|
Sonntag, 30. November |
Haus der Erinnerungen |
Endlich in Bariloche: Ich fahre den Campichuelo hinauf, biege in die Calle Austria ein, lasse mich die hundert Meter Schotterstraße durchrütteln und schon stehe ich vor dem Haus. Als hätte sie bereits auf mich gewartet, taucht Bea hinter dem Gatter auf, begrüßt mich und bittet mich einzutreten. Schön sieht es im neu eingerichteten Wohnzimmer aus. Ich gestehe, dass es mir besser gefällt, als zur Zeit, als meine Tante noch darin wohnte. Der Garten ist immer noch der alte. Alles blüht in einer Pracht, die Tante große Freude bereitet hätte. Wie schon oft, wenn ich Orte meiner Familiengeschichte wieder besuche, überfallen mich grüblerische Gedanken über die Vergänglichkeit und über die Zeit, die die Generationen wegfegt. Sogar Flecki, Tantes Katze hat einer süßen schwarz-rot gefleckten Mieze Platz gemacht. |
Montag, 1. Dezember |
Cerro Campanario |
Klick! Klick! Klick-klick-klick. Bitte ein wenig nach rechts! Lächeln! Klick! Mein Gott, nicht so verkrampft! Klick! Warum dauert es so lange, bis du auslöst, siehst du nicht, was aus meinem Lächeln wird? Klick! Endlich! Inmitten dieser Knipsflut komme ich mir vor wie der einzige Mensch auf der Welt, der vor dieser fantastischen Kulisse nicht fotografiert werden möchte. Bin ich noch zu retten? Ein bekannter Reisejournalist bezeichnete einst diese Aussicht als eine von dreien auf der Welt, die ihn am meisten beeindruckt hatten. |
|
Blick vom Cerro Campanario |
Die confiteria (Konditorei) auf dem Gipfel des Cerro Campanario ist mein liebster Aufenthaltsort, mein Refugium und meine Kraftquelle, wenn ich in Bariloche verweile. Ich habe diesen Berg, der sich nur dreihundert Meter über den Nahuel-Huapi- See erhebt, bereits bei Sturm und Schneetreiben, bei glasklarem und düster-grauem Wetter erlebt. Einmal blies ein derart starker Wind, dass ich nur noch mit Mühe aufrecht stehen konnte. Auch diesmal kamen mir Tränen der Freude, als ich nach so langer Zeit wieder auf der Aussichtsplattform stand.
|
|
Erinnerungsfoto |
Doch zunächst was für ein Schreck, als ich den Parkplatz vor der Talstation des Sessellifts gesteckt voll mit Bussen sah. Das Schlimmste an den Reisegruppen ist nicht nur, dass sie einem auf die Füße treten, dass sie laut sind und einem den Tisch im Restaurant wegschnappen, sondern dass sie einem bewusst machen, dass die Burg /der Berg /die Aussicht weder von uns „entdeckt“ wurde, noch „uns“ gehören. Glücklicherweise entpuppen sich die einzelnen Teilnehmer solcher organisierten Gruppendann meistens als liebenswürdige Menschen wie du und ich. Wobei ich mich aber bezüglich dieser Aussage nicht festlegen möchte ... |
Dienstag, 2. Dezember |
Ginster |
Müsste ich Patagonien mit wenigen Stichworten beschreiben, wären diese zweifelsohne: Wind, weite Landschaften, riesige Entfernungen, stechend klare Luft. Im Frühling könnte ich aber ein anderes auffälliges Merkmal hinzufügen: die Farbe Gelb! An den Straßenrändern, auf nicht bebauten Flächen, an den Seeufern und den Berghängen wächst der Ginster (Retama) und blüht in nicht zu überbietendem Gelb. Er soll ein „Mitbringsel“ der deutschen Einwanderer aus dem 19. Jh. sein. |
|
Ginster überall |
Was dem Touristen als phänomenales Naturschauspiel und Verschönerung der Landschaft erscheint, ist für die Grundstückseigner eine Plage. Denn der eingeschleppte Ginster wächst nicht nur. Er wuchert! Und er überdeckt und verdrängt eine Vielzahl einheimischer Pflanzen. Man hat die größte Not, ihn einzudämmen, dichte Büsche ziehen sich entlang der Straßen bis hoch hinauf in die Berge und verhindern die Beweidung. Aber wen kümmert es? Für mich bleibt er eine Augenweide. Mit dem Auto entlang einer ginstergesäumten Straße zu fahren gehört zu den schönsten Erlebnissen dieser Reise. |
Mittwoch, 3. Dezember |
Holzarchitektur |
Es ist auffallend. In dieser Region der patagonischen Anden findet man einen bizarren, rustikalen Architekturstil, der mir in dieser Form von keiner anderen Gegen der Welt bekannt ist. Sein wesentliches Merkmal ist die Naturstammbauweise, nämlich die Nutzung von Baumstämmen in ihrer ursprünglichen unbehauenen, wenn auch geschälten Form. |
|
Typische Holzarchitektur |
Die historischen Anfänge sind in der markanten, naturnahen Bauweise zu finden, die in den 1940er Jahren von der Nationalparkverwaltung eingeführt wurde. Diese ließ großzügig dimensionierte Gebäude errichten, die am Ort vorhandene Baumaterialien wie Steine und Baumstämme nutzten, letztere als geschälte, behauenen Stämme. |
|
Bizarre Architektur |
Nur wenige Jahrzehnte später fing man an, Bauwerke und Elemente der urbanen Landschaft zu errichten, die sich dem bis dahin gewohnten traditionellen Stil nicht mehr zuordnen ließen. Man begann, zusammen mit den Steinen die Stämme von Zypressen, Coihue (Südbuchen) oder Raulí (Scheinbuchen) zu verwenden, und mit diesen einen ganz besonderen Stil zu entwickeln, bei dem das Material mit all den Unebenheiten seiner Oberfläche, seinen Krümmungen und Unregelmäßigkeiten eingesetzt wurde, um die Schönheit der Formen der Natur besser hervorheben zu können. |
|
Innenraum eines Restaurants |
Die Philosophie, die sich dahinter verbirgt? Manche Menschen sehen nur den Wald. Andere auch die Bäume. Wenn man aber mit der Vorstellungskraft einen Schritt weiter geht, wird man wahrnehmen können, wie sich die Natur in Skulpturen, Häuser oder Einrichtungsgegenstände verwandeln kann. Demnach wird der Feinsinnige in einem Bett nicht nur das Holz sehen, sondern darin auch den Wald wieder erkennen können, beide Elemente zu einem Kunstwerk verschmolzen. |
Donnerstag, 4. Dezember |
Blühendes Patagonien |
Seien es die lilablauen Lupinen, die leuchtenden Ginstersträucher oder die malvenroten Jacarandás, blühende Pflanzen können durch ihre Farben Assoziationen zu einem Land oder einer Gegend wecken, die sich manchmal bis zur Symbolkraft verdichten. |
|
Notro |
Der Calafate-Strauch (Buchsblättrige Berberitze) mit seinen gelben Blütenbüscheln ist das Symbol Patagoniens schlechthin. Seine schwarzen kugeligen Früchten sollen ähnlich wirken wie die Münzen, die man in den Trevi-Brunnen in Rom wirft: Wer nämlich von diesen Calafate-Beeren esse, der werde unweigerlich zurück nach Patagonien kommen, so eine Legende. |
|
Notro |
Der Feuerbusch, hier in Patagonien unter dem Namen Notro – den ihm die Mapuche-Indianer gaben - bekannt, hat zwar weniger Symbolcharakter, ist aber wegen seinen spektakulären leuchtend roten Blüten sehr beliebt. |
Wer im Frühling in Patagonien unterwegs ist, kann ihn eigentlich nicht übersehen, denn er blüht eines sehr intensiven Rots. Er findet sich überall: an der Straßenrändern, in den Gärten, auf den Berghängen und in den Wäldern. Der wissenschaftliche Name des Baumes ist Embothrium coccineum. Gewöhnlich wächst er zu einem Bäumchen von etwa vier Meter Höhe, in den kalten Regenwäldern des chilenischen Seengebietes und Patagoniens kann er aber bis zu fünfzehn Meter hoch werden und einen Umfang von bis zu eineinhalb Metern erreichen. Seine Rinde ist dunkelgrau. Sein hellrosa Holz wird verwendet, um Holzlöffel anzufertigen, Küchengefäße und weitere Kunsthandwerksgegenstände. Seine Blütezeit ist im Südfrühling, vom Oktober bis Dezember. |
|
Booking.com
|
|
Freitag, 5. Dezember |
Ruhige Tage in Bariloche |
Das kleine Apartment in der etwa sechs Kilometer vom Zentrum entfernten Bungalow-Anlage San Isidro verleitet mich mit seinem Komfort und der herrlichen Aussicht auf den See zum Nichtstun: Schreiben, Lesen, Revue passieren. Nachts, während der Sternenhimmel auf den See herabblickt, kann ich das Rauschen der Wellen bis in mein Schlafzimmer hören. |
|
Gewitterwolken über dem Nahuel-Huapi-See |
Ich kann mich nicht entschließen, wieder ein Auto zu mieten, denn mein Respekt für die hiesigen Landstraßen ist ungebrochen und die hohen Kaskobeiträge der Versicherungen schrecken mich nicht weniger ab. Eine gewisse Erlebnismüdigkeit vergrößert diese Unentschlossenheit noch zusätzlich. |
Die Tage vergehen im Nu. Tagsüber ist ein kurzer Besuch in Catis Geschäft (Cati war die liebste Freundin meiner verstorbenen Tante) fast schon (wie es Tante früher tat) zur Tradition geworden. Die persönliche Freundschaft, das gemütliche Ambiente des Ladens und die Tatsache, dass ich hier Deutsch sprechen kann, geben meinem Aufenthalt in Bariloche fast schon den Charakter eines Urlaubs in der Heimat. Beim darauf folgenden, unvermeidlichen Besuch im Cafe del Turista fühle ich mich längst als Stammgast. |
|
|