Sonntag, 26. Oktober 2008
La Boca
La Boca (Spanisch für "Mündung") ist neben San Telmo wohl das bekannteste "barrio" (Stadt­vier­tel) von Buenos Aires. Es liegt an der Ein­mün­dung des Riachuelo-Flusses in den Rio de la Plata. Eigentlich sollte ich mich in diesem Vier­tel gleich heimisch fühlen, denn viele der ersten Einwohner La Bocas stammten aus der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, nämlich aus der ita­lienischen Hafenstadt Genua.
1882 kam es nach einem langen Generalstreik sogar dazu, dass eine Gruppe Genueser eine Ur­kun­de an den italienischen König versendete, in der sie ihm mitteilten, dass sie die ei­gen­ständige Republik La Boca gegründet hatten. Die ge­nue­sische Flagge, die von den Re­bel­len im Viertel ge­hisst wurde, wurde aber postwendend vom da­ma­ligen, nicht gerade als zim­per­lich be­kannten ar­gen­tinischen Präsidenten Roca wieder herunter­geholt. Womit der Spuk zu Ende war.
Die Bewohner von La Boca hatten immer ganz besondere Cha­rak­ter­ei­gen­schaften. Sie waren im­mer lustig, laut und melancholisch. Sie spra­chen Xeneixe, den Genueser Dialekt, als ob sie noch in ihrer Heimat lebten. Sie waren arbeitsam und hilfsbereit und riefen zahl­reiche Ein­richtung der ge­gen­seitiger Hilfe ins Leben. Sie gaben Zeitung heraus, gründeten Sport­clubs und Kul­tur­vereine. Wegen der großen Kunst­emp­find­lichkeit seiner Menschen setzte das Viertel zahlreiche Sänger, Mu­siker, Poeten und Bildhauer in die Welt, viele von denen einen hohen Rang in der Beliebt­heits­skala des argen­tini­schen Volkes errangen.

Heute ist dieses pittoreske Hafenviertel, das auch als die Wiege des Tango Argentino gilt, eine der Hauptattrak­tionen von Buenos Aires. Des Tangos we­gen, der an jeder zweiten Ecke vorgeführt wird, aber vor allem wegen sei­ner originellen Häuser, die mit dem Blech von abgewrackten Schif­fen ge­baut und anschließend in knallbunten Farben bemalt wurden. Auf den Gehsteigen der Haupt­stra­ße El Caminito (Die kleine Straße) und in ein paar weiteren Stra­ßen­zügen, die bunt und he­raus­geputzt wie ein Christbaum sind, preisen zahl­rei­che Künst­ler ihre Werke an. Sich von diesen "sicheren" Straßen zu ent­fernen gilt als äußerst gefährlich. Als ich einmal in eine leere Seiten­gasse einbiege, ruft mir einer der Laden­in­haber laut und quasi im Befehlston zu: "Don't go there alone!".

Apropos Sicherheit: Das Viertel ist auch für das Fußballstadion La Bombonera des Fußballclubs Boca Juniors bekannt. Heute, Sonntag, wird ge­spielt, und man kann an vielen Ecken Dutzende mit kugelsicheren Westen, Helmen und Schlag­stö­cken ausgerüstete Polizisten beobach­ten. In der Ta­geszeitung "La Nacion" las ich, dass mitten im Fußballspiel Belgrano gegen Rosario in Bue­nos Aires eine wüste Schießerei stattgefunden hatte, bei der drei Personen teils schwer ver­letzt worden wa­ren. Bereits eine Woche zuvor waren bei einem Erst­liga-Spiel zwei Fans er­schos­sen worden. Die Bilanz der letzten 70 Jahren: 200 Tote in den Stadien!  Und weil wir beim Thema Sicherheit sind: Der spanischen Fern­sehge­sell­schaft, die nach Mar del Plata wegen des Davis Cups a­ng­ereist war, wurde gleich nach ihrer Ankunft die gesamte Ausrüstung (Videokameras, PCs usw.) gestohlen.

Sant Telmo
Nicht weit vom Zentrum gelegen, ist San Telmo ein weiteres sehr beliebtes Viertel. Der "barrio" ist architektonisch stark geprägt durch Altbauten aus dem 19. Jahrhundert, die teilweise liebevoll res­tau­riert wurden. Neubauten aus der zweiten Hälf­te des 20. Jahrhunderts, die andere Stadtteile wie beispielsweise Palermo stark prägen, finden sich hier seltener, da ein großer Teil dieses Stadtteils unter Denkmalschutz steht. Seine historische Sub­stanz strahlt ein wenig von dem Flair aus, das Buenos Aires früher fast überall kennzeichnete. In seinen schmalen Straßen mit altem Kopf­stein­pflas­ter gibt es kleine Pas­sa­gen, gemütliche klei­ne Restaurants und Cafés, Kunst- und Anti­qui­tä­ten-Lä­den.

BUCHEMPFEHLUNG
Buenos Aires - Eine litera­rische Ein­la­dung: Zahl­reiche erst­mals ins Deut­sche über­setz­te Texte von César Aira, Ro­ber­to Arlt, Jorge Luis Bor­ges, Mar­tín Ca­parrós, Ju­lio Cor­tá­zar, Maria­na Enrí­quez, Leila Guer­riero und vielen mehr führen durch die fas­zi­nie­ren­de multi­kul­tu­rel­le Metr­opole am Río de la Plata.

Auf der zentral im Stadtteil gelegenen Plaza Dorrego findet seit den 1960er Jahren jeden Sonntag ein gro­ßer Floh- und Antiquitätenmarkt statt, der ein großes, hauptsächlich ausländisches Pu­bli­kum an­zieht. Mittlerweile wird er über­wie­gend von Profis betrieben, die ihre Ware anbieten – wie altes Silber, Kupferteller, Porzellan, Tan­go­partituren, alte Ansichtskarten und Bücher und jede Menge sonstigen Trödel.

Die Theater, die Musikcafés und die sorgsame Restaurierung vieler Stra­ßen­züge tragen, wie auch die Bewohner, die sich inzwischen vor­wie­gend aus Alteingesessenen, Künstlern und Intel­lek­tuellen zusammensetzt, viel dazu bei, dass San Telmo wieder einen eigenen, ruhigen und menschlichen Cha­rakter zeigt.
Samba
Am heutigen Sonntag ist von dieser Ruhe allerdings nicht viel zu spüren. Jeder zweite Qua­drat­meter der Plaza Dorrego wird von einem Verkaufsstand des Flohmarkts in Anspruch ge­nommen. Dazwi­schen drängen sich Ell­bogen an Ellbogen die Kauf- und Schau­lus­tigen, die auch sämt­liche Haupt- und Ne­ben­straßen voll­stopfen. In den Cafés kann man nur noch Stehplätze erobern. An diesem Nachmittag scheint beson­ders viel los zu sein. Ein Gruppe von Samba-Tän­zern, von einem Schwarm Neugieriger gefolgt, paradiert beim frene­tischen Rhythmus vieler Hand- und Bass­trom­meln die Calle Defensa entlang. Diese "Brasilien-Einlage", die sich mit ihrem Ausdruck von Le­bens­freude und mit­rei­ßender Vitalität so sehr von dem ernsteren, fast ritua­li­sierten Rhythmus des Tan­go unterscheidet, zieht nicht nur mich in ihren Bann.
Tempo, Rhythmus und Sensualität sind die Merkmale dieses Samba-Tanzes auf den Straßen San Telmos. Die Schläge auf die Percussion-Instrumenten sind schnell und anfeuernd, sie peitschen die Tanzen­den auf, bringen ihr Blut in Wallung, berau­schen sie fast. Das Publikum, wird von dieser ge­tanzten Freude mit­ge­rissen.

Booking.com

Abendessen
Langsam - es ist kurz vor 22 Uhr - füllt sich das Restaurant. Um 19 Uhr, zu meiner gewohnten deu­tschen Essenszeit, würde hier noch gähnende Leere herrschen. Eines kann man dieser Stadt nicht absprechen – Lautstärke! Bezog ich das bisher im Wesentlichen auf das Buenos Aires des Auto­ver­kehrs, so komme ich angesichts des Dröhnen von Trommelrhythmen, die bis hinein in das Lokal dringen, nicht drum herum, den Begriff auch auf das Verhalten der Menschen aus­zu­dehnen. Was für Überraschung, als ich in die­ser Musikgruppe wieder das Samba tanzende Mäd­chen von heute Nachmittag erkenne. Sie tanzt immer noch!