|
|
|
|
|
|
|
Albanien |
Der Eindruck, wirklich zu „reisen“, setzte sich nach dem mich berauschenden Regenguss an der Morača-Schlucht fort, als ich in Richtung albanischer Grenze fuhr. Die graue Kappe am Himmel war freilich noch vorhanden, aber am Horizont war schon ein leuchtender Streifen zu sehen, der sich im Skutari-See spiegelte und den Bergen das silhouettenhafte, geheimnisvolle Leuchten eines japanisches Aquarell gab. Eine weite Landschaft, die mich an Afrika oder an die Camargue erinnerte. Ich atmete Größe! |
An der Grenze ging alles rasch und ohne Probleme vor sich, und der Grenzpolizist grinste von einem Ohr zum anderen, als ich mich mit „diten e mir“ (auf Wiedersehen) verabschiedete. Die Landschaft, die mich empfing, setzte ihren Charakter von Einsamkeit und Weite fort: Berge, die in der Ferne im Dunst verschwanden, in der Nähe Anbauflächen und eine gelbbraune Brache, die das Gefühl des Weit-Weg-Seins bei mir noch verstärkte. Am Straßenrand sah ich ab und zu wilde Mülldeponien, auf einer Wiese einmal eine einsame, sehr magere Kuh. |
Koplik |
Jetzt sitze ich an der Hauptstraße des winzigen Weilers Koplik, nippe an meinem Tonic Water und beobachte das Treiben vor meinen Augen. Das unscheinbare Kaff erinnert mich entfernt an Indien: nichts außer einer lang gezogenen staubigen Straße mit zahlreichen kleinen Läden und Bars, vor denen Menschen in kleinen Gruppen sitzen und palavern. Was mir als Erstes auffällt, ist die stattliche Anzahl von Autos der Marke Mercedes. Es scheint nahezu einen gesellschaftlichen Zwang zu geben, so ein nobles Gefährt zu besitzen. Und wenn man sich das neueste Luxusmodell nicht leisten kann – es fahren davon überproportional viele an mir vorbei –, so muss man sich mit einem älteren Modell begnügen, gegebenenfalls eine 40 Jahre alte Rostlaube. Was sein muss, muss sein, man ist ja schließlich wer! Zu beobachten, wie sich in diesem staubigen und verwahrlosten Ort ein funkelnagelneuer Mercedes mit einem Pferdefuhrwerk trifft, lässt mich schmunzeln. Ebenso amüsant finde ich es, ein weiteres „Luxusauto“ zu entdecken, der fast bis zur Felge abgefahrene Reifen hat. |
Hotel Misardi |
Wie alt mag Sandro wohl sein? Ende fünfzig? Er ist hier im Hotel der „Zuständige“. Und er meint es ernst. Zuerst versichert er mir immer wieder in seinem brüchigen Italienisch, dass mein Auto im Hinterhof „molto seguro“ sei, dass ich mir keine Sorgen machen solle: „no problema, no problema“. Dann zeigt er mir mein Zimmer, ein ziemlich heruntergekommener, stickiger Raum, der nur durch den Einsatz eines Ventilators erträglich gemacht werden kann: „Dieci Euro, pagare domani, no problema.“ |
|
Zwei Stunden später klopft er an die Tür und begleitet mich, die Hand fest um meinen Oberarm, hinauf ins Restaurant. Er nimmt das Betreuen ernst, zumal ich der einzige Gast im Hause bin. Wir nehmen an einem kleinen runden Tisch auf dem lang gezogenen Balkon Platz, und während ich aufs Essen warte, genehmigt er sich einen Raki. |
Entgegen meinem Naturell, das mich eher dazu bewegen würde, mich allein dem Essen und meinen Gedanken zu widmen, fühle ich mich in seiner Gesellschaft sehr wohl. Eine seltsame Atmosphäre nimmt von mir Besitz. Ich sitze einem völlig Fremden gegenüber. Ein zauberhaftes Mischlicht, das sich aus dem warmen Licht des Innenraums und dem Blau der Kugellampen des Balkons zusammensetzt, gibt der Szene etwas Irreales, während albanische Musik, die ebenso aus der Türkei kommen könnte, mich vollends in den Orient versetzt. |
|
Booking.com
|
|
Was aber dann geschieht, ist das Letzte, was ich in diesem armseligen Ort erwartet hätte. Ich bekomme eine Forelle aufgetischt, die sich Bissen für Bissen als die beste Forelle herausstellt, die ich je gegessen habe. Nicht nur ist ihr Fleisch außergewöhnlich zart und saftig, auch die Würzmischung ist köstlich. Auf einem Bett von gegrillten Tomaten und gebratenen Zucchini gelegen ist der mit Lorbeerblättern gefüllte Fisch ein Gedicht. Der Rotwein, den ich dazu bestellt habe, ist angenehm süffig und die Kartoffeln knackig und saftig zugleich. Es seien Bergforellen, versichert mir Sandro, eigens vom Chef gefischt. Auch das Gemüse, alles aus Albanien. Der gesprächige Mann, der ein paar Jahre in Florenz gearbeitet hat, ist überfürsorglich. Nehme ich mein Taschentuch in die Hand, reicht er mir gleich ein halbes Dutzend Servietten, greife ich nicht oft genug zu den Kartoffeln, fordert er mich mit einer Handbewegung dazu auf. |
Ganz nebenbei bringt mir Sandro ein paar Rudimente der albanischen Sprache bei. Da unsere Unterhaltung auf Italienisch erfolgt, nennt er zunächst ein italienisches Wort und lässt gleich darauf das entsprechende Wort auf Albanisch folgen: Luce (Licht) = „drite”, acqua (Wasser) = „uje“, moglie (Ehefrau) = „grua“, figlio (Sohn) = „bir“, buon giorno (guten Tag) = „mir dita“, buona notte (gute Nacht) = „naten e mire“, Danke = „falenderim“. Er würde lange weitermachen, aber meine Aufnahmefähigkeit ist nach dem Genuss des guten Weines begrenzt. Was mich dabei überrascht, ist, dass, obwohl die albanische Sprache zur indogermanischen Sprachfamilie gehört, dennoch kaum eines der Wörter Gemeinsamkeiten mit den westeuropäischen Sprachen aufzuweisen scheint. Lediglich bei „gute Nacht“ erkenne ich eine gewisse Verwandtschaft. „Nacht“ hat die gleiche Wurzel wie „naten“ und „mir“ bedeutet in den (auch indogermanischen) slawischen Sprachen „Frieden“. Also „friedliche Nacht“. |
Wenn ich ihn so sprechen höre und seine Gesichtszüge beobachte, habe ich die ganze Zeit den Eindruck, ihn von irgendwoher zu kennen. Nach einer Weile fällt es mir dann ein: Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Ron Perlman, der im Film "Der Name der Rose", den Mönch Salvatore spielte, der ein dauerndes Kauderwelsch von Latein und anderen Sprachen von sich gab. |
Er habe zwei Kinder, erzählt Sandro, sein Sohn studiere in Tirana, die Tochter ginge hier im Ort zur Schule. Sie seien Muslime, gesteht er, beeilt sich aber hinzuzufügen, dass das Nebeneinander der Religionen in Albanien sehr friedlich ablaufe. Nur von der Politik sei nicht viel zu erwarten. Um zu verdeutlichen, was er damit meint, macht er eine Handbewegung, als ob er Geld in seine Tasche einstecken würde. |
Mittwoch, 27. Mai |
Unter den Augen des Hotelchefs wagt es Sandro offensichtlich nicht, sich zu mir zu setzen. Er tut auf beschäftigt, indem er gefallene Blätter von den Beeten entfernt. Der Boss ist ein ziemlich korpulenter Mann mit kurzgeschoren Haaren, Stiernacken, Tätowierung auf dem Oberarm und nicht sehr fein wirkenden, aber sympathischen Gesichtszügen, der in kurzen Badehosen und buntem Unterhemd herunterläuft. Er fährt, da bin ich mir ziemlich sicher, einen dicken Geländewagen. |
Das Frühstück, das aus einem starken Kaffee mit viel „shequer“ (Zucker) besteht, nehme ich in einem entzückenden schattigen Gärtchen ein, bei lautem Trillern und Zwitschern von Vögel und leiser Hintergrundmusik, an der man die 400-jährige Türkenherrschaft heraushört. Albanische Musik, versichert mir Sandro. |
|
Richtung Tirana |
Die Farbe Weiß hat wieder den Himmel in Geiselhaft genommen, blendend ergießt sich das Licht über eine Landschaft, die so langweilig ist wie Italiens Po-Ebene, nur viel ärmlicher und trostloser. Mitten in diesem Nichts taucht als einziger Farbtupfer ein Spielplatz auf, der ausschließlich aus aufgeblasenen Hüpfburgen besteht. Am Auffallendsten eine große Rutschbahn in Form einer sinkenden Titanic. Der kostenpflichtige Spielplatz, so erklärt mir in perfektem Italienisch der Betreiber, sei eine neuartige Geschäftsidee, demnächst werde der Spielplatz im nahe liegenden Urlaubsgebiet am See aufgebaut. |
Vor den Scharen von Kindern, die mir „fate foto, fate foto“ entgegen rufen, was auf Italienisch etwa „mach ein Foto“ bedeutet, kann ich mich kaum retten. Es rührt mich zutiefst, nicht nur weil solche Neugier auf den Fremden ein Symbol für Ferne und Armut ist, sondern auch, weil ich mich schlagartig wieder als kleines Kind sehe, als wir im von den Amerikanern besetzten Salzkammergut von den kinderfreundlichen GIs „donuts“ erbettelten. Lang ist es her! |
Durrës |
|
Das Halbdunkle im Hotelzimmer und den Blick aufs Meer genießen, lesen, die Reiseroute für die nächsten Tage festlegen, Eindrücke verarbeiten. |
Abendessen auf der Terrasse direkt am Meer: Das häufigste Geräusch, das man auf dem Balkan in einem Restaurant oder in einer Bar zu hören bekommt? Das Schnappen eines Feuerzeugs! |
Ein wenig Geschichte |
Es ist leicht, sich in Albanien zu verständigen. Italienisch ist, wenigstens in der Gastronomie und in der Tourismusbranche, eine Art Lingua franca. |
Der italienische Einfluss hat eine lange Geschichte. Schon vor der Besetzung Albaniens 1939 hatte Italien einen großen Einfluss aus Albanien ausgeübt, sodass das Königreich Albanien de facto ein italienisches Protektorat war. Dies lag daran, dass der albanische Präsident Ahmet Zogu den Einfluss des Königreiches Jugoslawien in seinem Land begrenzen wollte. So wandte er sich an Italien, welches seit 1922 von dem faschistischen Diktator Benito Mussolini regiert wurde. So schlossen 1925 Rom und Tirana ein geheimes Militärabkommen. Mit den 1926 und 1927 unterzeichneten Tirana-Pakten übernahm Italien de facto den Schutz des Landes nach außen. 1939 folgte, nach einem kurzen Feldzug, die italienische Besetzung des Landes. Von da an wurde Albanien in Personalunion mit dem Königreich Italien verbunden und blieb bis 1943 von italienischen Truppen besetzt. |
1991 (nach der Auflösung der Sozialistischen Volksrepublik Albanien und damit dem Ende der Diktatur des Enver Hoxha) begann ein Massenexodus aus dem 47 Jahre lang völlig abgeschotteten Land nach Italien: Insbesondere junge Albaner sahen in ihrer Heimat keinerlei Perspektive mehr.
Verrottete Lastschiffe, armselige Kutter und brüchige Barkassen transportierten Zigtausende albanische Flüchtlinge über die 75 Kilometer breite Straße von Otranto an die Küste Apuliens. Bis zu 500.000 Albaner verließen seit 1991 ihr Land in Richtung Italien. |
Dann stieg die Arbeitslosenquote in Italien, und Jahre ununterbrochener Rezession veränderten die Lage. Die Zahl der Rückwanderer wuchs. Heute geht es in Albanien wirtschaftlich aufwärts, und es sind die Italiener, die im kleinen Nachbarland ihr Glück versuchen, meistens junge Unternehmer. 19.000 italienische Bürger und mehr als 400 Firmen sind inzwischen nach Albanien übersiedelt. Dieser Wandel in den Beziehungen zwischen den zwei Nachbarländern ist erstaunlich. Niemand hätte sich, zur Zeit als Albanien das Armenhaus des Kontinents war, so etwas vorstellen können. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|