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Freitag, 19. August |
Wieder werde ich von den Möwen geweckt.
Sie schweben weit oben am Himmel und stoßen ab und
zu ihre durchdringenden Schreie aus. Ein Blick aus dem
Fenster. Es hat in der Nacht geregnet. Der Himmel
ist unbetrübt blau. Bilderbuchwetter. |
Wir fahren über Teigenmouth
(wo ich meinen ersten und letzten Kaffee in England trinke)
nach Torquay, einem Ort, von dem Julian sofort begeistert
ist. Schließlich ist es eine Touristenhochburg,
in der es sehr turbulent zugeht. Verkehr, Geschäfte,
Spielsalons, an jeder Ecke ein kleiner Luna Park, Frittenbuden,
viele junge Menschen, Massen von Touristen. Immerhin:
große Hotelklötze sehe ich nicht, aber Bungalow-
und Feriensiedlungen. Englische Riviera nennt man diesen
Küstenstrich, der genauso wie die französische
Riviera völlig zersiedelt ist. |
Brixham |
Zwischen den Klippen
am südlichen Ende der Tor Bay gelegen ist Brixham
einer der schönsten Häfen Großbritanniens.
In dem von bunt gestrichenen Häusern gesäumten
Hafen, der bis heute als Fischereihafen genutzt wird,
schaukeln (sofern nicht gerade Ebbe ist) die Fischerboote
und Ausflugsschiffe auf den Wellen. Das herrliche Wetter
bei unserer Ankunft verstärkt noch den maritimen
Charme dieser Stadt. |
Wir finden eine Unterkunft
im Maritime Inn. Es ist Liebe auf dem ersten Blick!
Im Erdgeschoss der Gaststätte ist ein herrlicher
Pub untergebracht, von unserem Zimmer genießt man
eine fantastische Aussicht auf den Hafen. Ich fühle
mich, und Julian geht es nicht viel anders, in die Welt
der Seefahrer und Piraten versetzt. Man meint, Captain
Hook könnte jederzeit zur Tür hereinkommen.
Die Inhaberin ist nicht minder ein Unikum: Burschikos-freundlich
und mit einer einprägsamen tiefen Stimme begrüßt
sie uns und erklärt uns die Regeln des Hauses. Wir
seien die einzigen Gäste, Schlüssel für
das Zimmer seien daher nicht nötig. Ihr Sohn arbeite
in Erfurt, erzählt sie unter anderem, denn er sei
mit der army dort gewesen und anschließend
hängen geblieben, weil es ihm so gefallen habe. Sehr
schöne Stadt, meint sie. Ob nach der Zerbombung die
Städte in Deutschland historisch getreu wieder aufgebaut
wurden, fragt sie. Angesichts des Vergleichs mit den so
gut erhaltenen englischen Altstädten ist es wirklich
bedauernswert, dass ich ihre Frage nicht bejahen kann. |
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Im Gegensatz zu dem, was ich
in Sidmouth erlebt habe, scheinen die Besucher Brixhams
größtenteils Angehörige der Unterschicht
zu sein. Das merkt man nicht nur an den Gesichtern, den
Frisuren oder der Kleidung, sondern auch an den nicht
nur bei Jugendlichen weit verbreiteten Tätowierungen,
Piercings und Ohrringen. Unwillkürlich muss ich dabei
an die berüchtigten britischen Hooligans bei Länderspielen
denken. |
Dass aber die meisten Speiselokale
nur der Kategorie Schnellimbiss zuzuordnen sind,
hat, so denke ich, mehr mit dem allgemeinen Zustand der
englischen Esskultur zu tun. Ich möchte dieses
höchst zivilisierte, von mir außerordentlich
geschätzte Volk nicht herabsetzen, aber muss
man ein mit Salat, Ketchup und Pommes frites(!) belegtes
Sandwich nicht als Fraß bezeichnen?
Die Not zwingt zur Anpassung: Während Julian Hamburger
isst, traue ich mich erstmals, einen chicken and champignon
pie with peas and chips zu essen. Chips sind
sowie die einzige und universelle Beilage. Man ertränkt
sie in Mayonnaise, Ketchup, Essig. Pommes frites mit Essig?
Tatsächlich können wir mehrere Personen
beobachten, die ihre chips mit Essig besprenkeln.
Es soll, laut Reiseführer, zur traditionellen Art
gehören, fish and chips zu essen. Nebenbei
bemerkt: Eigentlich schmeckt dieses Gericht
gar nicht so schlecht! |
Die Luft ist außerordentlich
klar, der Wind erzeugt Schaumkronen auf dem blaugrünen
Meer außerhalb des Hafens, Scharen von Möwen
überfliegen in wirrem Durcheinander die Fischmarkthalle.
Sie steigen und sinken und kreischen und ziehen dadurch
fast ununterbrochen meine Aufmerksamkeit auf
sich. Die Farben, die Luft, die Geräusche und all
die Besonderheiten dieses Ambiente lösen
eine fast rauschartige Heiterkeit bei mir aus. |
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Der Nachmittag
vergeht mit der Besichtigung dieses malerischen Städtchen
im Nu. Zwischendurch verschwindet Julian in einer der
zahlreichen Spielhallen, wo er sein Geld beim Geschicklichkeitsspiel
Dance Dance Revolution [] vertanzt, das derzeit in den Spielsalons halb Europas
Furore macht. Dabei handelt es sich um ein relativ simpel
aufgebautes Spiel, bei dem im Takt der ablaufenden Musik
Pfeile am Bildschirm angezeigt werden. Der Spieler
steht auf einer etwa ein Quadratmeter großen
Hüpfmatte mit vier unterschiedlichen Pfeilen auf
jeder Seite - nach rechts, links, oben und unten -, und
muss im richtigen Moment auf die entsprechenden
Pfeile treten. Wichtig dabei sind schnelle Reflexe und
das Einhalten des Rhythmus einer vorher gewählten
Musik. |
Abends essen wir
im selben Schnellrestaurant wie mittags, aber weil dessen
Inhaber Inder sind, gibt es auch indische Gerichte
auf der Speisekarte. Worauf ich mich für ein Chicken
Curry entscheide. Das Fleisch entpuppt sich als saftig
und zart, die Soße als äußerst schmackhaft
und originell gewürzt, das Ganze mit nur einem Hauch
von Schärfe. |
In der "blauen"
Stunde steigert sich die Stimmung noch. Zum Flair dieses
Ortes, zum glasklaren Himmel und dem kühlen Wind
gesellt sich nun der wunderbare Blick auf die beleuchtete
Stadt. Und als ob all dies nicht reichen würde, erlebe
ich als Höhepunkt des Tages ein beeindruckendes Feuerwerk,
das anlässlich der jährlichen Regatta gezündet
wird. What a wonderful day! |
Samstag, 20. August |
Segeltag |
Heute wollten wir (ehrlicherweise
müsste ich sagen: "wollte ich") eine Küstenwanderung
machen. Weil doch die Steilküste hier in Devon so
spektakulär ist. Ein Prospekt beim Tourist Office
macht mich aber auf den Segeltrawler Vigilance
aufmerksam, der für Tagestouren und Wochenendtouren
gechartert werden kann. Das klare Wetter, die steife Brise,
es wäre der ideale Tag für so eine Unternehmung.
Die Lust auf Meer und Wind treibt uns rasch zum Pier,
wo wir aber genau eine Viertelstunde zu spät ankommen.
Die Vigilance ist bereits auf hoher See. |
Aber da liegt noch ein anderes
Boot am Pier, das kurz vor dem Auslaufen zu sein scheint.
Regard heißt es, ein altmodisch anmutender
Segeltrawler. Kurz entschlossen fragen wir den
Skipper, ob wir mitfahren könnten. Für 35 Pfund
pro Person wären wir dabei. Einen ganzen Tag auf
See! Keine Frage: Wir fahren mit! "A very good
decision" sagt lächelnd John, einer der
weiteren Gäste an Bord. Mit an Bord sind auch die
zwei schwarzen Bullterriers Alli und Gator. |
Marie and Chris sind das Skipper-Ehepaar.
Chris hat ein wahrhaftig uriges Gesicht, das ein
wenig an den Comic-Held Popeye erinnert. Bevor
wir losfahren - großer Schreck! Chris liegt plötzlich
auf dem Boden. Ich kann nicht klären, ob er nur ausgerutscht
ist und sich den Kopf angeschlagen hat, oder ob es sich
um einen Schwächeanfall gehandelt hat. Marie
läuft mit besorgtem Gesicht heran und kümmert
sich um ihn. Langsam steht er auf, wirkt eine Weile ganz
benommen, sagt aber bald "I am OK". Erst nach
einiger Zeit wird sein Aussehen wieder entspannter
und ein Lächeln taucht wieder auf seinem Seebär-Gesicht
auf. |
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Von den Mitfahrern scheinen
nur zwei, ein bescheiden wirkendes junges Paar, Touristen
wie wir zu sein. Phil aus Dartmouth hingegen ist selbst
Segler und steht dem Skipper-Paar nur zur Seite. John
und Jane sind ein reiferes Ehepaar, das sich hier in Brixham
zur Ruhe gesetzt hat. Als leidenschaftliche Segler mit
einem eigenen kleinen Boot frönen sie dieser
teueren Freizeitbeschäftigung so oft sie können.
Zwar habe ihr Boot nur 200 Pfund gekostet (gebraucht),
meint John, dafür koste aber der Liegeplatz 500 Pfund
im halben Jahr, und 100 kämen hinzu, um das Boot
am Ende der Saison jeweils ins, bzw. aus dem Wasser zu
hieven. Ein teueres Vergnügen! Sie überlegten
deshalb öfters, nur noch gegen Bezahlung auf größeren
Schiffen wie diesem mitzufahren. |
John ist mitteilsam und ich
freue mich auch, dass ich nach langer Zeit wieder etwas
Englisch praktizieren kann. Einer ihrer Söhne sei
Statistiker und arbeite in Japan, erfahre ich, der andere
habe gerade ein Aus-Jahr genommen und beabsichtige
für 10 Monate in Südamerika auf Trekkingtour
zu gehen! Zu diesem Zweck hätten er und seine Frau
bereits in den schottischen Highlands kräftig das
Wandern geübt. |
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Der Wind hat etwas
nachgelassen und wir kreuzen stundenlang gemächlich
bei idealem Segelwetter. Das Grün des Meeres, die
changierenden Wolken, der Wechsel zwischen Sonne und Schatten
- es ist wunderbar! Als Kontrast dazu erzählt Phil,
wie er einmal mit seinem Segelboot die englische Küste
hinunter bis Lands End, dann über den Kanal zur französische
Küste gefahren sei, in einen Sturm gekommen und vom
Blitz getroffen worden sei. Seitdem segle seine Frau nicht
mehr mit. |
Als ich ihm eröffne,
wie begeistert wir von dem Maritime Inn seien und
wie sehr uns das Gespräch mit der kauzigen Inhaberin
angeregt und das Zimmer mit dem herrlichen Blick auf den
Hafen beflügelt habe, weil "it was a place
where you could feel like a pirate", mischt sich
Chris ein und sagt, auf die Inhaberin bezogen: "She
is a pirate!" Weiter bespöttelt er
ihre altmodische, derbe Sprache. Wir müssen lachen
und sind noch mehr von unserer Wahl überzeugt. |
Einmal, als ich an Deck die
Fahrt, den Wind und die Aussicht aufs Meer genieße
und vor lauter Begeisterung: "Everything is perfekt"
ausrufe, da verlangt John nach meinem Fotoapparat, macht
ein paar Aufnahmen von mir und erwidert: "So that,
when in the future you will look at these pictures, you
will know it was when you thought everything was perfect!". |
Nobel geht es an Bord zu.
Tee wird an Deck serviert. Dazu Kuchen gereicht. Mit dem
Wind im Gesicht nippen wir vornehm an unseren Tassen.
Später, zum Mittagessen, geht's hinunter
in die Kajüte. Es gibt Schinken, Roastbeef, Gurken,
Mayonnaisesalat, Tomaten, grünen Salat,
Brot und Cornish Pie. Letzterer schmeckt gar nicht
so übel. Zum Abschluss des Tages wird noch mit einem
Glas Weißwein angestoßen. Alles in allem
- ein perfekt verlaufener Tag. |
Ein vergessenes Detail. Wir
hatten die Parkgebühr nur bis 15 Uhr gezahlt. Als
ich es Jane erwähne, greift sie sofort zum Handy,
lässt sich unsere Autonummer geben und telefoniert
mit der Parkplatzkontrolle. Das nenne ich Dienstleistung!
In so einem kleinen Ort kennen sich halt alle. |
Noch ein paar Sätze zum
Schiff. Der fünfundsiebzig Fuß lange Segel-Trawler
wurde 1933 von Upham's in Brixham gebaut und nach Stewart
Upham Our Boy genannt. Seine erste Reise ging nach
Südafrika, mit dem heimlichen Ziel, entlang den Flüssen
nach Diamanten zu suchen. Offiziell hieß es natürlich,
man wolle nach Hechten fischen. 1939 wurde der Trawler
von Lord Stanley von Alderly gekauft, der ein gut manövrierbares
Schiff haben wollte, um es zum Minensuchschiff umzufunktionieren
und für den Widerstand gegen Hitler-Deutschland zu
verwenden. Später ging das Schiff von Eigentümer
zu Eigentümer, bis es 1954 von Dick Young gekauft
und in Regard umbenannt wurde. Dicks Familie wurde
auf dem Boot großgezogen und wohnt heute in Neuseeland. |
Der Trawler wurde Ende 1999
von Marie und Chris in Brightlingsea in einem verheerenden
Zustand aufgefunden. Seine Instandsetzung (die zwei Jahre
dauerte) und die Rückkehr nach Brixham durch die
Winterstürme wäre eine interessante Geschichte
für sich. |
Eine Merkwürdigkeit dieses
Maritime Inn. Es gibt, wie gesagt, keine Schlüssel,
weder von der Haustür, noch vom Zimmer. Kein Problem,
meint Pat Gaddon, die Wirtin, wir seien sowieso die einzigen
Gäste. Die Hintertür würde für uns
jederzeit offen bleiben. Pat selbst würde morgen
noch schlafen, wenn wir fahren. Denn heute ist Samstag,
der Pub ist voll, sie würde lange noch wach bleiben
müssen. Also verabschieden wir uns schon heute. Abschied
mit (unerwartetem) Küsschen und "You are
very lovely people". |
Der Zigarettenrauch der Gäste,
dringt, trotz der geschlossenen Gastraum-Tür, bis
zu uns ins Zimmer. Draußen kreischen noch einzelne
Möwen. |
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