Montag, 27. Oktober
Sicherheit
Als ich in der noblen Avenida de Mayo Anstalten mache, ein be­sonders in­te­ressantes Ge­bäu­de zu fotografieren, werde ich von einem agente de poli­cia federal ange­sprochen. Ich solle bitte das da­ne­ben stehende Bank­ge­bäude nicht ablichten. Was bedauerlich ist, denn ohne dieses Foto wer­den es meine Komplizen und ich nicht leicht ha­ben, den beabsichtigten Bankraub zu planen. Er­staun­lich wie oft ich allein wegen meiner Ka­me­ra mit dem Thema „Si­cher­heit“ konfrontiert wer­de, nicht zu­letzt mit der häufigen, freundlich ge­meinten Ansprache mit „cuidado!“ (Vorsicht).

"Die Empörung über das, was man als die un­aufhaltsame Ausbreitung der Kriminalität emp­fin­det, und vor allem das Fehlen einer Ant­wort seitens der Behörden mobilisierte gestern Nach­mittag eine große Menschenmenge vor der Ge­mein­de­verwaltung von San Isidro (einem Vier­tel Bue­nos Aires'). Dort, in einem Viertel, das gro­ße Massenkundgebungen nicht gewohnt ist, ver­sam­mel­ten sich, um mehr Sicherheit und strengere Gesetze zu verlangen, mehr als 18.000 Bürger.“(La Nacion)

Architektur
PLAZA DE MAYO
Die Stadt, die in der zweiten Hälfte des zwan­zig­sten Jahrhunderts un­kon­trol­liert ge­wach­sen ist, ist heute eine Mischung von Reminiszenzen aus der kolonialen Vergangenheit, dem Europa der Jahr­hundertwende und Un­men­gen von Hoch­häu­sern, die nicht nur in der City in den Him­mel ra­gen. Man nannte Buenos Aires einst das „Paris Lateinamerikas“, hatte man doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts Europa und insbesondere Paris als städte­bauliches Vorbild genommen. Hunderte von Stadtpalästen wurden den jeweils neuesten Pariser Stil­rich­tun­gen nach­gebaut, vom Neo­klassi­zis­mus bis hin zur Art nouveau.
Taxis vor der CASA ROSADA
Die Casa Rosada, beispielsweise, das Re­gie­rungs­gebäude, wurde 1887 im Stil der spä­ten ita­lie­nischen Renaissance erbaut während die fast zwei Kilometer lange Avenida de Mayo ist eine einzige lange Reihe von repräsentativen Bau­ten aus der Jahrhun­dert­wen­de.
An der Plaza del Congreso
Auf dieser Avenida befindet sich auch das be­rühm­te Café Tortoni, das mit Möbeln aus dem Fin de Siècle ausgestattet ist und zum Be­su­cher­magnet geworden ist. Das 1906 vom ita­lie­nischen Archi­tek­ten Vittorio Meano gebaute Kon­gress­pa­last ist eines der monumentalsten Bauwerke des Eklektizismus in Argentinien.
palacio del Congreso
Unglücklicherweise wurde die Stadt zu einem An­ziehungspunkt für die verarmte Land­be­völ­kerung und für Tausende Ein­wan­derer aus einem ver­un­sicherten Europa. Die Stadt brauchte Wohn­raum. Sie wuchs in die Höhe, ihren nord­ame­ri­ka­nischen Vetter nacheifernd. Noch allerdings war der Geist der Architektur nicht erloschen.
Antike Uhr an der Caja de Prevision
Wunderbare, fast barocke Gebilde preschten in die Höhe, als seien Zucker­bäcker am Werk. Die Zeiten wurden aber immer nüchterner, immer we­ni­ger bemühte man sich um so etwas wie Stadt­planung und überließ endgül­tig das Bauen dem freien Spiel der Kräfte.
Es wurde abgerissen, historisch Gewachsenes durch Massenhaftes, Billiges, Un­über­leg­tes, Protziges, Nichtssagendes und Voluminöses ersetzt. Die Stadt wurde zur Antithese von Architektur, zum reinen Wildwuchs, zehn- bis fünf­zehnstöckige Häuser wuchsen wie Unkraut in den Blumenrabatten eins­ti­ger Schönheit. Die einst so anmutende Architektur wurde in wenige Nischen verdrängt, sie verschwand zwischen immer höheren, immer nüch­ter­ne­ren Klötzen. Der Größenwahn und die beispiellose Selbst­über­schätz­ung dieses Landes, die sich bis dahin nur in repräsentative öf­fent­liche Bauten und unzählige protzige Denkmäler von Conquista­dores, Ge­ne­rälen und Cau­dillos ge­flos­sen war, mündete nun in ungezügelte Bauwut.
Hochhäuser im Microcentro
Werbung
Die Werbung gab schließlich dem Stadtzentrum den Rest. Aus kleinen Schildern und dezenten Aufschriften wurden Aufmerksamkeit heischende Neonreklamen oder großflächige Aushänge, aus bescheidenen Schaufenstern überdimensionale Glasfronten, die die Erdgeschosse architektonisch völlig entmaterialisierten. Gleichzeitig wuchsen, wie Wälder auf den Dächern und Flechten auf den Fassaden, enorme Werbeplakate ins Stadtbild hinein, bis sie mit ihrer Allgegenwärtigkeit jeg­liche Ästhetik erstickten.
Wenn ich daran den­ke, dass in manchen Städten Italiens sogar die Größe und die Farben der Sonnenschirme in den Straßencafes vorgeschrieben werden, damit das Stadt­bild nicht verunstaltet werde, merkt man welche Unkon­trol­lier­barkeit und Kul­tur­lo­sigkeit der Städtebau in dieser Stadt erreicht hat.
Wie überrascht bin ich deshalb, als ich von den Maßnahmen lese, die die Stadtverwaltung zur Ent­rumpelung des öffentlichen Raumes in Aus­sicht stellt. Sie zielen nämlich auf die Re­du­zie­rung der Außenwerbung. Unter anderem soll die Werbung in den Wartehäuschen des öffentlichen Verkehrs nur auf die In­nenstadt beschränkt werden und in den Wohnvierteln, wie auch jede andere Wer­bung, gänzlich verboten.
Werbeflächen, die quer zum Bürgersteig an­ge­bracht sind, müssen ent­fernt werden. Wer­be­pla­kate auf den Dächern sollen auf gewisse Stadt­ge­biete beschränkt werden. Ich bin jetzt schon neugierig auf meinen nächsten Besuch!

BUCHEMPFEHLUNG
Buenos Aires - Eine litera­rische Ein­la­dung: Zahl­reiche erst­mals ins Deut­sche über­setz­te Texte von César Aira, Ro­ber­to Arlt, Jorge Luis Bor­ges, Mar­tín Ca­parrós, Ju­lio Cor­tá­zar, Maria­na Enrí­quez, Leila Guer­riero und vielen mehr führen durch die fas­zi­nie­ren­de multi­kul­tu­rel­le Metr­opole am Río de la Plata.

Ombù, mi amor!
Es gibt keinen zweiten Baum auf der Welt wie den Ombù (Phytolacca dioica). Dieser Baum ist eigen­tlich, so merkwürdig das einem vorkommen mag, wenn man vor seiner riesigen, eigen­tüm­li­chen Gestalt steht, gar kein Baum, son­dern ein Strauch. Als solcher hat er auch keine Jah­res­ringe. Es ist der einzige „Baum“, der, dank seines geringen Wasserbedarfs in der Pampa wächst.
Sein wuchtiger, feuerresistente Stamm hat was­serspeichernde Eigenschaften, was aus ihn eine ausgezeichnete Anpassung an die Pampa macht, die häufig von Buschbränden geplagt wird.
Deshalb und wegen seiner zuweilen riesigen schattenliefernden Krone wurde er zum Symbol Ar­gen­tiniens. Der Ombù wächst schnell, kann sehr groß wer­den und hat tief sitzende, waag­rechte Äste, und sein enormer Umfang zählt oft mehr als fünfzehn Meter. Sein Holz ist schwam­mig und weich genug, um mit einem Messer durchgeschnitten zu werden.
Was ihn aber zu meinem Lieblingsbaum macht, das sind seine surreal aus­sehenden dicken Wur­zeln. Diese Wurzeln die sich strahlenförmig vom Stamm aus wie die buckeligen Tentakeln einer Krake ausbreiten, können wie die Rüssel eines Elefanten aussehen (was dem Ombù auch den Namen „Ele­fan­tenbaum“ gegeben hat), wie der Wachs einer Kerze, der am Boden zerfließt, wie ganze Berglandschaft oder urzeitliche Drachen, Schlangen, Hundeköpfe. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.