Reise durch Patagonien - Ein Bildband mit über 200 Bildern
Was mache ich hier
(Bruce Chatwin)
Comodoro Rivadavia
Nach fünfundzwanzig Stunden Busfahrt kommen wir endlich in Comodoro Rivadavia an. Es ist 22 Uhr und ich habe noch kein Quartier. Ein sympathischer Taxifahrer mit einer filmreifen Visage hilft mir, die Hotels alle abzuklappern, mit Betonung auf „alle", denn die Suche gestaltet sich alles andere als einfach. Nicht nur, dass die Hotels mit bis zu 150 Euro pro Nacht (auch für argentinische Verhältnisse) wahnsinnig teuer sind, es kommt noch dazu, dass sie durch die Bank alle ausgebucht sind. Erst nach mehr als einer halben Stunde im Taxi finde ich endlich ein Zimmer im Hostal Belgrano - einer ziemlich schmuddeligen Absteige.
Die Argentinier sind stolz darauf, das weißeste Land Südamerikas zu sein. Wenn ich freilich die Gesichter jener Menschen betrachte, die nicht in maßgeschneiderten Anzügen in der City von Buenos Aires herumlaufen, in den vornehmen Restaurants dinieren, in den besten Hotels absteigen und gut bezahle Jobs in den Städten haben, dann entsteht bei mir ein etwas abweichender Eindruck.
In der Provinz, an das Bushaltestellen, in den weniger feinen Restaurants, an den Stränden und vor den Hamburger-Kiosken, dort wo sich die Jugendlichen der Unterschicht treffen und die Mädchen in eng anliegenden Leinwollhemden die Hüften wiegen, dort sehe ich in der Linie der Augen, in der etwas überhängenden Haut über den Augenlidern, in den kräftigen, kohlrabenschwarzen Haaren, in der gelblichbraunen, glatten Haut, in der kompakten Form der Körper und in den fleischigen Lippen, die an den Rändern dunkle Blauschattierungen haben, das Erbe der indigenen Völker. Man muss nur sehen lernen.
Der offiziellen Statistik nach stammen mehr als 90 % der Argentinier von Europäern ab, davon 36 % von Italienern, 29 % von Spaniern und 3–4 % von Deutschen. Die Nachkommen der Ureinwohner sind heute nur noch eine kleine Minderheit. Dies liegt zwar auch daran, dass vor der Kolonialzeit nur der Nordwesten Argentiniens dicht bevölkert war, aber der Hauptgrund dürfte der sein, dass die Indianer von Spaniern und Argentiniern weitgehend ausgerottet wurden.
Vom staatlichen Indianerinstitut INAI wird die Zahl der Indianer auf etwa 1 Million geschätzt, von den Indianer-Organisationen jedoch auf immerhin mehr als 1,5 Millionen. Aber das Erbe der Ureinwohner ist ja auch in den Mestizen zu sehen, deren Anteil bis vor wenigen Jahrzehnten auf weniger als 10 % geschätzt wurde.
Inzwischen geht man aber von einem weitaus höheren Anteil in der Bevölkerung aus. Diese Abweichung beruht vermutlich darauf, dass sich die Mestizen früher oft als „Weiße“ ausgaben, um weniger diskriminiert zu werden.
Erdöl
Als ich aus der Pizzeria trete, habe ich den Satz „Muchas gracias y que termine bien el dia“ (Vielen Dank und setzen Sie den Tag gut fort) noch im Ohr. Es reicht so wenig, um mich zu beglücken! So uninteressant und langweilig diese Industriestadt auch ist, der Gedanke allein, dass ich so „weit weg von allem“ bin, löst eine beispiellose Euphorie bei mir aus. Diese wird auch dadurch noch verstärkt, dass Patagonien sein Versprechen wieder gehalten hat: Die Luft ist kristallklar, der Himmel bisweilen ein Farbschauspiel und das Licht streichelt morgens und abends meine Seele mit seiner unverwechselbaren Sanftheit.
Schiffswrack im Hafen
Weshalb die Stadt so teuer ist, ist bald geklärt. Comodoro Rivadavia ist nämlich eines der wichtigsten Zentren der argentinischen Erdölproduktion und der Standort mehrerer Industriebetriebe, die das Rohöl verarbeiten. Zudem ist es die Handelsmetropole für den gesamten Süden Patagoniens. Dadurch ist Comodoro Rivadavia eine im innerargentinischen Vergleich reiche Stadt. Der Tourismus, wofür die Stadt allerdings nur Ausgangspunkt von Touren ist, trägt das Seine dazu bei.
Ein Auto muss her
Weil auch ich die Stadt nur als Basis für längere Abstecher in die Umgebung betrachte, muss ich mir schnellsten ein Mietauto besorgen. Nach einem Preisvergleich zwischen diversen Anbietern miete ich schließlich bei Hertz einen kleinen Corsa, der hier „Chevrolet Corsa“ genannt wird. Ich ändere auch mein Konzept und entscheide mich dafür, das Auto für die ganze Fahrt nach San Carlos de Bariloche zu mieten, um es dort abzugeben und nicht hier in Comodoro Rivadavia, wie ich es zuerst beabsichtigte. Weil aber die Hertz-Filialen hier im Lande völlig unabhängig voneinander sind, kostet mich das eine sehr hohe „Abholgebühr", umgerechnet etwa 200 Euro, die zu den Gesamtkosten hinzukommen.
Außerdem muss ich eine Versicherung abschließen, was mit einem sehr hohen Eigenbehalt verbunden ist, nämlich 350 € bei Teilschaden (kleine, durch Steinschlag verursachte Kratzer werden angeblich großzügig übersehen) und 1.200 € bei Totalschaden. Das genaue Wort, das für letzteren verwendet wird, ist vuelco, das wörtlich „Überschlag“ bedeutet. Was für eine ermutigende Perspektive! Offensichtlich kommt es nicht selten vor, dass Touristen beim unvorsichtigen Fahren auf Schotterstraßen, ihren Wagen zum Umkippen bringen.
Freitag, 21. November
Jaramillo
Herr Celestino Kühnle erzählt freimutig, verwundert und erfreut zugleich, dass sich hier in diesem unscheinbaren Ort in den Weiten Patagoniens jemand für seine Geschichte interessiert. Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, strahlen die ruhigen, ernsten Augen des 65-jährigen. 1921 kam sein Vater mit den Eltern aus Deutschland nach Argentinien. Nach vielen Geschehnissen verschlug es die Familie schließlich nach Puerto Deseado, in dessen Nähe Celestinos Vater eine Estancia, kaufte, wo die Familie sich der Schafzucht widmete. Bis zu dreitausend Tiere nannten sie zeitweise ihr eigen.
Celestino Kühnle
1990, nach dem Tod seines Vaters, führte Celestino die Estancia zwar eine Weile weiter, die Zeit aber, in der Wolle als das weiße Gold Argentiniens galt, waren längst vorbei. Der Wollpreis war in den Keller gesunken und hatte sich nicht mehr erholt. So nahm Celestino einige Jahre später eine Arbeit für die Regierung in Jaramillo an, und seit einem Jahr führt er nun mit seiner Frau diesen comedor (Gastwirtschaft). Wenn ich die Gesichtszüge seiner Tochter und seines Enkels betrachte, sehe ich darin kaum noc etwas Deutsches. Nach nur zwei Generationen sind es nur noch Argentiner.
Celestino Kühnles Vater
Die Begegnung mit Herrn Kühnle verdanke ich gewissermaßen dem britischen Schriftsteller Bruce Chatwin, denn hätte ich seinen Roman „In Patagonien“ nicht gelesen und Chatwins Foto des verlassenen Bahnhofs von Jaramillo nicht gesehen, wie hätte ich überhaupt auf diesen unbedeutenden Fleck auf der argentinischen Landkarte kommen können?
BUCHEMPFEHLUNG
In Patagonien: Ein „Muss“ für Reisende nach Patagonien. Bruce Chatwins behutsame Art, auf die Einheimischen wie auf die Eingewanderten zuzugehen oder den Schicksalen Verschollener nachzuforschen, sind der Schlüssel zu abenteuerlichen Entdeckungen.
Die Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, beruht nicht allein auf seine gewaltige Abgeschiedenheit, auf die Weite seines Himmels oder auf die Intensität, mit der die klare Luft seine Farben akzentuiert. Sie ist vor allem auf das Zusamenführen von alldem, was meine Fantasie im Laufe der Zeit in meinem Kopf zusammengebraut hat: die Sehnsucht nach Abenteuern, die Einblendungen von Wildwestfilmen und -geschichten, die Assoziationen, die Verstaubtes und Verfallenes zum unentrinnbaren Verstreichen der Zeit bei mir wecken.
Im aufgelassenen Bahnhof von Jaramillo
In diesem kleinen Ort steckt mehr Geschichte, als man auf Anhieb denken könnte. Auf den Eisenbahnschienen, die 1908 von der argentinischen Regierung in einem außergewöhnlichen Kraftakt hierhin verlegt wurden, fährt seit langem kein Zug mehr, sie rosten nur noch vor sich hin. Die Strecke wurde damals mit dem Ziel gebaut, die Weiten dieses Landes zu erschließen, um es wirklich in Besitz nehmen zu können. Dabei dachte man weniger an die arbeitenden Massen, vielmehr an die Schafszuchtbarone, die herrschende Klasse, die mit ihrem Reichtum die Redensart „reich wie ein Argentinier“ entstehen ließ.
Im aufgelassenen Bahnhof von Jaramillo
Ich komme auch mit einem Angestellten der Comision de Fomento (Entwicklungsbehörde) ins Gespräch. Ich zeige ihm das Foto des alten Bahnhofs in Chatwins Buch und wundere mich nicht wenig, als er mir gesteht, noch nie etwas von diesem Autor gehört zu haben. Während er voller Begeisterung eine Anzahl der Bilder fotokopiert, gibt er mir einen Einblick in die Geschichte von Patagonien und diesem geschichtsträchtigen kleinen Ort am Ende der Welt.
Tragisches Patagonien (*)
Am Anfang des 20. Jahrhunderts war Patagonien argentinisches Gebiet. Hier arbeiteten „peones“ (Landarbeiter) aus dem nördlicheren Argentinien, aber auch Spanier, Italiener, Polen und Chilenen für eine Handvoll Großgrundbesitzer. Auf riesigen „Estancias“ – Latifundien von teilweise mehr als 100.000 ha – wurden die Arbeiter regelrecht ausgebeutet: Hungerlöhne und Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden pro Tag. Die Chilenen bekamen sogar nur die Hälfte des Lohns. Interessant zu erwähnen ist, dass ein Großteil der Estancias im Besitz von Ausländern waren, in erster Linie Briten.
Dieser Museums-Eisenbahnwagon (Puerto Deseado) wurde bei den Ereignissen von 1920-1921 eingesetzt.
Am 1. November 1920 wurde aufgrund einer Resolution der von Antonio Soto geleiteten Federacion Obrera Regional Argentina von Río Gallegos, die Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, der Generalstreik auf allen Estancias des Territoriums ausgerufen. Die Forderungen der Arbeiter waren aber äußerst bescheiden. Neben geringen Lohnerhöhungen verlangten sie nur ein paar Verbesserungen der Arbeitsbedingungen (bsispielsweise die Unterbringung von maximal drei Arbeitern pro Raum von 16 qm, Einstellungsmöglichkeit für verheiratete Arbeiter etc.).
Anfangs gab es, obwohl die Streikende mancherorts Polizisten und Estancieros als Geiseln genommen hatten, keine nennenswerten Gewaltsakten. Einzige Ausnahme war die Aktionen der Anarchisten-Bande von Alfredo Fonte, die einzelne Estancias überfielen. Diese Überfälle, von denen sich die Streikenden unter Antonio Soto distanzierten, wurden später als Rechtfertigung für die militärischen Operationen genommen.
Um diesen Generalstreik zu beenden übten die Engländer und der Gouverneur, der auch der Vertreter der Großgrundbesitzer war, starken Druck in Buenos Aires aus, was Argentiniens Präsidenten, Dr. Hipólito Yrigoyen, zur Entsendung eines Kavallerieregiments nach Patagonien veranlasste, um die Situation in den Griff zu bekommen. Das Kommando bekam Oberstleutnant Varela.
Varela, selbst von den schlechten Arbeitsbedingungen der Landarbeiter überzeugt, brachte auf eigene Initiative einen Vertrag in die Wege, der sowohl von den Landarbeitern als auch von den Großgrundbesitzern akzeptiert und am 22 Februar 1921 unterschrieben wurde.
BUCHEMPFEHLUNG
Aufstand in Patagonien: Der Historiker und Publizist Osvaldo Bayer und macht die Arbeitskämpfe erstmals öffentlich. Das Buch erzählt anschaulich und mit vielen Beispielen die Geschichte der Streiks und die individuellen Schicksale vieler Beteiligten.
Doch die Großgrundbesitzer von Santa Cruz hatten keinen Augenblick daran gedacht, den Vertrag zu erfüllen. Kaum waren die Truppen weg, schon hielten sie sich nicht daran. So kam kam es erneut zum Generalstreik. Die Großgrundbesitzer flohen in die Städte an der Atlantikküste oder nach Buenos Aires, wo sie alle Hebel in Bewegung setzten, um den Streik zu beenden.
Nach der Festnahme seitens der Polizei von einzelnen Führern der
Arbeiterbewegung verschärfte sich die Situation. Wieder schickte Yrigoyen Oberstleutnant Varela nach Patagonien mit dem Befehl, die Ordnung wieder herzustellen und die Streiks zu beenden. Er genehmigte auch extreme Maßnahmen. Was dann geschah, ist unbegreiflich. Oberstleutnant Varela kümmerte sich nicht im Geringsten um die Erfüllung des Vertrags, den er selber mit unterschrieben hatte, sondern begann sofort mit der Erschießung der Streikenden und ihrer Delegierten.
Aufnahme aus dem Film „Patagonia rebelde“
Unter den Streikenden, die sich wehrten, war die Gruppe von José Font, auch "Facón Grande“ genannt. Als am 20. Dezember 1921 Oberstleutnant Varela per Eisenbahn mit einer Einheit im Bahnhof von Tehuelches ankam, fand der einzige Widerstandsakt des gesamten Streikes statt. In einer Schießerei wurde ein Soldat verletzt und ein weiterer getötet. Varela musste sich zurückziehen.
Daraufhin bediente sich Varela einer Strategie, die man unverhohlen als Verrat bezeichnen kann. Er ließ „Facón Grande“ in das Militärlager in Jaramillo kommen, um mit ihm zu „verhandeln", ließ ihn aber bei seiner Ankunft sofort erschießen.
Gefangengenommene Landarbeiter
Die Landarbeiter der Estancia „La Anita“ hatten inzwischen beschlossen, die „bedingungslose Kapitulation“ zu akzeptieren, die Varela verlangte, und Abgeordnete zu ihm geschickt. Nur der anarchistische Aktivist Antonio Soto folgte nicht dem
Mehrheitsbeschluss der Versammlung und floh mit einigen Kumpeln in die Kordillere. Sie sollten zu den wenigen Überlebenden gehören.
Die Soldaten baten die Estancia-Besitzer, die Rädelsführer zu denunzieren. Diese wurden dann als erste erschossen, dann die Chilenen und weitere Streikende. Auf der „La Anita“ alleine zählte man Hunderte Erschießungen. Diese Hinrichtungen führten zum Ende des Streiks. Die überlebenden Arbeiter berichteten von insgesamt 1500 Erschießungen. Die Estancieros brachen nicht nur den Vertrag, sondern setzten auch noch die Löhne herab. Die Arbeitsbedingungen wurden erschwert.
Am 27. Januar 1923 verübte Kurt Gustav Wilckens, ein deutscher Anarchist, ein Attentat auf Varela, wobei dieser getötet wurde. Wilckens selbst wurde später im Gefängnis ermordet.
Trotz der Forderungen der Opposition, eine Kommission nach Patagonien zu entsenden, um die Zahl der Todesopfer und das Verhalten der Militärs zu dokumentieren, wurden die Gräueltaten niemals offiziell untersucht. Die Gewerkschaftslokale von Santa Cruz wurden zerstört, die Bibliotheken niedergebrannt. Die Massengräber wurden nie gekennzeichnet. Die katholische Kirche hat über diese Ereignisse geschwiegen. Keine der nachfolgenden Regierungen hat je eine Untersuchung eingeleitet.
Erst 1968 begann der Autor Osvaldo Bayer mit Nachforschungen, die als das Buch „La Patagonia rebelde“ (Das rebellische Patagonien) erschienen. Auf der Basis des Buches wurde später der gleichnamige Film gedreht, der 1974 den Silbernen Bären bei den Berliner Filmfestspielen gewann.
Film „La Patagonia rebelde“ (Spanisch)
Dieser wurde aber von der Regierung von Isabel Perón in Argentinien verboten. Erst nach dem Sturz der Militärdiktatur 1983 konnte der Film in Argentinien endlich gezeigt und Bayers Bücher herausgegeben werden.
Es begann eine Kampagne zur Rehabilitierung der Hunderten von ermordeten Streikenden. Dem Gaucho José Font wurde hier in Jaramillo, an der Stelle, wo er hingerichtet wurde, ein Denkmal gesetzt. Eine Straße in Río Gallegos trägt den Namen „Antonio Soto“. Auf der Estancia „La Anita", wo Hunderte Arbeiter in einem Massengrab liegen, wurde ein Ehrenmal errichtet. Am Grab von Oberstleutnant Varela findet man hingegen nur eine Tafel mit der Inschrift: „Die Briten von Patagonien, Oberstleutnant Varela zu ewigem Dank verpflichtet, da er seine Pflicht erfüllt hat."
Diese Zeiten sind längst vorbei. Im Ort reihen sich schmucke, bunte, unromantische Bungalows aneinander, in denen Menschen leben, die mit Landwirtschaft nicht mehr viel zu tun haben. Sie arbeiten hauptsächlich in der Verwaltung und im Tourismus, denn etwa 130 km von hier liegt ein zu Stein gewordener Wald, der seit langen zum Nationalpark deklariert worden ist.
(*) Textauszüge aus einem Artikel von Osvaldo Bayer.