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Sonntag, 14. August 2005 |
London city |
Aufwachen beim
Hahnenschrei (Julians Handy-Klingelton). Während
des Duschens indische Musik vom Nebenhaus hören. |
Der gestrige Regen
hat uns eine eisigkalte, aber stechend klare Luft beschert.
Manchmal kommt die Sonne heraus, dann zieht es wieder
zu. Pullover und Windjacke sind Pflicht. |
In einem kleinen Laden zwei
Straßen weiter - wo uns der indische Inhaber sofort
als Deutsche identifiziert - kaufen wir eine Day Travelcard
(Tageskarte für das gesamte Bahn- und Verkehrsnetz),
dann fahren wir per 249er-Bus nach Balham, von
dort zwei Haltestellen mit der British Rail nach
Clapham Junction, und nach zwei weiteren Bahnstationen
treffen wir bereits in der Waterloo Station ein.
Zu Fuß ist es dann nur eine kurze Strecke bis Charing
Cross, wo wir ein Treffen mit Roberto (meinem
Neffen) und Jonathan ausgemacht haben. |
Jonathan, ein
guter Freund von Roberto, ist ein Wissenschaftler, der
sich mit Klimaveränderungen und deren Ursachen befasst.
Nach vielen Jahren an einem wissenschaftlichen Institut,
lebt er heute als Selbständiger von Vorträgen
und dem Verfassen von wissenschaftlichen Büchern.
Er wohnt in einem Randbezirk von London (in der Grafschaft
Kent). |
In einem einzigen Tag London
besichtigen - denn morgen will ich mit Julian bereits
weiterfahren -, das ist eine Herausforderung, die Jonathan,
unseren De-facto-Fremdenführer zur wahren Organisationsakrobatik
zwingt. Im Affentempo und in akkurat geplanter Reihenfolge
führt er uns an all den Sehenswürdigkeiten vorbei,
die "man" nicht vermissen sollte. Museumsbesuche
sind natürlich nicht drin, dafür ein Marathon
von Charing Cross zum Trafalgar Square und
dem Piccadilly Circus, zum St. James's Park
und Westminster, wo wir uns zum ersten Mal eine
Erfrischung in einem Pub gönnen, und weiter
zum Buckingham Palace und dem Hyde Park Corner.
Das Ganze bei einem kontinuierlichen Wechsel zwischen
Sonne, blauem oder dunkelgrauem Himmel, vorübergehendem
Regen, kühlem Wind und wieder ein paar Sonnenstrahlen.
Und überall hat Jonathan ein paar Anekdoten auf Lager,
und zwar solche, die man in den Reiseführern nur
selten findet. |
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Er erzählt
zum Beispiel von der Frau des gestürzten rumänischen
Diktators Ceausescu, der anlässlich eines Besuches
des Ehepaars in London die Mitgliedschaft in
der Royal Society of Chemistry angeboten wurde.
Der einzige Grund für diese Auszeichnung, sagt Jonathan
mit einem verschmitzten Lächeln, war allerdings,
dass die britische Regierung in der Übergabefeier
die einzige Möglichkeit gesehen hatte, mit dem Diktator
allein zu sprechen. Denn seine herrschsüchtige Frau
hätte es nie zugelassen, dass irgend etwas ohne
sie stattfinden würde |
Ferner erzählt Jonathan,
dass gegenüber der ehemaligen deutschen Botschaft,
die im gleichen Gebäude wie die genannte Royal
Society untergebracht war, das einzige noch
existierende Denkmal mit Hakenkreuz in Großbritannien
steht. Es ist die Gedenkstätte für den Hund
des damaligen deutschen Botschafters. Und weil diese im
Jahr 1940 errichtet wurde, wurde sie mit einem kleinen
Hakenkreuz versehen. Auch in der deutschen Botschaft selbst
gab es ein Hakenkreuz, und zwar als Marmormosaik
auf dem Boden. Und weil das Gebäude unter Denkmalschutz
stand, gibt es dieses Hakenkreuz auch heute noch. Nur
ist es (vorsätzlich) von einem großen Teppich
zugedeckt. |
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Als wir - apropos
Nazis, Krieg und Zerstörung - über das Natural
History Museum in London sprechen, macht Jonathan
eine witzige, aber provokante Aussage. Adolf Hitler
habe den Briten einen großen Gefallen getan, sagt
er. Im Naturhistorischen Museum, das eine "Kathedrale"
der Biologie ist, gab es im Parterre kleine Figuren von
Einzelzellorganismen, Moosen und Blumen, von Tieren im
zweiten Stock, von Schimpansen im dritten, und im oberen
Geschoss stand die Statue eines Menschen. Dies ist,
sagt Jonathan, der immerhin Biologe ist, vom Standpunkt
der Biologie keine zufriedenstellende Darstellung der
Tatsachen. Das ist in den Augen der Wissenschaft eine
überholte Sicht der Dinge. Im zweiten Weltkrieg,
fährt Jonathan fort, explodierte eine Fliegerbombe
ganz in der Nähe des Museums und von der dadurch
verursachten Erschütterung wurde die Statue des Menschen
von seinem Sockel in die Tiefe gestürzt. Sie wurde
nie mehr aufgestellt. "So - Danke, Adolf Hitler",
sagt Jonathan mit einem breiten Grinsen. |
Dass seit dem
Mittelalter alle wild lebenden Schwäne - heute etwa
30.000 Tiere - dem Monarchen Großbritanniens gehören,
hatte ich bereits irgendwo gelesen. Dass aber die Tötung
eines Schwans unter Strafe steht und mit 8.000 Euro oder
sechs Monaten Haft geahndet wird, das war mir neu. |
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Als es zum wiederholten Mal
zu regnen beginnt, suchen wir unseren nächsten Pub
auf. Das Wort Pub stammt übrigens, so Jonathan, von
"public house". Hier machen wir die erste
(traumatische) Bekanntschaft mit der englischen Küche.
Ich versuche es mit Ofenkartoffeln, mit Käse überbacken,
sogenannten Filled Jacket Potatoes. Dabei fällt
mir unwillkürlich der witzige Spruch aus dem Film
"Crocodile Dundee" ein: "Man kann es essen
- aber es schmeckt beschissen". Im Pub bestellt man
übrigens stets an der Theke, auch das Essen, und
jede Bestellung muss sofort bezahlt werden. Ein Pint
"Lager" (ein Pint entspricht 0,568 Liter)
hilft mir dabei, das Essen hinunterzuspülen.
Neben der Meile ist der Pint die einzige englische Maßeinheit,
die überlebt hat. |
An dieser Stelle ist eine
kleine Bierkunde angebracht. Das englische Lager
kommt dem kontinentalen Pils am nächsten. Ein Bitter
entspricht hingegen eher dem deutschen Altbier. Ein Irish
Stout (z.B. Guinness) ist ein fast schwarzes, sehr
starkes Bier aus geröstetem Malz mit sahnig-weichem
Geschmack. |
Jonathan hält uns einen
langen Vortrag über sein Lieblingsbier, das traditionell
gebraute Real Ale. Ein Ale ist ein helles,
obergäriges Bier. Ein Real Ale (Echtes Ale)
ist ungefiltert (hefetrüb) und nicht pasteurisiert,
und da es nicht unter Luftabschluss vergärt,
enthält es fast keine Kohlensäure, sodass es
zum Zapfen mit der Hand gepumpt werden muss. Es wird bei
einer Temperatur von 10-12°C serviert. Die Real
Ales sind es, die dem englischen Bier den Ruf eingebracht
haben, lauwarm zu sein und keinen Schaum zu haben. Die
Schaumkrone ist tatsächlich sehr dünn, bleibt
aber normalerweise bis zum Schluss im Glas. Und ob man
die übliche Trinktemperatur als "lauwarm"
oder "kellerkühl" bezeichnet, darüber
kann man sich streiten. Vor einigen Jahren schien das
traditionelle Bier (das von vielen kleinen lokalen Brauereien
erzeugt wurde) immer weniger Anhänger zu finden.
Immer mehr Pubs waren unter die Kontrolle der Multis geraten,
und hatten dabei nur allzu oft ihren uralten Charme und
Charakter eingebüßt. Durch die unbarmherzige
Konkurrenz dieser Multis (Scottish Courage,
Edinburgh, Guinness, Carlsberg, das
belgische Interbrew u.a.) mussten kleine unabhängige
Brauereien häufig verkaufen oder ganz aufgeben. Heute,
nach der Kampagne, welche die CAMRA, Campaign
for Real Ale, erbittert geführt hat, erfreut
sich Real Ale wieder wachsender Beliebtheit. |
Kleine Sprachlehre: Wie fragt man in einem
öffentlichen Lokal nach der Toilette? Aus Amerika
kenne ich die häufigsten Ausdrücke: men's
room, bathroom, restroom, lavatory.
Jetzt lehrt uns Jonathan die in Großbritannien
bevorzugte Variante "Where is the loo"?
Über die Etymologie ist er sich selbst nicht sicher.
Es könnte vom französischen "l'eau"
oder "lieux d'aisances" (Ort der Erleichterung)
stammen. Manche Wörterbücher meinen hingegen,
es könnte eine Wortschöpfung von James Joyce
sein, der sich auf "Waterloo" bezog. |
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Nach dem Imbiss
geht unser Marathon weiter. Wieder suchen wir den Hyde
Park auf. Am Speakers' Corner treten wie gewohnt
Selbstdarsteller jeglicher Couleur auf, Spinner, Weltverbesserer
und Hobbydemagogen. Öffentlichkeitssüchtige,
in anderen Worten, die noch nichts vom Internet gehört
haben, der modernere Plattform für Dampfplauderer,
Verschwörungstheoretiker und religiöse
Eiferer. Ich stelle fest, dass sich viele der Redner mit
dem aktuellsten aller Themen befassen, nämlichen
dem islamistischen Terrorismus. Schließlich
ist kaum mehr als ein Monat nach den verheerenden
Anschlägen vom 7. Juli auf den Londoner Nahverkehr
vergangen. Immerhin überwiegen bei den Rednern die
gemäßigten Töne. |
Es regnet wieder. Wir steigen
in einen Bus in der berühmten Oxford Street ein.
Bald merken wir aber, dass zu dieser Stoßzeit das
Vorwärtskommen langsamer ist als das der Fußgänger,
die parallel zu uns die Straße hinunter gehen. Also
steigen wir wieder aus. Es tröpfelt inzwischen
nur noch. Wieder ein Gewaltmarsch durch die bekannten
Gegenden des Zentrums: Soho, Carnaby Street,
Chinatown, Covent Garden mit seinen Darstellungen
im Freien: die gleichen Szenarien wie sie in allen Großstädten
Europas zu sehen sind. |
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Wieder an unserem
Ausgangspunk Charing Cross angelangt, nehmen wir,
jetzt endgültig des Gehens überdrüssig,
die Bahn zur Tower Bridge. An dieser Stelle der
Themse, wo in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tower die Ende des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil erbaute
Brücke steht, präsentiert sich London in modernem
Gewand, mit der neuen Skyline der ambitioniertesten Architektur
Europas. |
Am Südufer der Themse ist sogar der
Bau eines 310 Meter hohen, pyramidenförmigen
Gebäudes vorgesehen. Der Architekt des London
Bridge Tower,
das bei seiner Fertigstellung das höchste Hochhaus
Westeuropas sein wird, ist der Genueser Stararchitekt
Renzo Piano . Im Verlauf der Planungen gab es zwar Proteste
von Kritikern, die die Meinung vertraten, dass ein derartiges
Gebäude dem Stadtbild schaden würde. Der Bau
wurde aber genehmigt und schon heute sieht man in dem
Wolkenkratzer aufgrund seines innovativen Designs das
neue Wahrzeichen Londons. Mit der Fertigstellung wird
nicht vor 2010 gerechnet. |
Mit allerletzter Kraft schleppen
wir uns in eines von Jonathans Lieblingspubs, "The
Horseshoe", unweit von der berühmten Brücke.
Das Ambiente ist einigermaßen ansprechend. Mein
Versuch allerdings, unter Umgehung der englischen "Spezialitäten"
wie beans on toast, jacket potatoes oder
eines der verschiedenen pies, zu einem zufriedenstellenden
kulinarischen Ergebnis zu kommen, scheitert. Nur selten
habe ich ein derart trockenes Steak gegessen. Immerhin
- ich genehmige mir ein gutes "Lager". |
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