noch unangenehmeren amerikanischen Akzent aus der Ferne dauerbeschallt. Der füllige Mann sitzt an einem Tisch am anderen Ende dieses absolut nüchternen und unpersönlichen Raumes und redet ununterbrochen und auf eine belehrende Art den jungen Mazedonier ein, der ihm gegenüber sitzt. Dieser kommt kein einziges Mal zu Wort. |
Am Nebentisch sitzt hingegen ein sympathischer junger Deutscher, ein Geologe, der für einige Wochen hier tätig ist. Dieses Gebiet gehöre, so erläutert er mir, eigentlich zu Afrika. Es sei ein Mikrokontinent, dass sich vor Millionen Jahren vom afrikanischen Kontinent abspaltete. Mazedonien liege nämlich in einer seismologisch äußerst aktiven Region
zwischen der Eurasischen und der Afrikanischen Platte. Zur Erinnerung: Am 26. Juli 1963 erschütterte ein Erdbeben der Magnitude 6,0 die Region um Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens. Nahezu die ganze Altstadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch öffentliche Gebäude, Schulen und Krankenhäuser erlitten schwere Schäden. Etwa 75 % der Bevölkerung verlor binnen Sekunden ihre Unterkunft. Nur 20 % der Gebäude blieben frei von starken Schäden. |
Ein Stockwerk höher findet gerade eine Hochzeitsfeier statt. Als ich die Treppen hinaufgehe, sehe ich durch eine offene Tür, wie eine Riege junger Leute in einem großen Kreis beim Klang orientalischer Musik tanzt. Ich gäbe ein Königreich, um daran teilnehmen zu können! |
Montag, 1. Juni |
Demir Kapija (Демир Капија) |
Es ist ein ganz schmaler Grat, der die Unlust von jenem merkwürdigen Gefühl trennt, das nur schwer zu beschreien ist, weil es hundert Facetten haben kann: Neugierde, Tatendrang, Begeisterung, Faszination, Überschwang, Hochspannung, Erregung, Erwartung, Euphorie, ... |
Gerade noch war ich auf der Schnellstraße nach Gevgelija (Гевгелија) unterwegs, ein langweiliger grauer Himmel über mir und der sterile makellose Asphalt vor mir, der mir zum verhassten Symbol von Schnelligkeit und Nicht-in-Kontakt-sein geworden ist. Kaum habe ich aber die Abzweigung nach Demir Kapija (vom Türkischen Demir Kapı, Eisernes Tor) genommen, schon spüre ich wieder dieses innere Aufatmen, diese aufflammende Neugier. Das völlig unscheinbare Dorf strahlt eine gemütliche Ländlichkeit aus, mit kleinen Läden, geringem Verkehr, einer von Linden und Ahornen gesäumten Straße und Menschen, die gemütlich vor den Cafés sitzen, vorbeiradeln oder mit dem Moped hin und her flitzen. Sporadisch tuckert auch ein alter Traktor die Straße entlang. |
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Das Grau des Himmels wird vom bedrohlich wirkenden Sausen des Windes in den Blattkronen der Bäume begleitet. Und dies verleiht dem Ort und dem Augenblick eine Aura des Geheimnisvollen. |
Etwas später sitze ich in einem Restaurant (Pесторан) an der Hauptstraße und zeige dem Kellner meinen Reiseführer mit einem Foto des Eisernen Tores. Sein Englisch lässt zu wünschen übrig, so holt er seinen Chef zur Hilfe. Dieser spricht allerdings überhaupt kein Wort Englisch, dafür aber drei – oder sind es vier? – Wörter Deutsch. Angel, so heißt er, sieht aus wie der freundliche Räuber Hotzenplotz und erklärt sich sofort bereit, mich zur Stelle zu begleiten und mir alles zu erklären. Und bevor ich widersprechen kann, sitzen wir bereits in seinem Auto und fahren zum Eisernen Tor. |
Das Eiserne Tor |
Wir fahren durch den Ort und dann zunächst einer asphaltierten Straße entlang, die sich nach einem knappen Kilometer in eine Schotterpiste verwandelt, die parallel zu den Eisenbahnschienen und dem Fluss Varda verläuft. Diese von Deutschen zu einer Heerstraße ausgebaute Straße ist heute fast zu einem Feldweg verkommen, auf dem man Eselswagen begegnen kann. Urplötzlich, wie aus dem Nichts erscheinend, erheben sich rechts und links von Straße und Fluss steile Felswände, die bis unmittelbar an den Wasserlauf heranrücken. Schlagartig ist dieses unbeschreibliche Gefühl bei mir wieder da, das ich als Kind hatte, als ich eine neue "Entdeckung" machte – eine Ahnung von Abenteuer! An der schmalsten Stelle der Schlucht, am sogenannten Eisentor, da scheiterten in fernen Jahrhunderten so manche Invasoren. |
Plötzlich stehen wir vor einem steilen Felsen, durch den ein Tunnel führt. Dieser soll von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gebaut worden sein, als Ersatz für den schmäleren Tunnel, den der deutsche Kaiser Wilhelm II. bereits während des Ersten Weltkrieges hier bauen ließ. Der Hauch des Windes und jener der Geschichte kriechen mir in den Nacken und lassen mich erschaudern. |
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Angel macht mich auf eine Inschrift aufmerksam, die in großen Lettern in den Fels gemeißelt ist: „Wilhelm II., deutscher Kaiser, König von Preußen, befahl seinen Soldaten, diese Straße zu bauen. 1916“. Unterhalb der Inschrift der kleinere Tunnel, der heute mit einer Tür verschlossen ist und als Lager dient. Wie Aladin in Tausendundeine Nacht öffnet Angel mir dieses Tor und lässt mich in die etwas unheimlich wirkende Dunkelheit des Tunnels eintreten. Geritzt in Stein ist an einer Wand zu lesen, dass der Tunnel in nur zwei Monaten durchbohrt worden ist. Leider bleibt vieles von dem, was er mir erklären will, wegen der Sprachschwierigkeit auf der Strecke. |
Angel erzählt, dass an dieser Stelle die türkischen Heere eingedrungen sind, als sie sich aufmachten, den Balkan zu erobern. Was indessen in keinem Reiseführer zu lesen ist: Unten im Fluss soll eine Lokomotive liegen, die man im Juli, wenn der Wasserpegel der Vardar niedriger ist, sogar sehen könne. Es sei ein Zug der Deutschen Wehrmacht gewesen, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von bulgarischen Flugzeugen bombardiert worden sei. Bulgarien, das zunächst ein Alliierter Deutschlands gewesen war, schlug sich dann auf die Seite der Alliierten. Des Weiteren erzählt Angel vom geheimnisvollen Gold, das General Rommel auf der Flucht aus Afrika in diesen Bergen irgendwo versteckt haben soll. |
Zurück im Ort besteht Angel darauf, dass ich mit ihm und seinen Freunden noch ein Bier trinke, was meine Hypothese der verloren gegangenen Gastfreundlichkeit Lüge straft. Ich fühle mich beschämt. |
Am Dojransko ezero (Дојранско Езеро) |
Im Café Restaurant Pascalin (im Ort Dojran am gleichnamigen See) ist die Speisekarte nur noch auf Kyrillisch und der Kellner beherrscht gerade drei Wörter Deutsch und fünf Englisch. Jedes mal, wenn er den Eindruck hat, ich wolle etwas bestellen, kommt er an meinen Tisch und plappert etwas Unverständliches vor sich hin. Ich überlasse also mein Abendessen dem Zufall: Es wir gebratener Fisch! Drüben, auf dem anderen Ufa des Dojransees leuchten die Lichter eines Ortes in Griechenland. Am Seeufer quaken Hunderte von Fröschen, was mich an Balatonalmadi in Ungarn erinnert. Nur dass dieser Ort einen viel armseligen Eindruck auf mich macht. |
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