Die Stadt ist ein Häusermeer, dessen Ende man auch vom höchsten Gebäude nicht erkennen kann, ein Zwölf-Millionen-Moloch, der niemals zur Ruhe zu kommen scheint. In der Innenstadt – aber überall ist „Innenstadt“ – wimmelt es nur so von Menschen, die ständig in Bewegung sind. Permanenter Autolärm erfüllt die Luft. Manche Straßen sind so breit, das man sich beeilen muss, bei einer grünen Ampelphase die andere Straßenseite rechtzeitig zu erreichen. Warum so viel Verkehr?
Wo kommen diese Automengen her, die die Avenida 9 de Julio und alle weiteren Straßen vollstopfen? Die riesigen Entfernungen dieser Stadt setzen mir zu. Für jemanden wie mich, der es gewohnt ist, sich weitgehend per Fahrrad oder per Pedes fortzubewegen, wird jeder Weg zu einem elenden, kilometerlangen Leidensmarsch.
Samstag, 25. Oktober
Formel 1
Auf der Avenida 9 de Julio, der mit ihren sieben Spuren pro Fahrtrichtung breiteste Allee der Welt, findet derzeit vor etwa 80.000 Zuschauern ein Schaurennen zu Ehren des schottischen Rennfahrers David Coulthard statt, der sich aus dem aktiven Sport zurückzieht.
Sollte ich auch nur für einen Augenblick gedacht haben, ich würde mit meinem Rückzug ins Cafe Plaza dem Rummel um die Formel 1 entkommen, so habe ich mich reichlich getäuscht. Eines ist immerhin beruhigend: Den Gästen im Café und den Passanten, die draußen auf der Straße stehen und wie entgeistert in meine Richtung blicken, geht es nicht im Geringsten um mich, um meine empanadas, oder um das Bier, dass ich unabsichtlich verschüttet habe. Sie verfolgen lediglich die „exhibicion de formula uno“ auf dem Fernseher, der genau hinter mir steht.
Die Innenstadt von Buenos Aires ist im Ausnahmezustand! Schon lange vor dem Startschuss standen die herbeigeströmten Zuschauer dicht gedrängt vor den Absperrungen um den 1400 Meter langen Rundkurs oder waren auf Bäume, Baugerüste, Plakatwände oder Ampelmaste geklettert. Es bekommt zwar nur eine kleine Minderheit überhaupt etwas zu sehen, aber alle erleben die Atmosphäre, den Lärm und die Festtagsstimmung dieses Ereignisses.
Wir Gäste in diesem Cafe haben es mit der Direktübertragung besser. Die Hektik, die vorherrscht, das Hin und Her der Kellner, die mit den Kaffees und chops (so nennt man hier Bier vom Fass) auf ihren Tabletts jonglieren sowie das Stimmengewirr der Gäste, das alles nimmt man gerne in Kauf. Besser gesagt, man nähme es in Kauf, wenn man sich für diese Sportart auch nur ein wenig interessierte. Was bei mir, der ich immerhin nach dem bekannten Rennfahrer Bernd Rosemeyer benannt wurde, aber kaum zutrifft. Jedes Mal wenn ich daran denke, dass meine Mutter seit Lebens ein Formel-1-Fan war, muss ich kräftig schmunzeln.
Andererseits kann ich nicht leugnen, dass die Kraft, die ein mit 300 km/h über den Asphalt fegender Rennwagen mit dem röhrenden, ohrenbetäubenden Lärm seines hochtourigen Motors und mit dem fast „singenden“ Quietschen seiner Reifen und dem beißenden Geruch der erzeugten Rauchwolken versinnbildlicht, ein Erlebnis ist, das auch mich nicht unbeeindruckt lässt. Ich kann mir den Kitzel sehr wohl vorstellen, den sie bei den Zuschauern, bzw. Zuhörern verursachen.
Im Lezama Park
Zurück in der Casita de San Telmo, wo ich untergebracht bin, werfe ich mich zunächst schlapp und übel gelaunt – die Stadt ist ganz schön anstrengend – aufs Bett. Bald raffe ich mich aber wieder auf, nehme die Kamera und begebe mich hoffnungsvoll zum Parque Lezama. Es ist bereits „die Stunde, die die Sehnsucht weckt, die weicher macht die Herzen“, wie es der italienische Dichter Dante Alighieri in seiner Göttlichen Komödie treffend beschrieb.
Schachspielen am Lezama-Park
Im Park fällt mir gleich ein kleiner Menschenauflauf auf. Dicht gedrängt sitzt Jung und Alt auf den Treppen eines Art Amphitheaters, während auf einer provisorischen Bühne im Freien eine Theatervorführung stattfindet.
Ich kann nicht anders als mich ebenfalls dazuzusetzen und mich – es ist Sache weniger Minuten – mitreißen zu lassen, die Stimmen, die Sprache, die Bewegungen und das Licht auf mich einwirken zu lassen und in einer stark gefühlten Gemeinschaft mit den anderen Zuschauern in die Handlung des Stückes einzutauchen. Nicht, dass ich ab und zu nicht zur Kamera greifen würde, aber die Kraft des Theaters ist stärker, zumal die Texte, die ich bei weiten nicht immer verstehe, von Zeit zu Zeit von den Klängen einer Laute und der unwahrscheinlich klaren, hohen Gesangsstimme eines der Schauspieler begleitet werden.
Als ich aufstehe, bin ich zu Tränen gerührt, nicht so sehr wegen der Handlung des Stückes (es starben am Ende alle), sondern wegen des nicht zu unterdrückenden Gefühls, dass jemand dort oben auf mich aufpasst. Ein imaginärer Jemand, der, wenn immer er merkt, dass ich zerstört am Boden bin, mir irgendetwas zukommen lässt, das meine leeren Gefühlsbatterien wieder auflädt, ein himmlisches Dessert, gewissermaßen, nach einem magenverstimmenden Essen.
BUCHEMPFEHLUNG
Buenos Aires - Eine
literarische Einladung: Zahlreiche erstmals ins Deutsche übersetzte Texte von César Aira, Roberto Arlt, Jorge Luis Borges, Martín Caparrós, Julio Cortázar, Mariana Enríquez, Leila Guerriero und vielen mehr führen durch die faszinierende multikulturelle Metropole am Río de la Plata.
Die Gefahr
Noch mit Freudentränen in den Augen spaziere ich durch den abendlichen Park. Die Vögel zwitschern, kreischen oder trillern ihre Lebensfreude (oder ihren Revieranspruch) gegen den Himmel, und die blaue Dunkelheit ist gerade in Begriff, sich mit der goldenen Farbe der Straßenlaternen zu vereinen.
Einer dieser Vögel muss wohl ein kleines Bedürfnis gehabt haben, denn unversehens bekomme ich ein stinkendes Etwas auf Kopf, Pullover und Fototasche. Wie gut, dass ein hilfsbereiter Porteño (so nennen sich die Einwohner Buenos Aires') mich zu einer nahen Wasserzapfstelle führt. Während ich meine Kameratasche reinige, bemüht er sich um meinen Pullover. Ich bin zwar naiv, aber sicher nicht auf den Kopf gefallen. Ich beobachte genau, wie sehr der „hilfsbereite“ Mann, dauernd auf meine Fototasche starrt.
Die Schutzengel
Zwei Passanten warnen mich lautstark mit den Worten: „Te van a robar“ (sie wollen dich ausrauben). Nachdem ich schleunigst auch meinen Pullover wieder zu mir genommen habe, entfernt sich der „Hilfsbereite“ unauffällig und mit raschen Schritten von der Stelle. Aber noch schneller holen die Passanten einen agente de policía (Wachmann) herbei. Während mir die letzten Schuppen von den Augen fallen, erläutern sie dem schwarzgekleideten Polizisten das Geschehen aus ihrer Sicht. Der hilfsbereite Porteño sei nicht allein gewesen, sagen sie. Wie im Zangengriff sei das Opfer (also ich) zwischen dem „Helfer“ und zwei Komplizen gestanden, einem Jungen und einem Mädchen, die aus geringer Entfernung die Szene beobachteten. Hätte ich nicht jeden Augenblick meine heimliche Geliebte (die Kamera) fest im Griff gehabt, es hätte kein gutes Ende genommen. Und das am TAG VIER meiner Reise!
Der agente fragt mich, ob ich Anzeige erstatten möchte. Aber nein, versicher ich, merkwürdigerweise immer noch menschenfreundlich gesinnt, „No me falta nada“ (Mir fehlt nichts). Außer natürlich der Duft von Sauberkeit und Frische.
Kleinstpolizeigefährt
Es hilft nichts. Der junge Gesetzeshüter fordert mich auf, ihm zu folgen. Bei seinem Vorgesetzten am Parkausgang angekommen erwartet uns – Überraschung! – auch der freundliche „Helfer“, diesmal allerdings mit einem eher besorgten Gesichtsausdruck. Ein weiteres Mal wird mir die Frage gestellt, ob ich die Absicht hätte, Anzeige zu erstatten. Wieder verneine ich, obwohl es inzwischen sonnenklar ist, dass nicht Vogelkot der Anfang allen Übels war, sondern irgendeine auf mich gespritzte stinkende Flüssigkeit. Mir fällt dabei eine Episode einer meiner Indienreisen ein, als mich plötzlich ein Schmutzklumpen auf meinen Schuhen überraschte. Nur waren die Spitzbuben damals nur darauf aus, mir für ein paar Rupien die Schuhe putzen zu dürfen!
Schließlich empfehlen mir die Polizisten eindringlich, die Kamera nicht zur Schau zu stellen (wie aber dann fotografieren?) und mich unbedingt per Taxi nach Hause zu begeben, auf gut Deutsch: „Schleich dich, du Dummkopf!“
Als ich den „hilfsbereiten“ Mann sehe, wie er von den Polizeibeamten in die Mangel genommen wird, tut er mir sogar ein wenig leid.
Happyend mit Steak
Ich bin unbelehrbar. Ich „schleiche“ mich nicht gleich in die Pension, sondern versüße meinen Schreck mit einem guten, und ich meine, mit einem wirklich guten Steak in diesem neuen Restaurant am Park. Und zurück in die Casita gehe ich – es sind nur ein paar hundert Meter – doch zu Fuß!