Samstag, 6. Dezember
Großzügigkeit
Der Kellner der confiteria auf dem Cerro Campanario begrüßt mich per Handschlag – wie einen al­ten Freund. Ich bestelle Apfelstrudel und cafe con leche, was sonst? Als ich mit einem Zwanzig-Peso-Schein die Rechnung begleichen will, bekomme ich – anstatt der rechnerisch mir zustehen­den drei Pesos – einen Fünf-Peso-Schein zurück. Ihm fehle das Kleingeld, sagt er.
Als ich aus­glei­chen will, kann ich mich des Ein­drucks nicht erwehren, dass plötzlich das Lä­cheln aus seinem Ge­sicht ver­schwin­det. Könnte es sein, dass ich einen Fauxpas be­gangen habe? Hat er dieser kleinen „Ermä­ßi­gung“ die Be­deu­tung eines Gastgeschenks zu­ge­ord­net? Ich bin verdutzt. Mir war bereits mehrmals in Su­per­märk­ten auf­ge­fallen, dass die Kas­sie­re­rin­nen aus­nahmslos zu meinen Gunsten aufrundeten. Eine kleine Lektion in Sache Zivilisation? Ich bin sehr beeindruckt!
In der confiteria auf dem dem Cerro Campanario
Beeindrückend ist von hier oben auch die Aus­sicht. Zu dieser späten Stunde glitzert die Was­ser­oberfläche der vielen Verzweigungen des Nahuel-Huapi-Sees, als sei sie ein Silberschmuck. Ver­dient habe ich mir diese Aussicht al­lerdings nicht, bin ich doch diesmal wieder mit dem Ses­sel­lift hoch­ge­kommen.
Sonntag, 7. Dezember
Nationalpark Nahuel Huapi
Während wir (etwa ein Dutzend Reisende) vom Kleinbus aus die wunderbare Landschaft, die an uns vorbeifliegt, mit den Blicken verfolgen, über­häuft uns unser „guia“ mit Informationen über den nach dem Nahuel-Huapi-See ge­nannten Nationalpark. Es handelt sich um einem der äl­tes­ten argentinischen Nationalparks. Der Park, von hohen Bergen, einer Vielzahl von Seen und ausgedehnten Wäldern geprägt, erstreckt sich auf einer Länge von 130 km entlang der ar­gen­ti­nisch-chilenischen Grenze und hat eine Fläche von etwa 7100 km² (etwa drei Mal so groß wie das Saarland).
Den Grundstein für den 1934 gegründeten Nationalpark bildete am 6. No­vem­ber 1903 die großzügige Spende von Grundstücken durch den ar­gen­ti­nischen Geographen, Anthropologen und Entdecker Francisco Pascasio Moreno (bekannt als Perito Moreno). In zahlreichen Expe­ditio­nen hatte Moreno Patagonien und dessen Flora und Fauna er­forscht. Der Beiname „Perito", der im Spanischen „Sach­ver­stän­diger“ bedeutet, war die Amtsbezeichnung, die er während der Grenz­ver­mes­sung von Chile und Argentinien erhielt.
Einer der zahlreichen Verdienste Morenos lag darin, dass er, nachdem die beiden Nach­bar­län­der am 23. Juli 1881 den Grenz­ver­trag un­ter­zeichnet hat­ten, der die voll­stän­dige ge­mein­sa­me Landgrenze festlegte, auf einen Kniff zurückgriff. Als Richtschnur für die Grenz­ziehung galt u.a. die Was­ser­scheide zwischen Pazifik und Atlantik. Die faktische Demar­ka­tions­linie sollte von einem Schieds­spruch der bri­ti­schen Regierung bestimmt werden. Im Jahr 1898 ließ Moreno deshalb einen Kanal bauen, der den kleinen Rio Fenix in das Fluss­sys­tem des Rio De­se­ado umleitete. Hierdurch verschob sich die Was­ser­schei­de etwas in Richtung Chile. Durch diese Maßnahme erreichte Argentinien den Gewinn etlicher Quadratkilometer.
Der Lago Mascardi
Wir fahren die Strecke, die zum Cerro Tronador, einem 3491 hohen er­lo­schenen Vulkan führt, und die ich vor Jahren bereits in Angriff genommen hat­te, aber wegen einer Autopanne nicht schaffen konnte. Kein Besuch von Bariloche wäre voll­ständig, ohne einen Abstecher zu diesem Berg, der sich an der chilenischen Grenze tief im Nationalpark Nahuel Huapi befindet. Die Einfahrt zum Nationalpark ist etwa 35 km südlich von Bariloche. Von da an geht es auf einer Schot­ter­stra­ße am südlichen Rand des Lago Mascardi ent­lang, vorbei an spektakulären Land­schaf­ten, die den Ein­druck auf mich ma­chen, als seien sie seit Urzeiten völlig unberührt geblieben.
Der Lago Mascardi
Der Lago Mascardi (Mascardi See) wurde nach dem italienischen Jesuiten Nicolás Mascardi (1625 - 1673) genannt, der als erster Europäer (von Chile aus) die Seen des argentinischen Südens er­reichte. Im Jahr 1670 gründete er die Jesuiten-Mission Nuestra Senora de Nahuel Huapi an der Küste des Nahuel-Huapi-Sees. Die Gletscher und Wasserfälle des Cerro Tronador do­minieren die umliegende Landschaft. Besonders interessant ist seine schwar­ze Moräne, der so­genannte Ventis­quero Negro, ein sehr seltenes Na­tur­er­eig­nis. Die abgestürzten Eisbrocken bilden in der Tiefe ei­nen kleinen Gletscher, der „negro“ genannt wird, weil er teils aus Eis und teils aus Erde, Sand und Steinen besteht, und daher eher eine dunkelbraune Farbe hat. Er kalbt in einen ebenfalls schmut­zig-braunen See.
Ventisquero Negro
Unser „guia“ erläutert, dass es im Nationalpark mit Außnahme der Vogelarten nur noch wenige au­tocht­hone Tierarten gibt. Unter diesen befinden sich zwei Hirscharten, der Huemul und der Pu­dú , die beide vom Aus­ster­ben bedroht sind, der Puma, die huiña (Chilenische Waldkatze) und die coma­drejita trompuda (Chilenische Opos­sum­maus), der Zorro Gris (graue Fuchs) und der Zorro Colorado (An­den­schakal).
Magellangänse (Chloephaga picta)
Diese indigenen Arten sind streng geschützt und dürfen nicht gejagt werden. Gegenüber den von den Eu­ro­päern eingeschleppten Tier­ar­ten sind sie beson­ders verwundbarer, weil bis zur Ankunft der letz­teren die Konkurrenz um Nahrung und Le­bens­raum nicht sehr groß war.
Die Mehrheit der größeren Wildtiere im Natio­nal­park besteht heute aus an­ge­siedelten Tieren. Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Rot­hir­sche, Damhirsche, Axishirsche, Wild­schwei­ne und Hasen zu Jagd­zwe­cken angesiedelt. Sie konnten sich der neuen Umwelt gut anpassen und vermehrten sich manchmal sogar zu schnell, so dass einige von ihnen (beispielsweise das Rotwild) in den 1950er Jahren zur Plage erklärt wurden.
Innerhalb des Parks findet man auch einige kleine landwirtschaftliche Betriebe (chacras) mit ge­rin­gem Bestand an Rindern oder Schafen. Es han­delt sich dabei aber ausschließlich um Be­trie­be, die es vor der Gründung des Na­tio­nal­parks be­reits gab.
Der Tronador
Wenn ich an den heutigen Tag zurückdenke, weiß ich nicht, ob ich schmunzeln, laut auflachen, wei­nen, intensiv nachdenken, lesen, oder nur aus­spannen soll und in die vornehme Einsamkeit dieses Ho­tels eintauchen. Wenn ich aus dem Fenster blicke, erhebt sich der Tronador, dieser höchste Berg Patagoniens, majestätisch vor mei;­nen Augen, wie der Thron eines Kö­nigs.
Interessanterweise ist der Ursprung seines Na­mens nicht auf „Thron“ zurückzuführen, son­dern auf das Don­nern (tronar), der Eismassen des Gletschers, wenn sie sich ablösen und die vertikale, tausend Meter hohe Wand herab­stürzen.
Hosteria Pampa Linda
Ich „diniere“ in der dünnen Luft eines rus­ti­kal-an­heim­elnden Am­bientes, in dem nur wenig Tische besetzt sind. Das Essen ist auffällig schlecht: Das „Gulasch mit Spätzle“ ist nur genießbar, wenn ich es reichlich mit den mitservierten Par­me­san­kä­se (!) be­streue!
Hosteria Pampa Linda
Nur zwei von einer langen Wan­derung zu;­rück;­ge;­kehrte Nord­ame­ri­kanerinnen, ein ver­lieb­tes holländisches Pärchen und ein schwer ein­zu­ord­nen­den Wiener in Be­glei­tung zweier jün­gerer Spanisch sprechender Mäd­chen leisten mir, zu­min­dest in Gedanken, Ge­sell­schaft.
Rückblick auf den Tag
Auf eine organisierte Tour angewiesen zu sein, gefällt mir ganz und gar nicht: Man ist in den heißesten Stunden und beim unangenehmsten, grellsten Licht un­ter­wegs, macht ausnahmslos an jenen Stellen Halt, die von der Rei­se­pla­nung „vorgesehen“ sind, und rast erbarmungslos an jenen Stellen vorbei, die man selbst interessant findet. Aber die Erinnerung an meinen ersten, gescheiterten, Versuch, auf abenteuerlicher, schlag­loch­rei­cher Schotterstraße mit dem ei­genen Auto in Richtung Tronador zu fahren, ist bei mir noch allzu wach. Es endete damals mit einem fünfstündigen Warten auf einen Ab­schlepp­wagen!

BUCHEMPFEHLUNG
PATAGONIEN - 160 Seiten Bildband Über 240 Bilder zeigen Patagonien in seiner ganzen Vielfalt. Sechs Specials berichten über Kap Hoorn - das stürmischste Eck der Welt, die Nationalparks, die gewaltigen Gletscher, den Mythos Patagonien, die einzigartige Tierwelt und die Geschichte der Entdeckung.

Deshalb habe ich mich auf eine Kom­pro­miss­lö­sung eingelassen. Weil es in dieser Jah­res­zeit noch keine reguläre Busverbindung nach Pampa Linda gibt, arran­gier­te ich es, an einem Tag per organisierte Fahrt hierher zu kom­men, mich dann von der Gruppe trennen, um hier zu über­nach­ten. Erst am da­rauf folgenden Tag wür­de ich mit einer anderen Tour wie­der zurück nach Bariloche fahren.
Der Gedanke an einen Ta­ges­ausklang in der Ein­samkeit und der Ruhe von Pampa Linda be­geis­tert mich! Eine Ruhe, wohlgemerkt, die man hier nur in dieser frühen Jahreszeit genießen kann, denn in der Hochsaison sind die Cam­ping­plät­ze gesteckt voll mit lärmenden Teen­agern und Groß­fa­milien, die mittags und abends auch noch die Luft mit dem beißenden Rauch der „asados“ verpesten.
Abendspaziergang
Heute Nachmittag tat ich mich schwer, eine recht merkwürdige Vogelart zu fotografieren: die Ban­durrias (eine Art Ibis)! Sie hielten mich und meine Ka­mera immer auf Distanz. Diese Schreit­vögel mit langen, gekrümmten Schnä­beln be­weg­ten sich langsam und in kleinen Gruppen auf den Wiesen und im Sumpfgebiet neben dem Rio Manso. Jedes Mal, wenn ich näher kam, flo­gen sie auf und erfüllten noch minutenlang die Luft mit ihren auffälligen, metalli­schen trom­pe­ten­ähn­li­chen Lauten.
Bandurria
Jetzt am Abend sind die sporadischen Tüt-tüt-Laute der Bandurrias und das Knir­schen der Kieselsteine unter mei­nen Schuhen die einzigen Geräusche, die die tiefe Stille unterbrechen, in der ich mich befinde. Ich traue mich kaum, zu gehen, betrete das Gras am Wegesrand, nur um diese Stille zu zelebrieren. Ein Wunder: kein Motorenlärm, kein menschliches Geräusch! „Que silencio!", würde Frau Pellegrini sagen. Der Schnee des Tronadors leuchtet in der zu­neh­men­den Dunkelheit noch einmal auf. Das sind die Augenblicke, die mich für all die Zweifel und Mühen belohnen.
Pferde grasen am Straßenrand, inzwischen nur noch als dunkle, sich kaum bewegende Schatten zu erkennen. Gespenstisch beleuchtet der Mond die mit „Barba del diablo“ genannten Flechten bewachsenen Lenga-Bäume. Im Osten leuchten bereits die ersten Sterne auf. Ein lauer Wind haucht mir Wohl­be­finden ins Gesicht.
Barba del diablo
Ich stolpere etwas verwirrt, fast verzaubert, durch den lich­ten Wald, ich kann meine Füße gerade noch sehen. Wann habe ich zum letzten Mal eine derar­tige Erfahrung gemacht? Wann so intensiv und so bewusst eine Situation erlebt, die für Hundert­tau­sen­den von Jahren für alle Men­schen ein selbst­ver­ständ­li­cher Zustand war.
Montag, 8. Dezember
Die Morgendämmerung der Welt
Es gibt Erlebnisse, die wird man niemals ver­ges­sen können, so tief gehen sie einem unter die Haut, so sehr unterscheiden sie sich von all dem, was man im Alltag erlebt. Man kann der Aufhel­lung des Nachthimmels durch die von Men­schen erschaffenen und betriebenen Licht­quel­len nor­malerweise kaum ent­fliehen und man ist es gewohnt, von dem aus unserer Welt kaum noch weg­zu­den­kenden Lärm der Motoren bis ins letzte Winkel verfolgt zu werden.
An frühen Morgen
Aber hier in diesem entfernten Ort kann man tatsächlich noch die Nacht erleben, wie sie vor dem Auf­tau­chen der technischen Zivilisation bestand: dun­kel, un­heim­lich, flüsternd, Ge­heim­nis­se erzähl­end, nur vom glitzernden Licht der Sterne erhellt. Und der Tagesanbruch steht der Nacht in nichts nach. Er ist ein Welt­wun­der, ein Licht­zauber, er gleicht dem Morgengrauen der Welt. In solchen Momenten er­greift mich ein überwältigendes Gefühl von Demut gegenüber der Erhabenheit der Schöpfung.
Hängebrücke über den Río Manso
Chimangos
Die Vogelwelt Patagoniens hat es mir angetan. Da ist beispielsweise der Chimango (Milvago chi­mango), ein knapp krähengroßer Greifvogel der Familie der Falconidae (Falkenartigen), der in den Bergregionen Patagoniens eine unübersehbare Verbreitung erlangt hat. Hier in Pampa Linda kann ich fast auf jedem zweiten Baum einen dieser gefiederten Räuber in Miniaturformat erspähen.
Ein Chimango
Ich bin weit davon entfernt, das sogenannte Birdwatching (Neudeutsch für „Vo­gel­be­obach­tung") so ernst zu nehmen, dass ich mich mit dem Studium von Vogel­be­stim­mungs­bü­chern und den Hören von Vogelstimmenaufnahmen beschäftigen möchte. Tiefer gehendes Wissen über die Biologie der Vögel ist nicht mein Ziel. Die Vogelwelt Pa­ta­go­niens mit seinen über 160 Arten ist für mich, in dem Rahmen, in dem ich sie überhaupt zu sehen bekomme, in erster Linie ein Erlebnis des Sehens und eine Mög­lichkeit, die Nähe zur Natur zu genießen.
Neben den Bandurrias, den Magellangänsen und den Spornkiebitzen gehören die Chimangos zu jenen Vögeln, die man in Patagonien auch beim besten Willen nicht übersehen kann. Für mich als Fotografen sind sie heute zu einer kleinen Herausforderung geworden. So verbringe ich – trotz des Fehlens eines schnellen Teleobjektivs – den hal­ben Vormittag damit, auf sie „Jagd“ zu machen.