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Dienstag, 2. Juni |
Letztes Frühstück in Mazedonien |
Ich schütte gleich mehrere Beutel Zucker in meinen Cappuccino. Schließlich muss ich ja meinen Kalorienbedarf irgendwie decken. Denn zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in einem Hotel – Makedonjia heißt es, und ist gar nicht so übel – untergekommen, in dem kein Frühstück geboten wird. Möglicherweise liegt es an der Vorsaison. Der ganze Ort glänzt noch durch gespenstische Leere. |
Ich frage mich, was für eine Art Klima in dieser Gegend vorherrscht. Mediterran, kontinental? So vielseitig ist die Vegetation: Linden, Kastanien, Walnussbäume, Zypressen, Platane und Feigenbäume Seite an Seite. |
Griechenland |
Es sind die Details, die es ausmachen: Auch hier ein verschlafener winziger Ort, der aber im Vergleich zu den anderen balkanischen Ländern sauber und geordnet aussieht. Ich sitze an einem der wenigen Tischen eines Restaurants, das eine typische, unverwechselbare griechische Aura ausstrahlt. Spatzen picken Brotkrümel auf, der Inhaber summt leise vor sich hin, während er seine Pflanzen gießt. Die Stühle haben aus Stroh geflochtene Sitzflächen, manche von ihnen sind in einem leuchtenden Meeresblau gestrichen. Der rankende wilde Wein auf der Laube spendet Schatten, und aus diesem Schatten blickt man ins gleißende Licht der stillen Straße. Unscheinbar und still ist der Ort, die sommerliche Mittagshitze erzwingt langsamkeit, obwohl die große Hitze gerade erst beginnt. Umstieg auf Retsina, Pivo ade! Ich bin erst seit wenigen Stunden in Griechenland, aber ich kann mich bereits hineindenken in ein wiederholtes Sitzen im Schatten, Nichtstun, diesen geharzten Wein trinken und seelisch auf Gelassenheit umschalten.
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Evcharisto |
Ich bedanke mich auf Griechisch beim Wirt, aber es wäre gar nicht nötig. Er spricht ein leidliches Deutsch mit Pfaffenhofener Akzent. Sirtaki-Musik klingt aus dem Radio; am Strand sitzen ein paar mutige in Badehose bzw. Bikini. Das Meer ist zwar leicht bewegt und das Wasser vermutlich noch kühl, aber Deutsche sind hart im Nehmen. Stammgäste, meint der Wirt. Am Wochenende sollen es 36 Grad werden! Was mich hierher verschlagen hat? Was? Einzig und allein das Städtchen Kavala? Als ich ihm von meiner Spurensuche erzähle, ist er leicht verwundert. Ich komme gar nicht zum Baden? Kavala vor fünfzig Jahren? Da war es sicher noch ein Dorf, sagt er. |
Kavala |
Der Stoff, aus dem Kriege sind: Als ich erwähne, dass ich aus Mazedonien käme, lächelt der freundliche, sympathische Kellner zwar charmant, aber nein, sagt er, nicht aus Mazedonien, ich sei jetzt in Mazedonien. Was für ein Fauxpas! Ich hätte sagen sollen, ich käme aus der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien.
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In ihrem kindischen Prinzipienstreit um den Namen Mazedonien, lassen die Griechen nicht mit sich reden. Der Kellner meint, Griechenland fühle sich um seine Geschichte betrogen. Ich kenne mich zwar zu diesem Thema nicht aus, aber es leuchtet ein, dass Alexander der Große kein Slawe war und somit die Republik Mazedonien keinerlei Anspruch auf ihn erheben kann, selbst wenn der große Eroberer aus einer Stadt stammt, die geographisch auf dem heutigen Territorium der genannten Republik liegt. |
Offiziell heißt Mazedonien „FYROM“, was für „Former Yugoslavian Republic of Macedonia“ (Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien) steht. Eine Anerkennung ohne das erniedrigende Präfix verhindert Griechenland, da eine nordgriechische Provinz ebenfalls Mazedonien heißt, wenn auch erst seit 1988. |
Der Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland dauert nun schon Jahre an, und Griechenland hindert Mazedoniens Vorankommen in internationalen Organisationen.
Die Politiker in der Hauptstadt Mazedoniens, Skopje, verlangen, dass Athen seine mazedonische Minderheit anerkennt und nicht weiterhin von slawophonen Griechen spricht. Offiziell gibt es keine ethnischen Minderheiten in Griechenland, slawophone schon gar nicht. |
Ja, ich habe die Stellen gefunden, von dennen mein Vater Kavala fotografiert hat. Zwar konnte ich an der Küstenstraße keinen Ochsenkarren aufs Bild bekommen, aber mit ein wenig Abstraktionsvermögen kann der Sprung zurück in die Zeit nachvollzogen werden. |
Beim Vergleichen von dem, was die Bilder meines Vaters eingefangen haben, mit der Realität, wie ich sie heute erlebe, werden mir die ungeheuerlichen Veränderungen, die das zwanzigste Jahrhundert in diesen Teil Europas gebracht hat, überdeutlich. Kavala war ein verschlafenes Provinzstädtchen mit einer bezaubernde Altstadt. Was das „Verschlafene“ betrifft, so hat die Zeit wohl am härtesten zugeschlagen. Was mich gleich bei meiner Ankunft wie eine Keule getroffen hat, das war der überbordende Verkehr. Laut und rücksichtslos hat er die – immer noch
schöne – Stadt in Geiselhaft
einer Unterkunft wurde zur
wie ein Tsunami mitgesogen
ner Stelle zum Anhalten ein
Kaum wagte ich es, etwas
erhob sich ein Hupkonzert.
suchung“ in Griechenland |
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genommen. Die Suche nach
Qual, weil mich der Verkehr
hat, und die Suche nach ei-
Ding der Unmöglichkeit war.
langsamer zu fahren, schon
Dazu kam, dass „Abgasunter-
wohl ein Fremdwort ist. |
Wenn ich auf einem von Vaters Fotos einen zentralen Platz sehe, auf dem ein paar Fußgänger gemütlich über die Straße gehen, dann wird mir bewusst, welche Zerstörung in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg die Massenzerstörungswaffe (Auto genannt) angerichtet hat. Weil aber eine solche Art von „Verschandelung“ von keiner Stadt der Welt mehr wegzudenken ist, bin ich gezwungen, sie gedanklich wegzufiltern. |
Völlig intakt geblieben scheint die Altstadt zu sein. Sie liegt auf einem steilen Hügel auf einer Landzunge direkt gegenüber dem Hafen und ist mit ihren alten Häusern im osmanischen Stil, den verwinkelten Gassen und Treppen äußerst sehenswert. Sie vermittel mit ihren Häusern mit vorkragenden Stockwerken, die die gepflasterten steilen Gassen säumen, sehr an andere Städte im ehemaligen Osmanischen Reich. Die „Krone“ der Altstadt ist die Burg, die 1425 von den Türken erbaut wurde, und von der aus man einen hervorragenden Blick auf die Altstadt, die neuen Stadtteile Kavalas und den Hafen genießen kann. Eine weitere Sehenswürdigkeit ist der Halil-Bey-Komplex, der aus eine Moschee, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einem Minarett aus dem 16. Jahrhundert und einer Medrese (Koranschule) besteht. Letztere wurde in neuerer Zeit in ein Luxushotel umfunktioniert. |
Um diese Altstadt herum sind die alten ein- und zweistöckigen Häuser aus der Zeit von Vaters Besuch längst verschwunden. Die Moderne mit ihren wuchtigen Gebäuden hat Einzug gehalten, und die Ästhetik der traditionellen Architektur hat die Segeln gestrichen gegenüber jener der Neuzeit mit ihrer alleinigen Betonung aufs Funktionale. |
In gewisser Weise ist diese Reise für mich ein Abschied. Ein Abschied von einer Zeit, die für mich eine Sehnsuchtszeit ist, Abschied von einer Welt, die tot und begraben ist, und vielleicht – über die Erinnerung – ein Abschied von meinem Vater. |
Mittwoch, 3.Juni |
In Richtung Bulgarien |
In Richtung Serres ist die Landschaft zwar zunächst platt, durch die Farben der Trockenheit und dem üblichen diesigen Licht zu einem farb- und konturenlosen Brei zerflossen, aber es reichen bereits ein Regenguss, der die Luft etwas reinigt, die stärker werdende Gewitterstimmung und die nähernden Berge, um mich umzustimmen. Ich liebe so eine weite, leicht hügelige Landschaft, mit Bergen, die sich wie eine Fata Morgana in der Ferne ankündigen, während düstere Gewitterwolken fantastische Lichtkontraste erzeugen. |
Ein letztes Stück Griechenland erlebe ich kurz vor der bulgarischen Grenze bei einer rast in einer Taverna direkt an der Straße: bei griechischen Salat – was sonst? – und einem Bier. Dabei tauche ich bereitwillig in einen Zustand ein, in dem ich mich wie ein Mexikaner in einem staubigen Dorf zur Mittagsstunde fühle: Siesta! Die Hitze spüren, aber im Schutz einer Laube. Ab und zu die Augen schließen, und durch die halbgeöffneten Augenlider doch die Szene beobachten, aber vor allem hören: all dieses griechische Geplapper, das von Tisch zu Tisch fliegt, es ist wie ein einlullender Gesang. |
Zum Abschluss die freundliche Geste des Inhabers, auf einem Tellerchen eine Art Strudel, schwer mit Honig getränkt. Ich trinke dazu noch einen türkischen Kaffee – darf man so etwas in Griechenland, dem Land der Dünnhäutigen, überhaupt sagen? – Ich habe mich an seinem eigenartigen Geschmack gewöhnt. Man sollte ihn nur nicht umrühren, sonst knirscht es zwischen den Zähnen. |
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