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Sonntag, 14. Dezember |
Río Manso |
Schluss mit den organisierten Touren! Ich will wieder über ein Auto verfügen! Was für eine Überraschung dann, als ich bei einem der hiesigen Vermieter einen VW Gol für nur 27 € pro Tag angeboten bekomme, und dass die Versicherung mit 180 € bei Teilschäden und 540 € bei Totalschaden auch wesentlich günstiger ist als bei Hertz. „VW Gol“ ist übrigens kein Schreibfehler. So heißt nämlich ein von Volkswagen in Brasilien für den lateinamerikanischen Markt gebauter Kleinwagen, der seinen Namen vom spanischen, bzw. portugiesischen Wort Gol ableitet (Fußballtor). |
Kaum spüre ich wieder einen Autositz unterm Hintern, schon packt mich ein prickelndes Gefühl von Freiheit. Als Allererstes zieht es mich wieder dorthin, wo ich beim Ausflug nach Pampa Linda die verwitterten weißgrauen Baumgerippe gesehen habe. Vom Lago Los Moscos und dem Río Manso ziehen sie sich bis weit hinauf auf die Hänge des Cerro Granítico und geben mit ihrer Anwesenheit der Landschaft ein geisterhaftes, fast surreales Gesicht. |
Und siehe da! Die Strecke „de ripio“, die zum Río Manso führt, scheint ihren bedrohlichen Charakter für mich verloren zu haben. Es ist, als könnte ich sie endlich auf das rechte Maß zurückstutzen. An manchen Stellen muss ich zwar höllisch aufpassen, insgesamt fühle ich mich aber sicher und kann mir kaum noch vorstellen, dass mir diese Strecke einmal wie ein schlecht ausgebauter, von Schlaglöchern und Querrillen durchsetzter Wanderweg erschien. Dennoch fahre ich, um Achsen und Reifen so weit es geht zu schonen, selten schneller als 40 km/h. |
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Balcon de la Suegra |
Beim Camping Los Rapidos lasse ich das Auto stehen, schultere meinen Rucksack und marschiere in forschem Tempo die Ruta 81 entlang in Richtung Lago Hess. Nach einem kurzen Aufstieg erreicht die Straße den so genannten „balcón de la suegra“ (Aussichtspunkt der Schwiegermutter), dessen Namen man sofort versteht, wenn man sich den steilen Hang hinunter zum See „Los Moscos“ vergegenwärtigt. Der Name dieses Sees wird hingegen von den Stechfliegen (moscos) abgeleitet, die im Hochsommer seine Ufer heimsuchen! Von da an zeugen alle Berghänge links von der Straße und hinunter zum See vom großen Waldbrand, der diese Gegend im Februar 1999 heimsuchte und eine Waldfläche von über 5.000 ha zerstörte. Der Brand erfasste die gesamte Waldfläche an den Ufern des Río Manso, der Seen Steffen, Mascardi und Roca und erreichte sogar die Ausläufer des Cerro Catedral. Es soll damals bereits Evakuierungspläne für Teile der Stadt Bariloche gegeben haben. Der Waldbrand war längst außer Kontrolle geraten und nur der am 26. Februar einsetzende Regen konnte eine noch größere Katastrophe verhindern. |
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Spuren des Waldbrandes |
Zwischen den verwitterten weißgrauen toten Bäumen ist längst grünes Buschwerk gewachsen. Keine Frage, dass mich dieses grün-grau-blaue Gesamtkunstwerk der Natur lockt. Ich stoße in diese geisterhafte Wildnis vor, ein fast undurchdringliches Dickicht von Retama (die einheimische Ginsterart mit unscheinbaren weißen Blüten) und anderen Sträuchern, balanciere auf dem Holzgerippe verkohlter Baumleichen, bleibe am toten Geäst hängen, stolpere über unsichtbare überwachsene Erdlöcher und fühle mich – was scheren mich Steckmücken und Dornen – in einen Urzustand der Menschheit zurückversetzt. |
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Notro-Büsche |
Als ich zurück beim Camping bin, empfängt mich dort eine andere Art von Natur. Sie hat den intimen Charakter eines grünen Paradieses. Und auch hier ist Stille, auch hier fehlt die Anwesenheit des Menschen. Zwar muss im Hochsommer in dieser Ecke des Nationalparks die Hölle los sein, denn dann kommen sich Fliegenfischer und Kanufahrern in die Quere und spielende Schulklassen füllen die Luft mit ihrem „heiteren“ Geschrei. |
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Am Río Manso |
Jetzt aber, jetzt habe ich die riesigen Coihue-Bäume, deren Äste bis tief übers Wasser reichen, den bläulich bis smaragdgrünen Río Manso, das Bambusdickicht, die Hagebuttensträucher und den kühlen Schatten (fast) für mich allein. Nur auf dem gegenüber liegenden Ufer zieht ein Fliegenfischer mit der Ästhetik eines kunstvollen Wurfes meine Aufmerksamkeit auf sich. |
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Kristallklares Wasser |
Eine Zeit lang liege ich bewegungslos und mucksmäuschenstill mit dem Rücken auf einem halb im Wasser versunkenen Stamm, so dass ich die bedrohlich-schützende Silhouette eines Baumes gegen den Himmel vor Augen habe und nur das leichte Säuseln des Windes in den Blättern wahrnehme. Völlig auf den Augenblick konzentriert, wie ich bin, scheint sich mein Bewusstsein auf wundersame Weise zu erweitern. Die Zeit ist stehen geblieben. |
Montag, 15. Dezember |
Wildwestlandschaft |
Der Nahuel-Huapi-See ist eingebettet in eine großartige Landschaft mit dichten Wäldern, zahlreichen weiteren Seen und Flüssen und der alles überragenden, schneebedeckten Cordillera der Anden. Die Region erinnert sehr an die ansehnlichsten alpinen Landschaften Europas und wird deshalb auch die „Argentinische Schweiz“ genannt. Für mich ist diese Seenlandschaft ein „Salzkammergut“ in gewaltigerem Maßstab. |
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Entlang der Ruta 23 |
Das, was diese Gegend aber zu etwas Einmaligen macht, das sind ihre gewaltigen klimatischen und landschaftlichen Gegensätze. Die bereits erwähnte Gegend um Puerto Blest in der Nähe der chilenischen Grenze ist eine der regnreichsten und daher grünsten Regionen des Landes. Die jährliche Niederschlagsmenge kann dort, wie bereits erwähnt, 4000 mm erreichen. Aber bereits im 40 km östlich gelegenen Bariloche beträgt die jährliche Niederschlagsmenge nur noch etwa 1000 mm, was etwa dem Wert Österreichs (mit 1170 mm) entspricht. Weiter im Osten des Nahuel-Huapi-Sees nimmt der Jahresniederschlag weiter rapide ab und es bietet sich dem Besucher ein Landschaftsbild halbtrockener Steppen. |
Der Übergang ist fast schlagartig. Fährt man gegen Osten in Richtung Pilcaniyeu, meint man, man käme in einer anderen Welt an. In einer Landschaft, nämlich, die mindestens so weiträumig und so beeindruckend ist, wie die bekannten Westernkulissen Nordamerikas, die von der Leinwand her ganze Generationen von Kinogängern begleitet haben. Über dieser Landschaft ein großer, weiter, stahlblauer Sehnsuchtshimmel! |
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Der Totenschädel-Felsen |
Pilcaniyeu ist ein kleines Provinzstädtchen, das nur noch mit einem Jahresniederschlag von 250 Millimeter gesegnet ist. Seitdem unsere Freundin Cati uns vor einigen Jahren mit ihrem Pickup (Geländewagen mit offener Ladefläche) auf abenteuerlicher Fahrt dorthin begleitete, ist dieser Ort fest in mein Gedächtnis eingebrannt als der patagonische Ort schlechthin, ein wundersamer Flecken in der Wüste, ein Symbol für den entferntesten Winkel der Welt. |
Die Schotterstraße, die dorthin führt, die Ruta 23, schreckt mich inzwischen nicht mehr so ab. Mit meinem kleinen gemieteten VW Gol nehne ich diese Landschaft noch einmal in Angriff, zumindest eine Teilstrecke davon. Unterwegs in dem Gefährt habe ich das Gefühl, als schaukelte ich auf dem Sattel eines Pferdes – geradeaus unterwegs ins Abenteuer. Ich will einfach nur eintauchen in diesen „Wilden Westen“, diese atemberaubende Bilder in mir aufnehmen, das Rütteln und Schütteln des Wagens als Erlebnis verstehen und die Autos, die, riesige Staubfahnen hinter sich her ziehenden, mir entgegenkommen, kurzerhand zu einem sich im Galopp nähernden Cowboy deklarieren. John Wayne lässt grüßen! |
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Diese Buschsteppe ist durch eine trockene, rötlichbraune Erde charakterisieret, die von kleinen Grasbüscheln und den gelb-blühenden Neneo–Sträuchern durchsetzt ist. Dieser sehr dornige, polsterförmige Halbstrauch (Mulinum spinosum) könnte geradezu als Erkennungsmerkmal der patagonischen Steppe an den Ausläufern der Anden auserkoren werden. |
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Neneo-Sträucher |
Diese Landschaft, die so weit und großartig ist wie die einschlägigen Westernhintergründe in Arizona, war auch eine der Kulissen für den Film „Die Reisen des jungen Che“, der auf den Aufzeichnungen einer Südamerika-Reise des jungen Che Guevara basiert. Verfilmt in betörenden Landschaftsbildern und einer emotional packenden Inszenierung einer Reise kreuz und quer durch Südamerika. |
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FILMEMPFEHLUNG |
Die Reise des jungen Che (Originaltitel: Diarios de motocicleta) ist ein Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Walter Salles aus dem Jahr 2004. Das mehrfach preisgekrönte Roadmovie basiert auf den Aufzeichnungen einer Südamerika-Reise der jungen Che Guevara und Alberto Granado. |
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Meine Fahrt ist zwar nicht ganz so abenteuerlich, aber man hat ja schließlich genügend Vorstellungskraft! Verstaubt und mit den Schuhen, Socken und Hosen voller Kletten fahre ich, wegen der späten Stunde ohne bis nach Pilcaniyeu vorgedrungen zu sein, am späten Nachmittag wieder zurück nach Bariloche. |
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Zurück beim Nahuel-Huapi-See |
Dienstag, 16. Dezember |
Abstecher nach Chile |
Es ist bereits früher Nachmittag, als mich das sonnige Wetter und der von einem kräftigen Wind klargefegte, stechend blaue Himmel auf den Gedanken bringen, einen Abstecher nach Chile zu wagen. Meine Tante fuhr jedes Jahr für ein paar Wochen in das bekannte Thermalbad Aguas Calientes im Nationalpark Puyehue, der gleich nach der chilenischen Grenze beginnt. 160 Kilometer gut ausgebauter, asphaltierter Straße, das sollte zu schaffen sein, denke ich mir. Zum Gedenken an Tante und selbstverständlich auch aus der Neugier, einen Schnipsel des mir noch unbekannten Chile kennen zu lernen. Gedacht, getan. Und schon sitze ich im Auto und fahre die Ruta 237 entlang in Richtung Norden. Nach etwa 25 Kilometern zweige ich links ab, um auf der Ruta 231 parallel zum Nahuel-Huapi-See in Richtung Villa La Angostura zu fahren, links von mir die unvergleichliche Schönheit der Seelandschaft. Am hübschen Touristenort fahre ich aber nur vorbei, um ab Correntoso direkt in Richtung Osten den Cardenal-Samoré-Pass (1314 m) anzusteuern, der ziemlich genau die Grenze zwischen Argentinien und Chile darstellt. |
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Jetzt, plötzlich, wenige Kilometer vor der chilenische Grenze, wecken die fortwährend imposanter werdende Bergkulisse, der pfeifenden Wind, der düster werdende Himmel und die gespenstisch anmutenden flechtenbehangenen Bäume ein Abenteuergefühl in mir, das sich fast zum Rausch steigert. Ich bin innerlich aufgewühlt. An diesem letzten Tag meines Aufenthalts in Patagonien und nach fast zwei Monaten des Reisens ist mir die Begeisterung noch immer nicht abhanden gekommen. Ich würde alle paar Minuten aussteigen, einen Fluss entlang wandern, in die Dunkelheit des Waldes eintauchen und die Stille und die Unberührtheit dieser Landschaft in mich aufsaugen, als könnte ich sie speichern und dann, zurück im heimatlichen München, peu a peu wieder aus meinem Inneren hervorholen und genießen. |
An der Grenze fängt dann der Stress an. Die Grenzformalitäten ziehen sich eine gute halbe Stunde hin. Weder die argentinischen noch die chilenischen Beamten zeigen auch nur einen Anflug von Höflichkeit. Auf mich, der aus einem Kontinent komme, in dem die Grenzen in großer Anzahl gefallen sind, wirkt das ganze völlig anachronistisch, absurd und – ärgerlich. Denn aus meinem „kurzen“ Ausflug ins Nachbarland ist längst ein Rennen um die Zeit geworden. |
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Der Vulkan Puyehue (Chile) |
Ich wäre jetzt bereits zufrieden, wenn ich im luxuriösen Ambiente des Thermenhotels einen Kaffee trinken und dann kehrtmachen könnte. Kilometer sind eben Kilometer. Ich fahre und fahre und rechts und links vom mir flutscht nur die einsamste Landschaft vorbei, zunächst noch dicht bewaldet, später dann aufgelockert mit größer werden Lichtungen. Mit jedem Höhenmeter hinunter wirkt diese Landschaft „europäischer“ und somit heimischer auf mich. Und gäbe es nicht dieses klare Spätnachmittagslicht, das alles in eine zauberhafte Atmosphäre taucht, ging es mit meiner Laune so wie mit der Straße, nämlich bergab! |
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Chilenische Landschaft |
Ich werde es kurz machen: Im besagten Hotel dürfen nur die Hotelgäste den Restaurantbetrieb nutzen, in der drei Kilometer entfernten Cafeteria schmeckt der Kaffe miserabel, und ich kann von Glück sprechen, dass ich ihn überhaupt bekomme. Denn das Zahlen mit der Kreditkarte geht üblicherweise erst ab einem höheren Betrag. |
Die Rückfahrt bis zur Grenze erfolgt unter einem düsteren, grauen Himmel. Die Grenzformalitäten sind diesmal etwas kürzer (nur 20 Minuten). Erst das fantastische Sieben-Uhr-Abend-Licht am Nahuel-Huapi-See versöhnt mich wieder mit der Welt. |
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Der Nahuel-Huapi-See bei Villa La Angostura |
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