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Wernigerode |
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Einer achts, der andere betrachts...: Das Rathaus Wernigerode |
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Harz mit Kindern |
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Wernigerode |
Ob Goethe, Melanchthon,
Raabe, Fontane oder Löns, alle waren sie in Wernigerode und erkannten deren Schönheit. Ich kann
mich zwar nicht in die Riege dieser Großen einreihen,
bin aber wild entschlossen, ebenfalls ein paar Tage in
dieser unbeschadet über die Zeit gekommenen, wunderbaren
Stadt zu verbringen. Stadtplan und Unterkunftsliste
in der Hand mache ich mich also auf die Suche. Besonders
das Wohnviertel am Hang südlich der Altstadt
mit ihrem Flair der "guten alten Zeit" und dem
herrlichen Blick auf das Schloss hat es mir angetan. |
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Schloss Wernigerode |
Pension Böttcher |
Unterwegs in Wernigerode |
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Bald werde ich fündig:
Die kleine Pension Böttcher lockt und entzückt
mich mit der niedlich-bürgerlichen Wärme ihrer
Ausstrahlung. Nur schade, dass das Zimmer (eigentlich
eine Ferienwohnung in Miniatur) nur bis Freitag zu haben
ist, da am Wochenende wilde Reiterhorden aus den
asiatischen Steppen das Gebiet überrennen und in
ihren Besitz nehmen werden. Anders formuliert: Am Wochenende
soll der berühmte Harz-Gebirgslauf (auch
Brocken-Marathon genannt) abgehalten werden, bei dem Tausende
Sportzeloten mit Hang zum Masochismus alle Orte rund
um den Brocken heimsuchen werden. Deshalb ist
fürs Wochenende auch die letzte Bruchbude der Stadt
bereits restlos ausgebucht. |
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Ich entspanne mich.
Bis zum Abendessen lustwandle ich durch die von einem
zarten, warmen Nachmittagslicht verzauberten Straßen,
mit der einzigen Absicht, den wunderbaren Flair dieser
Stadt zu genießen. Nicht einmal das Angebot des
Nachtwärters, der allabendlich in einem Rundgang
durch die Altstadt den Besuchern Geschichten aus alter
Zeit erzählt, kann mich davon abhalten, allein und
gedankenverloren durch die Stadt zu schlendern. |
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Unterwegs in Wernigerode |
Der Nachtwächter |
Abends am Rathausplatz |
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Die Bilder, die ich
bei meinem Rundgang wahrnehme, die von den Türmchen
und Türmen des Rathauses oder der Kirchen und
ehemaligen Stadtmauern, die von Giebeln, Erkern
und Giebelerkern, und natürlich jene der im Stadtbild
Ausschlag gebenden Fachwerkhäuser,
sie alle sind mir bereits irgendwie bekannt, es ist, als
hätten sie von jeher einen festen Platz in meiner
Erinnerung. Sie erzeugen Gefühle und Assoziationen,
die sich fast von selbst bei mir einstellen, wie es auch
die sanfte Heimatanmutung tut, die mich dabei erfasst.
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Es war meine früheste
Kindheit, in der diese Prägung stattgefunden hat.
Sie ist das unverdrängbare Erbe von zahlreichen Bilderbüchern,
von Till Eulenspiegel und den Grimm'schen und anderen
Märchen, und vom Klang der deutschen Sprache, in
der mir meine Mutter die Welt eines vor langer, langer
Zeit existierenden deutschen Landes nahe brachte. |
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Das Rathaus: einst und heute |
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Was mag wohl ein
Fremder bei so einem Rundgang empfinden, ein Italiener
oder ein Japaner, beispielsweise, der nicht mit den düsteren
deutschen Märchen aufgewachsen ist,
der nichts von der Bedeutung eines Lebkuchenhauses weiß,
nicht von den "Bremer Musikanten" oder vom "Tapferen
Schneiderlein" gelesen hat, der dieses zutiefst "Deutsche",
dass mir, nein, dass "uns" selbstverständlich
ist, nicht mit der Muttermilch aufgenommen
hat? Was ist so ein Ort für ihn, außer eine
von dunklen Wäldern umgebene zauberhafte Architektur
und ein von Werbeprospekten erzeugtes primitives Klischee
von "Deutschland"? |
Zu Abend esse ich
im urig-verrauchten Gasthaus "Zur schönen Ecke" [].
Das urböhmische Jarosover Dunkel
vom Fass wirkt - ich habe nichts anderes erwartet
- wie eine rosa Brille auf mich, es filtert unangenehme
Gedanken und lässt mich mit objektiver Gelassenheit
den Tag Revue passieren. Vom Wirt, der das kommende Wochenende
als das bekloppteste des Jahres bezeichnet, erfahre ich
Näheres über den mich aus der Stadt verdrängenden
Gebirgslauf. Seit 1978 findet er regelmäßig
im Oktober statt und seit 1990 hat es eine "Brocken-Marathon"
genannte Marathonstrecke sowie einen 22-km- und ein 11-km-Lauf
im Programm. Ich ahne bereits Schreckliches für die
kommenden Tage. |
Donnerstag, 11. Oktober |
Im Café Wien |
Nur ein Katzensprung
vom Marktplatz entfernt, in der Breiten Straße
Nr. 4, erinnert das Café Wien [] an die Geschichte Wernigerodes als alte Kaufmannsstadt. 1583 gebaut,
ging das Haus mit der verspielt gestalteten Fassade jahrhundertelang
von Besitzer zu Besitzer, bis 1897 der Bäcker
und Konditor Wilhelm Hauer ein Kaffeehaus darin eröffnete.
Der heutige Name ist Programm. Es wird ein Stück
Wiener Kaffeehauskultur zelebriert. |
Und in diesem Café,
in das ich mich zu früher Stunde ausschließlich
deshalb begeben habe, weil ich dessen Atmosphäre
genießen wollte, stehe ich – genauer gesagt,
sitze ich – vor einem schrecklichen Dilemma. Während
gedämpfte Wienerwalzer-Klänge aus
dem Lautsprecher den Raum berieseln, lachen mich von der
Kuchentheke her verführerische Köstlichkeiten
an: Käsetorte, Himbeertorte, Wiener Torte, Lübecker
Nusssahnetorte, Sachertorte, Mozart Sahnetorte, Mohntorte,
Apfelkuchen, Kirschtorte, Baumkuchen, Weincremetorte,
Frankfurter Kranz, nur um einige zu nennen. Mit heldenhafter Willenskraft bestelle ich mir aber – es ist zu früh
für ein Recht auf Süßes – ein Gulaschsüppchen.
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Am Nebentisch hat
ein älteres Paar die ideale Lösung zur Kalorieneindämmung
gefunden. Sie bestellen sich einen Bienenstich, lassen ihn aber von Kellner in zwei Teile schneiden! |
Schlossbesichtigung |
Hoch (etwa 170 Meter)
über der Stadt thront majestätisch das Schloss
Wernigerode. Diese Gegebenheit verschafft dem Besucher
des ehemaligen Fürstensitzes einen einmaligen
Blick über die unmittelbar angrenzende Mittelgebirgslandschaft
des Harzes bis hin (bei klarem Wetter) zum Brocken. Es
ist gerade diese Nähe, dieses Hineingewachsensein
in die Hügel, das einen der besonderen Reize Wernigerodes ausmacht. |
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Schloss Wernigerode |
Der große Speisesaal |
So betteten sich die Fürsten |
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Bei diesem und ähnlichen
Schlössern stehe ich als Architektur-Laie immer besonders
blöd da. Aus welcher Epoche mag es wohl stammen?
Aus dem 12. Jahrhundert? Dann muss es wohl ein gotisches
Bauwerk sein. Und sind da nicht auch romanische
Elemente zu erkennen? Erinnert die Inneneinrichtung
nicht etwa stellenweise an die Renaissance? Zu viel Zeit
ist seit meiner Schulzeit und dem Kunstunterricht vergangen!
Der Verdacht, es handele sich letztlich nur um ein Fantasiegebilde
wie Neuschwanstein, ist auch nicht ganz von
der Hand zu weisen. |
Also greife ich
zum Reiseführer und erfahre darin zwar kaum etwas
über die bewegte Geschichte der Schlossherren, nichts
von Rittern und Schlachten, Liebschaften von Fürsten
und Fürstinnen, dafür aber, dass die Geschichte
des Schlosses Wernigerode im Wesentlichen nur eine unendliche
Reihe von Umbauten war. |
1494 gab es den ersten
überlieferten Umbau. Es ging dabei hauptsächlich
um die Bewehrung. 1519 wurde eine neue Bastion angelegt
und mit dam Bau einer zweiten Ringmauer begonnen. Merkwürdig:
Das deutet doch auf ernste kriegerische Auseinandersetzungen,
von denen man – wer gegen wen? – überhaupt nichts
erfährt. So geht es weiter. Einige Jahre später
wurden zwei weitere Tore gebaut, die äußere
Mauer vollendet und ein Wall angelegt. 1531 war der Bau
endlich fertig. Während des Dreißigjährigen
Krieges - endlich ein wenig Geschichte! - wurde das Schloss
mehrmals (einmal von den Schweden, einmal von den Kaiserlichen)
besetzt und/oder geplündert. Erst im Jahr 1676
wurde das Schloss restauriert und – jetzt wird es interessant
– um einen Barockbau erweitert. Fast hundert Jahre später
ließ dann Graf Kristian Ernst einen Lustgarten
nach Versailler Vorbild errichten. |
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Im Schloss Wernigerode |
Das Königszimmer |
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Im 19. Jahrhundert
war dann endlich wieder etwas los. Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode
ließ das Barockschloss im Stil des Historismus umbauen.
Damit sollte eine optische Verbindung zur mittelalterlichen
Burg hergestellt werden. Was ihm – bzw. dem Blankenburger
Architekten und Universalgenie Karl Frühling – auch
gelungen ist. Im Innenhof wurde dazu noch ein Neorenaissance-Fachwerkbau
errichtet. |
Das Ensemble, wie
wir es kennen, ist also eine Mischung aus romantischer
Ritterburg, Fachwerkrenaissance, norddeutschem Versailles
und früher französischer Gotik. Habe ich doch
gleich gewusst! |
Im Altwernigeröder Kartoffelhaus |
Vom "Altwernigeröder
Kartoffelhaus" [] erhoffe ich mir wieder, ganz auf Tradition
eingestellt, wie ich bin, ein typisches Harzer
Gericht. Meine Wahl fällt auf das Harzer
Sauerfleisch mit Bratkartoffeln. Diese Sülze
aus in Essig mit Zwiebeln, Suppengrün,
Lorbeerblätter und Pfeffer gekochtem magerem Schweinefleisch,
erweist sich als eine ausgesprochen wohlschmeckende Überraschung.
Dazu ein Schwarzbier trinken, und schon sind
meine Tischnachbarn wie von Zauberhand
in sympathische, überhaupt nicht spießige
Gesellen verwandelt, und ich kann mich völlig
entspannt dem Essen und meinen Gedankenflügen
hingeben. Ein Kleiner Feigling rundet meine Mahlzeit
und den Tag ab. Damit ist eine klare Spirituose mit Wodka und Feigenaroma und einem Alkoholgehalt von 20 Prozent gemeint. Wegen ihres hohen Zuckeranteils zählt sie zu den Likören. |
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