Ein Hindutempel? Eine Moschee? Ein Schloss aus
dem Mittelalter? Ein Schweizer Chalet? Eine altägyptische
Grabstätte? Wild wuchernde, exotische Urlwaldgewächse? Wenn
man vor dem "
Palais Idéal" (vollkommenen
Palast) in
Hauterives (
Drôme) steht, kommt man nicht
aus dem Staunen. Von den Menschen seiner Zeit wurde der Schöpfer
dieses surrealistischen Gebäudes, der Brifträger
Ferdinand
Cheval, verspottet, als verrückt erklärt und als "
Schöpfer
des Unnutzen" gesehen.
Der Besucher von heute hat bereits, selbst wenn er nichts von der tieferen
philosophischen Bedeutung weiß, die Cheval seinem Werk beimaß,
mehr Verständnis dafür und ist von seiner Schönheit zutiefst
beeindruckt.
Ferdinand Chaval, geboren 1836 in
Charmes-sur-l'Hermasse
(
Drôme), wurde im Jahr 1867 Landbriefträger in
Hauterives
und musste als solcher Tag für Tag
bis zu 32 Kilometer zu Fuß bewältigen. Und was konnte
er bei diesem ewigen Gehen in der immer gleich bleibenden
Umgebung tun, außer träumen? Um sich in Gedanken
abzulenken, fing er an, von einem wundersamen Palast zu träumen.
Wenn er auch den Sinn seiner merkwürdigen Visionen nicht immer verstehen
konnte, verfestigte sich bei ihm im Laufe der Zeit die
Absicht, diesen Fantasie-Palast zu bauen. Er notierte mit
Sorgfalt alle seine traumhauften Visionen, zweifelte aber immer
wieder an seiner Absicht, seine Ideen in die Tat umzusetzen. 1879, als
er bereits 43 Jahre alt war, verhalf ihm ein Zufall zur Entscheidung.
Als er wieder einmal beim Briefeaustragen war, stolperte er über
einen Stein
(siehe links oben) und war sofort begeistert von den merkwürdigen Formen,
die die Natur in der Lage ist, hervorzubringen. In seinen
Worten:
"Mein Fuß blieb an einem Stein hängen und ich
wäre fast gefallen: ich wollte wissen, was es war. Es war ein ganz
seltsam geformter Stein, den ich in meine Tasche steckte, um ihn später
in Ruhe zu betrachten. Am nächsten Tag bin ich zur gleichen Stelle
gegangen und habe noch viel schönere Steine gefunden. Ich
habe mir gesagt: Wenn die Natur Formen machen will, werde ich die Maurerarbeiten
und die Architektur machen."
So
nahm Cheval seinen Traum in Angriff. Von diesem Moment an, verspottet
von der ganzen Nachbarschaft, widmete er sich – neben seiner
Arbeit – einzig und allein seinem Werk. Sein 32 km langer Weg, den
er als Briefträger zurücklegen musste, verlängerte
sich allabendlich um etliche Kilometer, als er mit seiner Schubkarre
die Steine abholte, die er tagsüber auf seinem Weg gesammelt
und in kleinen Haufen abgelegt hatte. Nicht selten musste er auch bis
spät in den Abend oder in der Nacht arbeiten. Er wurde Maurer, Architekt
und Steinmetz. So verwirklichte sich dieser Landbriefträger
ohne handwerkliche Ausbildung seinen großen Traum und baute in jahrzehntelanger
Arbeit sein höchst eigenwilliges, unter anderem an orientalische
Tempelarchitekturen erinnerndes
"Palais idéal".
Dieser Palast hatte für Ferdinand Cheval eine größere
Bedeutung, als es in seiner Skurrilität erscheinen
könnte. Mit seiner Rätselhaftigkeit wollte der
einfache Sohn eines Bauers die wunderbare Botschaft der universellen Liebe
vermitteln. Sein Werk zeigt uns das Bild einer vereinigten Welt. Es vereint
die Völker "des guten Willens" und alle Religionen zu einer
gemeinsamen göttlichen Quelle. Ohne sie zu kennen,
war Cheval in der Lage, Hindutempel und arabische Moscheen darzustellen
und die Geheimnisse der sakralen Bauwerke von weit entfernten Kulturen
auszudrücken. Dieses Wunderwerk wurde von Cheval auch als
"Tempel der Natur" bezeichnet.
Die
Bauten des "
Facteur Cheval" galten zunächst,
speziell in Architektenkreisen, als skurril.
Später wurden sie von namhaften Surrealisten sehr geschätzt.
André Breton widmete Cheval ein Huldigungsgedicht.
Im Laufe der Zeit beriefen sich auch andere Außenseiter der
Architektur wie beispielsweise
Friedensreich Hundertwasser
auf den Landbriefträger. Bis in die Mitte der 60er Jahre des vergangenen
Jahrhunderts wurden alle Initiativen, das Werk
des Einzelgängers unter Denkmalschutz zu stellen, immer wieder abgelehnt.
Dass es 1969 dennoch dazu kam, ist einer Initiative des damaligen französischen
Kulturministers
André Malraux zu danken, der den "
Palais Idéal"
als das einzige Beispiel von naiver Kunst in der Architektur betrachtete.
Ferdinand Cheval wollte eigentlich mit seinen Angehörigen
in der Mitte des Palastes begraben werden, weil es aber die
Behörden ablehnten, sah er sich veranlasst, zwischen
1914 und 1922 ein Grabmal im gleichen Stil auf dem Friedhof von Hauterives
zu bauen. Heute werden die Bauten des berühmten Landbriefträgers
von jährlich über hunderttausend Menschen besucht.
Auf dem Gesamten Bauwerk sind auf der Fassade zahlreiche Lehrsätze,
die Cheval selbst erfand oder aus anderen Quellen übernahm, eingemeißelt.
Es sind religiöse Texte oder welche humanitären oder philosophischen
Inhalts:
Von 1982 bis 1992 wurde der "Palais Idéal"
restauriert. Der Bildhauer Pierre Constant folge den Spuren von
Cheval und verwendete die gleichen Materialien wie dieser.