Als der Flieger in Salta ankommt, ist es bereits spät am Abend. Taxis (bzw. Remises) kann man an einem Schalter in der Ankunftshalle bestellen. „Prevengase de delitos, utilice remises oficiales“ (Beugen Sie Verbrechen vor! Benutzen Sie offiziellen Remises), ist dort in Riesenlettern zu lesen.
Es regnet. Während mich das Remise vom Flughafen ins Hotel bringt, schlittert meine Laune in den Keller. Ich kann zu dieser späten Zeit nur die Lichter der Stadt sehen und gerade eine Ahnung von dem bekommen, was sich darunter verbirgt. Und das sieht nach einer heruntergekommen, hässlichen Stadt aus. Mein übers Internet gefundene und per Telefon reservierte Hotel „Refugio del Inca“ entpuppt sich hingegen als eine bescheidene, aber saubere Bleibe.
Dienstag, 11. November
Salta
Eine bakterielle Enteritis schafft es zwar nicht, mich völlig lahm zu legen, sie bestimmt aber das Tempo meiner Aktivitäten. Gut, dass ich reichlich mit Reiselektüre versorgt bin. Mein Eindruck von gestern Abend bestätigt sich. Trotz seiner 460.000 Einwohner wirkt Salta auf mich wie ein kleines, unbedeutendes Provinzstädtchen, dessen Charme – die Reisehandbücher schwärmen von ihrer alten spanischen Kolonialarchitektur – sich mir zunächst verbirgt. "Salta la Linda“ (Salta, die Schöne) wird sie genannt. Sie liegt auf einer Höhe von 1187 Metern über dem Meeresspiegel in einem sehr weiten Tal und ist von Bergen umgeben.
Reiterdenkmal von Antonio Álvarez de Arenales
Der Mittelpunkt der Stadt ist die Plaza 9 de Julio, und es ist hier und in der unmittelbaren Umgebung, wo sich noch einige – aber nicht allzu viele – bauliche Zeugnisse der Kolonialzeit finden, wie die neobarocke die Kathedrale von Salta (Catedral Santuario Nuestro Señor y la Virgen del Milagro).
Außerden das 1626 entstandene cabildo (Rathaus) und, abseits des Zentrums, die rotgoldene Barockkirche San Francisco, die zum eigentlichen Wahrzeichen Saltas geworden ist.
Die Kirche von San Francisco
Vor allem der Hauptplatz hat es mir mit seinem kleinen Park, seinen Arkaden und den breiten befliesten Bürgersteigen angetan.
Ich verbringe die meiste Zeit im Café. Bei einem cafesito oder empanadas lässt sich gemütlich „La Nacion“ oder den Reiseführer lesen, Menschen beobachten und weitere Reisepläne schmieden.
Ich nutze auch die Gelegenheit, um etwas Shopping zu betreiben. Besonders schön sind hier die Silberwaren und der Schmuck mit dem argentinischen Nationalstein, dem rosafarbenen Rhodochrosit.
Mittwoch, 12. November
Cerro San Bernardo, Salta
Auf dieser Aussichtsplattform, von der ich das Panorama der Stadt Salta genießen kann, ist es windig und lau. Eine düstere, bleierne Wolkendecke lässt jeden Augenblick den ersten Regenguss erwarten. Die „wahre“ Stadt liegt dreihundert Meter tiefer. Hier ist Touristenzone. Amerikanisches Englisch, Deutsch und Französisch sind die Sprachen, die ich rund um mich zu hören bekomme.
Freilich ist die Aussicht trotz des Wetters (oder gerade deshalb?) spektakulär! Eine Christus-Statue auf einer Säule blickt von oben auf die Stadt, als sollte dies zu jeder Tageszeit beschützt werden.
Aussicht auf Salta
Wäre da nicht unmittelbar neben der Gondelbahn-Bergstation ein kleiner sehr gepflegter Park, würde ich die südländisch-tropische Atmosphäre, die ich unten in der Stadt überall empfunden habe, völlig vermissen. Aber es reicht, dass ich die lila Blüten eines Jacarandà-Baum sehe, und es ist um mich geschehen. Mein Lieblingsbaum im argentinischen Frühling! Überall im Lande (außer in Patagonien) setzt jetzt der exotische Baum seine Farbakzente.
Jacaranda mimosifolia
Ein weiterer Baum, bei dem mich vor allem die Blätter entzücken, nennt sich – das kann ich auf einem Schild lesen – Anadenanthera colubrina ). Er gehärt auch zur Familie der Mimosen. Die Blätter sind doppelt gefiedert mit sehr sehr vielen, kleinen und länglichen, leicht bewimperten Blättchen. Filigrane Kunstwerke!
Anadenanthera colubrina
Noch ist die Luft lau, noch kann ich diese fast unwirkliche Atmosphäre genießen, die mich einerseits „weit, weit weg“ fühlen lässt, andrerseits durch die touristische Gezähmtheit dieses Cafés anheimelnd wirkt. Den Weg zurück gehe ich zu gemächlich Fuß.
Nüchternheit
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Trotz der Menschen, die bis auf wenige Ausnahmen das Erbe amerikanischer Indianer in ihren Zügen zeigen, trotz der Reste kolonialer Architektur, die meine Fantasie in verklärter Form in frühere Zeiten zurückführen und obwohl die Armut, die an ganz vielen Details zu erkenne ist und eigentlich den Eindruck einer „anderen“, „fremden“ Welt suggerieren müsste, hat mir diese Stadt bisher nie das prickelndes Gefühl verschafft, das ich mit dem Wort „Exotik“ assoziiere.
Argentinien ist letztlich ein sehr stark westlich geprägtes Land mit den unübersehbaren Zügen einer Konsumgesellschaft. Mädchen tippen auf ihren Handys herum, Halbwüchsige unterscheiden sich in ihrer Kleidung kaum von europäischen Gleichaltrigen, Jugendliche versuchen mit der Lautstärke ihrer Motorräder die Langeweile zu überwinden. Auch hier hat das Auto die Vorherrschaft in der Stadt längst übernommen.
Donnerstag, 13. November
Santa Evita
Während ich in einer Bar auf der Plaza 9 de Julio ein kühles Bier genieße und dazu köstliche empanadas de carne (mit Rindfleischfüllung), oder de jamón y queso (mit Schinken und Käse) verzehre, folge ich fasziniert der Erzählung von Tomas Eloy Martinez, der in seinem Bestseller „Santa Evita“ die Odyssee von Evita Perons Leichnam schildert. Bereits zu ihrer Lebzeit hatte Eva Peron die lebhaftesten Vorstellungen auf sich gezogen. Was sich aber nach ihrem Tod abspielte, sprengte jedes Maß: Ihr Körper wurde einbalsamiert, versteckt, gejagt und quer durch die Welt geschickt.
Eva Duarte de Perón, dieses Aschenputtel, das zur Königin wurde, war schon zu Lebzeiten zu einem gefeierten Mythos und zum Mittelpunkt eines unglaublichen Personenkults ge­worden. Auch heute noch ist Evita in Argentinien eine Legende. Sie gilt für einen großen Teil ihrer Landsleute, Männer wie Frauen, immer noch als die große Wohltäterin der Nation.
Als Evita Peron 1952 an Krebs starb, wurde ihr Leichnam zu einer politischen Waffe. Er erlangte eine größere Bedeutung, als es Evita während ihres Lebens je gehabt hatte. Juan Peron wusste von der Beliebtheit seiner schönen Frau bei den Armen. Mit ihrer Einbalsamierung hoffte er, die Erinnerung an sie zu verewigen und damit den Peronismus auch für die Zukunft zu stärken.
Drei Jahre lang arbeitete der bekannte spanische Pathologe Pedro Ara, um sie zu zu präparieren, mit großer Sorgfalt ging er an die Einbalsamierung. „Er war ihr verfallen“, schrieb Eloy Martinez. „Er hätte ewig an ihr arbeiten wollen." Ara kam (laut Eloy Martinez) auf die Idee, drei täuschend echte Wachskopien der Leiche anzufertigen.
Dr. Pedro Ara und Eva Perons Leiche
Die echte Leiche wurde zunächst im Gebäude des peronistischen Gewerkschaftsbundes CGT aufgebahrt. Die Militärs, die Juan Domingo Peron 1955 gestürzt hatten, fürchteten sich sehr vor der Ausstrahlung, die Evita auch als Tote noch hatte, und besonders davor, dass sich das Volk ihres Leichnams bemächtigen und es in Demonstrationszügen durch die Stadt tragen könnte. Den Leichnam zu vernichten, das trauten sie sich nicht, sie bemächtigten sich nur der Toten und verwahrten sie bis zur Entscheidung über ihr endgültiges Schicksal an einem vermeintlich sicheren Ort. Als dieser den Machthabern zu unsicher wurde, karrten sie die Mumie tagelang in einem Lastwagen kreuz und quer durch Buenos Aires, um ihre Spuren zu verwischen.
BUCHEMPFEHLUNG
Santa Evita Eva Perón alias Evita wurde zu Lebzeiten als argentinische Göttin und nach ihrem frühen Tod als Heilige der Armen gefeiert. Ihr Leben wurde zum Mythos, ihr einbalsamierter Körper zur Reliquie. Virtuos, erzählmächtig und ironisch verbindet Tomás Eloy Martínez in seinem Meisterwerk Biografie, Klatsch und Legende: ›Santa Evita‹ ist der Roman Argentiniens.
Aber wo immer der Leichnam auch hingebracht wurde, es tauchten dort nach kurzer Zeit Blumen und Kerzen auf. Mehrmals wurde der beauftragte Oberst von anonymen Briefen bedroht. Er solle sich keinesfalls allzusehr Evita nähern. Kurz darauf ließen die Militärs den Leichnam verschwinden und es begann die absurde, makabre Odyssee von Evitas Särge durch verschiedene Länder der Welt, unter anderen Bayern. Jahrelang gingen die verschiedensten Gerüchte über Verbleib des „Originals“ durch die Weltpresse.
Nach vielen Jahren stellte sich heraus, dass die echte Evita unter dem Namen Maria Maggi de Magistris auf einem Friedhof in Mailand ruhte. Im September 1971 wurde sie heimlich nach Madrid gebracht, in das Haus, in dem General Perón im Exil lebte. Aber erst 1974, nach dem Tod Peróns, der 1973 nach Argentinien zurückgekehrt und zum zweiten Mal Präsident geworden war, ließ seine Witwe IsabelEvitas Leichnam nach Buenos Aires holen und in der Präsidentschaftsresidenz Olivos bestatten. Und erst 1976, 24 Jahre nach ihrem Tod und zwei Jahre nach dem Tod ihres Gatten, fand Evita ihre letzte Ruhestätte: Weil die Militärs, die durch einen Putsch gegen Perons Witwe an die Macht gekommen waren, fürchteten, dass sich linksperonistische Guerrilleros der Toten bemächtigen könnten, ließen sie Evita auf dem Prominenten-Friedhof La Recoleta in Buenos Aires endgültig beisetzen.
Noch heute suchen jeden Tag Verehrer das Grab auf, legen Blumen und Heiligenbildchen für die Angebetete nieder. In vielen Häusern weitab von den vornehmen Vierteln Buenos Aires' kann man neben dem Jesusbild auch heute noch ein Foto der Volksheiligen Evita auffinden.
Armut
Zum wiederholten Mal schleppt sich ein Gehbehinderter durch die Tischreihen, völlig ignoriert von seinen Landsleuten und von den salopp angezogenen Touristen. Steckte ich ihm nicht einige Pesos in die Hemdtasche, würde mich das Gewissen plagen. Kurz darauf geht eine armselig gekleidete junge Frau schüchtern von Tisch zu Tisch und zeigt den Gästen einen Stapel Wahrsagekarten, von denen man sich eine vom eigenen Sternzeichen aussuchen kann. „Diez Centavos“, flüstert sie, dass man es kaum hören kann – zweieinhalb Euro-Cent für die Zukunftsvoraussage, von einer, die selbst gar keine Zukunft hat.
Etwas später ist ein kleines Mädchen an der Reihe, die mir billigen Schmuck verkaufen möchte. Ich habe sie bereits heute Morgen von Café zu Café gehen sehen. Kaum zu vermuten, dass sie viel verkaufe. Am Nachbartisch haben die Gäste beim Weggehen Reste eines Sandwichs liegen lassen. Normalerweise sind es die Tauben, die sich mit großer Frechheit an die Speisereste machen. Diesmal ist es aber die kleine Schmuckverkäuferin, die sich dieser annimmt und in eine Plastiktüte einpackt. Täusche ich mich, oder ich sehe ein Leuchten in ihren Augen?
Es sind Menschen wie diese, die vor über sechzig Jahren die große Anhängerschaft von Evita bildeten. Seit jener Zeit hat es keine der Militärjuntas oder der mehr oder wenig demokratisch gewählten Regierungen geschafft, die Armut zu bekämpfen. Der Mythos von Evita bleibt, und sei es in Form eines Musicals, der derzeit in einem Theater Buenos Aires' läuft. Menschen stehen Schlange, um Eintrittskarten zu ergattern.
Freitag, 14, November
Menschen in Salta
Zwei Pesos und 57 Centavos (etwa 65 Euro-Cents) für eine Fahrt von etwa eineinhalb Kilometern. Der Fahrer, der mich vom Bus-Terminal zurück ins Hotel fährt, rundet den Taxameterbetrag sogar von 4,43 auf 4 Pesosab. Klar, dass ich das nicht zulassen kann! Etwa 45 Pesos verdiene er pro Tag, meint er. Kann man davon eine Familie ernähren?
Der untersetzte Indio mit vor Haargel glänzenden schwarzen Haaren spaziert ins Restaurant, geht von Tisch zu Tisch und bietet den Gästen kleine Plastikbeutel mit Coca-Blättern zum Verkauf an. Sie seien „buenos por el estomago“ (gut für den Magen), meint er.
Die Schuhputzer
Als ich am kleinen Café am Hauptplatz vorbeigehe, strahlt mich die junge Kellnerin schon von der Ferne an. Ob ich denn nicht auf ein cafesito kommen möchte? Wie gerne! Aber es kann ja sicher auch etwas anderes sein, habe ich mich doch an diesem verregneten Nachmittag bereits seit Stunden von einem Cafe zum anderen geschleppt. Dabei redet es so gerne mit mir, das junge Mädchen, das einen Freund im bayerischen Unterhaching hat. Noch heute habe sie mit ihm telefoniert! Bald wolle er sie wieder besuchen kommen. Im August sei sie selbst zu Besuch in München gewesen. Aber was für eine Kälte sei dort gewesen!
Seit vielen Jahren – so wird behauptet – erscheint einer einfachen Hausfrau und Mutter von drei Kindern aus Salta die Heilige Jungfrau Maria. Maria Livia Galeano de Obeid, inzwischen 59-jährig, erzählte, dass ihr dies zum ersten Mal im Jahr 1990 geschehen sei. Sie habe die Muttergottes, die ihr wie ein wunderschönes, von einem strahlenden Glorienschein umgebenes, etwa 14-jähriges Mädchen erschien, sowohl gesehen als auch gehört. Seit damals hätten die Dialoge mit der Jungfrau in regelmäßigen Abständen immer wieder stattgefunden.
Im gleichen Tempo wie die Berichte über erfolgte Wunder und Wunderheilungen, nahm in den folgenden Jahren auch die Anzahl der Anhänger von Maria Livia rasant zu. Allerdings auch die Anzahl der Zweifler. Glücklicherweise hatte Maria Livia zum Zeitpunkt der ersten Erscheinung die Geistesgegenwart, zur Kamera zu greifen und die Erscheinung zu fotografieren.
In den folgenden Jahren fuhr die Muttergottes weiterhin fort, der Frau zu erscheinen, und ihr zahlreiche Botschaften zu übermitteln. 1997 gab der Erzbischof von Salta, Moisés Julio Blanchoud, die Erlaubnis, diese Botschaften in einem Buch zu veröffentlichen, das - wen wundert's? - in null Komma nichts zu einem Bestseller wurde. Im Jahr 2000 ersuchte die Jungfrau Maria Livia, eine Wallfahrtskirche auf einem Hügel in Tres Cerritos errichten zu lassen.
Die Pilgerstätte wurde im Eiltempo errichtet, und seit dem sie Ende 2001 fertiggestellt wurde, empfängt Maria Livia die Gläubigen, die Neugierigen und die Verzweifelten in einer herrlich im Grünen liegenden Lichtung auf einer Bergkuppe oberhalb von Salta.
Jeden Samstag kommen ganze Busladungen von Besuchern aus Salta, aus Buenos Aires und aus ganz Argentinien zum „heiligen“ Berg - bis zu 30.000 Pilger können es manchmal sein. Sie kommen, weil sie diese Frau sehen wollen, weil sie von ihr berührt werden wollen, und weil sie hoffen, dass durch ihre Vermittlung die Jungfrau Maria ihre Gebete erhört.
Gläubige warten auf die „Heilige“
Vom Busparkplatz bis hinauf zur Wallfahrtskapelle ist noch etwa ein Kilometer zu Fuß zu bewältigen. Umgeben von einem ununterbrochenen Strom von Pilgern stapfe ich mühsam in einem lichten Wäldchen den Berg hinauf. Dort erwartet mich bereits das Gebetsgemurmel von Tausenden von Pilgern. Ich bewundere (und liebe) die Choreographie der katholischen Kirche!
Wie hypnotisierend wirkt dieses rezitierte „Dios te salve María, llena eres de gracia, …", dem Hunderte von Stimmen mit „Santa María madre de Dios, ruega por nosotros pecadores, …“ antworten in nicht enden wollenden Wiederholungen. Selbst bei einem Ungläubigen wie mir komm ein Kribbeln in der Seele auf.
Die Beichte
Nach Stunden des Rosenkranzbetens und leiser Musik aus den Lautsprechern, warten sie alle auf das Hauptereignis des Tages. Am frühen Nachmittag erscheint dann endlich Maria Livia. Leider konnte ich mich selbst als fingierter Pressefotograf nicht genug nach vorne kämpfen, um die Segnungen der Heiligen aus aller ersten Nähe zu erleben, geschweige denn zu fotografieren. Denn während der Fürbitte und der Gebete sei es nicht erlaubt zu fotografieren. So erklärt es mir jedenfalls eine vor lauter Frömmigkeit und engelhafter Lieblichkeit einem halben Meter über dem Boden schwebende freiwillige Helferin.
Der Höhepunkt ist gekommen. Die Gläubigen, vielen von ihnen im Rollstuhl, andere mit Kleinkindern in den Armen, alle aber mit pochenden Herzen, stehen vor der „Heiligen“ Schlange, um ihren Segen zu Empfangen. Maria Livia berührt jeden Pilger mit Kraft an den Schultern, sieht ihn kurz an, dann schließt sie wie inspiriert die Augen. Ein Moment, und schon ist der nächste dran. Die Meisten de Beglückten weinen leise vor sich hin, andere sinken ohnmächtig zu Boden, während hilfreiche Hände sie auffangen.
Mich irritiert dabei, dass einer der Veranstalter die Handlungen der Heilerin von allergrößter Nähe auf Video aufnimmt. Penetrant und ohne jegliche Scham hält er die Kamera den Kranken, Behinderten und Frommen vor die Nase, um das Auflegen der heilenden Hand und die Verzückung der Gesichter ausreichend und porentief zu dokumentieren. Aufnahmen also doch erlaubt? Nur eine Sache des Copyrights? Dass Presse und Filmteams nicht gerne gesehen werden, ist allerdings verständlich, sehen doch Kritiker hinter dem Phänomen „Virgen del Cerro“ nur eine kluge Geschäftsidee. Man denke nur an die Dutzenden von Bussen, die jeden Samstag den „Santuario“ aufsuchen und an die entsprechend ausgebuchten Hotels!
Die „Darstellung“ geht ihrem Ende zu. Wie es zu jeder guten Theaterinszenierung gehört, darf das dramatische Element nicht fehlen. Während Maria Livia ihren Segen erteilt, kommen düstere Wolken auf den Berggipfel zu, Gewittergrollen droht aus der Ferne, und ein eisiger Wind, der mir in den verschwitzten Rücken kriecht, lässt mich an das Geschehen auf dem Golgatha denken.