Mittwoch, 17. Dezember
Omnibus nach Buenos Aires
Ich sitze im Bus und blicke auf die Landschaft. Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Jetzt, wo ich wegfahre, zeigt sich mir das Tal „Valle En­can­tado", so wie es sein Name sagt: verzaubert! Verzaubert durch die klare Luft und das sanfte Nachmittagslicht. Es ist das magische, stechend klare Licht Patagoniens, das ich in den letzten Wochen etwas vermisst habe. Die Farben leuch­ten kraftvoller als sonst, die Felsen in der Ferne sind nahezu rot, ihre Konturen messer­scharf.
Piedra del Aguila
Ich würde am Liebsten aussteigen! Als wir ein paar Stunden später den kleinen Ort Piedra del Águila (Provinz Neuquén) erreichen, sind die Schatten bereits lang und die Sonne versucht mit ihrer letz­ten Kraft, mir hier das süße Gift der Sehnsucht einzuimpfen.
Donnerstag, 18. Dezember
Ausklang in Buenos Aires
Neben dem Besorgen der letzten Erledigungen verbringe ich die meiste Zeit in Cafes, ge­nie­ße die kühle Luft der Klimaanlagen, schiele auf die hübschen Mädchen, die vorbeigehen, beobachte mit Sympathie die alten Herren, die bei einem cafesitoLa Nacion“ lesen, und schließe ihre weiblichen Gegen­stücke, die sich wie Eu­ro­pä­erin­nen aus den 1960er Jahre kleiden, mit nos­tal­gi­schen Ge­dan­ken ins Herz.
Der kleine beleuchtete Plastikchristbaum im Restaurant „Resto 1984" am Lezama-Park kann keine Weihnachtsstimmung in mir wecken. Wie könnte er auch? Ein Fernsehkommentator stellt fest: „Fal­tan ho­ras para el verano y ya hacen 30 grados“ (In weni­gen Stunden ist Sommer­an­fang und wir haben bereits 30 Grad). Ich muss schmun­zeln, als ich an die Worte eines Taxi­fahrers denke, der bemerkte, man würde hier zu Weihnachten traditionsgemäß Win­tergerichte essen. Die Bäume zeigen sich bereits in ihrem Som­mer­kleid und die von mir heiß ge­liebten Jacarandás sind längst ver­blüht, ihre Blätter eines dunklen Grüns. Die jungen Mädchen tragen an­lie­gende T-Shirts, die frei­zügig Ausschnitt und Bauch zeigen.
Freitag,19. Dezember
Im Microcentro
Das Stimmengewirr der Fußgängerzone ver­mischt sich mit den Tangoklängen, die aus ei­ni­gen Lä­den zu meinen Ohren dringen. An einer Stra­ßen­ecke spielt eine Band südamerikanische Rhy­th­men. Vor den Musikern, auf dem Boden, steht ein Schild mit der Aufschrift: „Imaginan la vida sin musica?“ (können Sie sich ein Leben ohne Musik vorstellen?).
„Artesanias“: Mate-Becher
Der agente de policia federal mit dem In­dio­ge­sicht und den blaugrauen Augen, der mit Schlag­stock, Pistole und schusssicheren Weste so martialisch wirkt, ist sanft und freund­lich, als er mir eine Frage beantwortet. Ja, sagt mir der Ord­nungs­hüter, diese fliegenden Händler, die auf der ganzen Länge der Calle Flo­rida ihre Tücher aus­ge­breitet haben und ihre Ware darauf ausstellen, sie dürften eigentlich nur artesa­nias (hand­werk­li­che Er­zeug­nis­se) verkaufen aber keine Industrieware, denn Letzteres wäre un­lau­terer Wettbewerb den teueren Läden gegenüber.
Samstag, 20. Dezember
Riesige Stadt
Unzählige sind die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt. Ein Versuch von der ei­nen zur anderen zu Fuß zu gelangen, muss, wenn man vom denen im Mi­cro­centro (der City) absieht, scheitern. Es sind immer mehrere Kilometer zu be­wäl­ti­gen! Mit dem Subte (der U-Bahn), einem Bus oder einem Taxi von einem Viertel zu amderen zu fahren, ist mehr als empfehlenswert.
General-San-Martin-Monument
Beispielsweise bräuchte man von der zentralen Plaza General San Martin etwa eine halbe Stunde, um zur „Floralis Genérica“, einer riesigen Blu­men­skulp­tur aus Stahl und Aluminium zu gelangen.
Kunst im öffentlichen Raum: Floralis Genérica
Die Skulptur stellt eine riesige Metall-Blume dar. Diese über­di­mensionale Blüte öffnet sich bei Son­nen­auf­gang und schließt sich bei Son­nen­un­ter­gang. In der Nacht leuchtet sie.
Eine weitere halbe Stunde bräuchte man zum Carta-Magna-Denkmal im Viertel Palermo. Das „Monumento a La Carta Magna y las Cuatro Regiones Argentinas“, wie es offiziell heißt, wurde 1910 von der spanischen Gemeinde gestiftet, um an den 100. Jahrestag der Mai-Revolution zu erinnern (als sich 1810 Argentinien vom Mut­terland Spanien unabhängig erklärte).
Carta-Magna-Monument
Von hier aus sind es dann nur noch 20 Minuten bis zur nächsten Se­hens­wür­dig­keit, dem Bo­ta­ni­schen Garten von Palermo. Derselbe ist zwar ziemlich klein, dafür überraschen den Be­su­cher zahl­reiche Kunst­werke (33 in der Zahl), darun­ter Skulp­turen, Büs­ten und Monu­mente.
Das Aufwachen der Natur
Jedes Viertel hat ein Gesicht für sich, sei­ne ei­genen Parks, seine Treffpunkte, seinen spe­zi­fi­schen Charakter. Von extrem herunter­ge­kom­me­nen Viertel, wo alle Wände mit Graffiti ver­un­stal­tet sind, geht es bis hin zu ruhigen bür­ger­li­chen Gegenden wie Palermo.
Architektur: einst
Gemeinsam ist allen, dass man in ihnen die un­terschiedlichen Schichten der Stadt­ge­schichte wieder findet: die niedrigen Häuser der Ko­lo­nial­zeit, mit viel Fassa­den­ver­zie­run­gen, die „fran­zö­sische“ Architektur der Jahrhundertwende, ver­einzelte Zuckerbäckerhochhäuser der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die sich dazwi­schen zwängenden Hochhäuser, die jede stilistische Einheit sprengenden modernen Bauten.
Architektur: heute
Sonntag, 21. Dezember
Letztes Mal in San Telmo
Es macht mich melancholisch, an diesem letzten Tag meines Aufenthalts in San Telmo zu sein, dem „Barrio“ der Künstler und der Musik. Wie weit weg sind die weiten, leeren Landschaften und der klare Himmel des Südens. Und wie weit weg ist inzwischen München!
Ich hatte den kleinen Mann in dunklem Anzug und Schlapphut bereits von meiner letzten Reise in Erinnerung. Er stand in der Nähe der Plaza Dorrego in San Telmo, spielte Gitarre und sang. Merk­würdig, dass ich ihn damals kaum wahr­ge­nommen habe! Heute gibt er mir das Ge­fühl, wirklich im In­ner­sten von Buenos Aires an­ge­kommen zu sein. Gardelito spricht das Herz sei­ner Lands­leute an, weil er auf das Gemein­sa­me ihrer Tra­dition zurück­greift, wel­ches sich in den Lie­dern von Carlos Gar­del, dem Grand­seig­neur der argen­tini­schen Chansons, widerspiegelt.
El Gardelito
Er singt und seine Stimme nimmt auch von mir Be­sitz mit ihren rauen, mar­kanten Tönen, die einmal in ein sanftes Flüstern über­gehen, um dann ur­plötz­lich ihre volle Kraft zu er­rei­chen. Es ist eine Musik aus vergangenen Zeiten, die er von sich gibt. Er singt ein Lied, das wohl sehr bekannt sein muss, denn einige der Anwesenden singen mit leiser Stimme mit. Und je mehr er singt, desto mehr macht sich bei mir ein tiefes und er­greifendes Gefühl breit, dass auch ich in Bue­nos Aires zu Hause bin.
Ich bin nicht der Einzige, der ergriffen ist. Auf der anderen Seite der Straße umarmt ein großer grauhaariger Mann seine auffällig stark ge­schmink­te Frau und beide blicken mit einem glück­se­li­gen Lächeln zu Gardelito herüber.
Für mich ist es mehr als das. Es ist die Fest­stel­lung, dass in mir gerade etwas stattfindet, das mich alle Müdigkeit der vergangenen Tagen vergessen lässt. Mich überwältigt für Momente eine Emotion, die ich zwar nicht näher be­schrei­ben kann, die mich aber zu Tränen rührt.
Die Macht der Musik! Es ist nicht die einzige Ecke San Telmos, an der Musik klingt. Hier wird überall das Argentiniertum zelebriert.