Balkanreise  - Reisenotizen von Bernd Zillich   
   
 
   
   
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Die Brücke über die Drina
In Siebenbürgen
Finale in den Karpaten
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Eine Reise nach Rumänien
 
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Tausend Jahre
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Mediaş, Hotel Traube
In diesem großen, eleganten Speisesaal des Hotels, der von Vornehmheit nur so strotzt, sitzt au­ßer mir nur noch ein weiterer Herr, ein paar Tische weiter. Und wie das so ist unter Reisenden, kom­men wir bald ins Gespräch. Während ich auf meinen Hauptgang warte, tauschen wir Gedan­ken, Reise­ein­drücke und Empfehlungen. Auch er hatte bereits, aus Enttäuschung über die an­geb­lich so schö­nen historischen Städte, die sich allesamt als schäbig und durch Plattenbauten ver­schan­delt ent­puppten, sein "Nichts-wie-weg-Syndrom". Er sei nahe dran gewesen, ans Schwarze Meer zu fahren, und die Reise als reinen Badeurlaub fortzusetzen. Als er hört, wo ich auf dieser Reise bereits über­all gewesen bin, meint er verblüfft: "Da müssen Sie aber ein sportlicher Rad­fah­rer sein!". Das Missverständnis ist schnell ausgeräumt. Es ist nämlich er, der in zweiwöchiger Fahrt per Stahlross von Wien bis in diese Gegend gefahren ist.
Sonntag, 15. Juni
Wurmloch, 23 Uhr
Während ich in einer vollkommenen Stille zurück zur meiner Unterkunft torkele und auf dem wol­kenfreien Nachthimmel der Mond zu sehen ist, lasse ich, so weit es meine Müdigkeit zulässt, den Tag Revue passieren. Kann es denn sein, dass ein paar Schnäpse und ebenso viele Gläser Bier meine Schritte bereits unsicher machen? Oder ist es der unebene Boden dieser Dorfstraße? In diesem vergessenen, staubigen Dorf in der Tiefe Siebenbürgens? Wo sich die Füchse "noapte bună" sagen?
Mircea
Ich denke zurück an den heutigen Tag. Er hatte mit Verdruss begonnen. Ein Blick aus dem Fenster und meine Laune war dahin. Es sah ganz danach aus, als würde dieses Land versuchen, mir mit­tel­europäischen Dauerregen aufzutischen. Nur so, um mich zu ärgern. Ich verfiel in eine selt­sa­me Form der Trägheit, eine fast greifbare Schwere und Unentschlossenheit. Ich wünschte, ich könnte mich zurück nach München beamen. Einen letzten Versuch wollte ich allerdings noch machen. Wohnte nicht hier in der Nähe Mircea, der Poet, Sänger und Violinist [], mit dem ich bei meiner letzten Rumänienreise einen Abend ver­bracht hatte? Siehe da, ich fand seine Adresse noch, sein Wohnort liegt keine zwanzig Kilometer von Mediaş. Koffer Packen, ins Auto steigen, und schon war ich dort.
Als mich Mircea wiedererkannte, konnte ich ihm die Freude aus dem Gesicht lesen. Gott habe mich geschickt, deklamierte er mit viel Pathos, und sofort war die Nähe wieder hergestellt, die in un­se­rem früheren Treffen so leicht entstanden war. Er tat so, als würde ich seinen Tag retten, dabei war es für mich genau das Gegenteil. Ich war glücklich über diese Begegnung, die mir wie ein Spalt in der Tür Einblick ins wirkliche Rumänien gewährte.
Und die Wirklichkeit war nicht die eines Filmes. Denn Mircea, obwohl er ein vielseitiger, gebildeter Mensch ist, hatte bisher an der Entwicklung des mo­dernen, nach Europa sich öffnenden Rumänien nicht den vom ihm gewünschten Anteil. Die Nach­frage nach traditioneller Musik – Mircea ist Volks­sänger und leitet ein Folklore-Ensemble – habe eher abgenommen, gestand er mir. Seine Tochter ist Deutschlehrerin an der örtlichen Schule, sein Bruder Lite­raturkritiker und Universitätsprofessor in Großbritannien.

Mit Stolz zeigte mir Mircea sein Haus und führte mich auf eine Tour durch seinen Garten, der ihn - das erlebt man oft in Rumänien - fast zum Selbstversorger macht. Die an der Pergola rankenden Weinreben ermöglichten ihm sogar die Produktion einer geringen Menge Weins, die für sei­nen Ei­genbedarf ausreiche. Als er nach dem Kaffee schließlich den Vorschlag machte, gemeinsam nach Mediaş zu fahren, um seine Cousine zu besuchen, willigte ich sofort ein.

Ins Auto steigen, 15 Minuten fahren und schon erlebte ich "rumänische Gastfreundschaft Teil zwei"! Denn dass wir nicht zum Essen bleiben, kam gar erst nicht in Frage. Mirceas Verwandte, die in ei­nem adretten Einfamilienhaus am Rande von Mediaş wohnen, führen ein komfortables bür­ger­li­ches Leben inklusive Fernreisen und Internetanschluss und dennoch – auf Gemüsegarten und einen kleinen Hühnerstall wollten sie nicht verzichten, denn, so sagten sie mir "mit 30 Hühnern werden die Wege zum Supermarkt seltener".
Valea Viilor (Wurmloch)

Nach diesem kurzen Familienintermezzo war ich, trotz fortgeschrittenem Nachmittag, nicht gewillt, auf eine kleine Entdeckungsfahrt in der Gegend zu verzichten, als zu unergiebig hätte ich sonst meinen Aufenthalt in Siebenbürgen empfunden. Also bog ich etwa zwanzig Kilometer nach Mediaş links von der Hauptstraße ab, um die acht km ent­fern­te Kir­chenburg von Wurmloch in Augenschein zu nehmen. Es war bereits 18 Uhr und das samtene Licht lockte mich geradezu in eine Falle. Die Ursprünglichkeit dieser hügeligen, grünen Landschaft, die obendrein in ein warmes, goldenes Spät­nachmittagslicht getaucht war, brach in kürzester Zeit alle meine Widerstände. Hier über­nachten, das Licht bis zur Neige auskosten, das wurde sofort zu meinem Ziel. Als ich dann auch noch den ehemalig "sächsischen" Weiler Valea Viilor sah, war ich vollends verloren.

Neugierig, wie ich war, fuhr ich sogar noch weiter bis zum nächsten Dorf, Motis (Martersdorf), wo die Straße zu Ende war und wo auch eine bescheidene spätgotische, ziemlich heruntergekommene Kir­chenburg gelegen ist. In diesem winzigem Dorf, in dem nur noch ein einziger "Sachse" wohnt, herrschte eine absolute Stille und eine Leere in den Straßen, wie ich es mir kaum hätte vorstellen können. Die Farben der Landschaft wurden von Minute zu Minute leuchtender, als würde das Licht bald explodieren.
"Cazare?" (übernachten), fragte ich. Kopfschütteln! Also fuhr ich eiligst zurück nach Wurmloch. Die gleiche Frage! Wieder Kopfschütteln. Aber diesmal ließ ich nicht nach. Ich fragte weiter. Schließlich fand sich doch eine Frau, die beim Begriff "pensiunea" nicht sofort abwinkte. Ein Hoffnungs­schim­mer! Nur noch die Sprachbarriere stand zwischen uns. So fragte ich in die Runde, der vor einem öffentlichen Gebäude stehenden Menschen "vorbiţi (sprechen Sie) englesa?", "germana?", "fran­cesa?" Endlich antwortete ein junges Mädchen: "espanol!". Sofort ernannte ich sie zu meiner Dol­metscherin und war mir in dem Augenblick gar nicht bewusst, wie absurd die Situation war. Mitten in Rumänien musste ich Spanisch sprechen, um mich verständlich zu machen! Die Lösung des Rätsels lag in der Tatsache, dass die Mutter der jungen Frau in Spanien lebte, ein Schicksal dass sie mit Millionen ihrer Landsleute teilte.
Vasile
So bekam ich endlich eine Unterkunft, nämlich im ehemaligen Pfarrhaus der evangelischen Kir­che, das zurzeit als Touristenherberge verwendet wird. Vasile, ein junger Bauer, der ein passables Deutsch spricht, händigte mir die Schlüssel aus. Einen kleinen Haken gab es freilich schon: Ich würde mich selbst versorgen müssen! Denn Gasthäuser oder Cafés gab es im Ort keine und die Lebensmittelläden waren bereits geschlossen. Hätte ich nicht bei Mirceas Verwandten ein spätes Mittag­essen einge­nom­men, würde mein Abend also ziemlich düster aussehen. Fasten ist ja schön und gut, schließlich hat man immer ein paar Kilo zu viel um die Hüfte, aber nicht einmal einen Imbiss ... Da führte mich Vasile in den Garten, ganz nach hinten, wo es mehrere Kirschbäume gab. Sie wa­ren reif, sie waren süß, immerhin ein Dessert.
Gegen neun Uhr, ich hatte bereits ausgepackt und mein Notebook zum Schreiben aufgestellt, klopf­te es an der Tür. Vasile musste sich meiner erbarmt und mit seiner Frau abgesprochen haben und war gekommen, um mich zum Abendessen einzuladen. Mir war die Geste wichtiger als das Essen selbst, so sagte ich sofort zu und im Null Komma Nichts brachte uns seine alte Dacia zu sei­nem etwa 500 Meter entfernten Haus. Wie es sich gehört, machte ein Schnaps den Anfang. Und weil es länger dauerte mit dem Kalbsbraten, folgte ein zweiter. Dann wurde zum Bier überge­gan­gen. Unglaublich wie viel man in so kurzer Zeit durch eine vom Alkohol gelösten Zunge von einem Menschen erfahren kann!
Montag, 16. Juni
Glockenläuten
Ich dachte bereits, ich sei in eine Zeitschleife geraten, oder dass ich es mit einem verrückt ge­wordenen Glöckner zu tun hätte, so lange hörten die Glocken nicht auf, zu läuten, es muss min­destens eine halbe Stunde gewesen sein. Und machten sie auch einmal eine Minute Pause, sofort fingen sie wieder an. Jetzt, plötzlich, verstehe ich. Von meiner Stelle auf einem das Dorf über­blick­en­den Hügel sehe ich eine kleine Prozession schwarz gekleideter Menschen, die hinter einem per Hand gezogenen Leichenwagen hinterher schreiten. Vornan ein Mann, der ein schweres Holzkreuz trägt, und der Priester in vollem Ornat. Am Friedhof angelangt - es sind nur ein paar Gräber am Hang -, eine kurze Anrede des Pope, das Herablassen des Sarges in die Grube, ein gemeinsames, litaneiartiges Gebet, die lautklagende Stimme einer Frau, dann ist es vorbei.
Bei aller Trauer, von meiner Warte aus mitten in einer Blumenwiese und von Bienen umsummt, wie ich bin, bekommt das Ereignis, zumindest akustisch, einen Hauch von Groteskem. In den Ru­hepausen des Geläute höre ich neben der litaneiartigen Rede des Pfarrers Vogelgezwitscher, das Bellen mehrerer Hunde, das Krähen eines Hahnes, das Gackern von vereinzelten Hühnern und vor allem, von irgend einem Radio aus der Ferne schallende, fröhliche Zigeunermusik.
Nach der kurzen Zeremonie ist es wieder still. Ich liege, die herrliche Aussicht vor Augen, faul und lustlos im Gras, noch etwas schlapp vom gestrigen Tag. Die Luft ist lau, der Himmel eines lang­wei­ligen, gleich­mäßigen Graus, das sich jetzt, wo sich der Abend nähert, etwas öffnet. Meine Ge­dan­ken fokussieren sich mehr und mehr auf die Heimfahrt. Auf dem Rückweg werde ich von einer al­ten Frau mit "Guten Tag" begrüßt, sie ist eine der sieben verbliebenen "Sachsen" in diesem Dorf. Als ich sie Frage, ob denn einige Deutsche zurückkämen, verneint sie: "Wie könnten sie denn, da ihre ehemaligen Häuser alle verkauft worden sind."
Dienstag, 17. Juni
Das Pfarrhaus

Als ich das Haus zum ersten Mal sah, es durch den säulenbewehrten Eingang betrat und mich herumsah, überkam mich ein ähnliches Gefühl, wie ich es vor vielen, vielen Jahre schon einmal erlebt hatte. Es war kurz nach der Wende und ich fuhr mit meiner Mutter zum ersten Mal nach Jägerndorf (heute Krnov) in den Norden Mährens, woher ein Zweig unserer Familie stammt. Als wir vor dem, inzwischen leeren, heruntergekommenen Haus ihrer Großeltern standen, war es für mich, als würde die ganze Kindheit meiner Mutter wieder zum Vorschein kommen und sich deutlich vor meine Augen abspielen, so viel erzählte sie mir. All das war aber Vergangenheit, weggewischt von der Zeit, von der Geschichte. Einige Zeit später sah ich einen ziemlich melancholischen Zei­chen­trickfilm: Es ging um ein zer­störtes Haus. Die Mauern zerbröckelten vor sich hin, die Fenster waren leere, schwarze Löcher, der Garten war völlig verwildert. Eine einsame Katze streifte in den Ruinen herum, und sah mit großen, traurigen Augen auf die Überreste des Hauses. Sie fing an zu träu­men. Und in diesem Traum belebte sich das alte Haus wie­der, man sah das Wohnzimmer, wie es einmal war, den Kamin, ein spielendes Kind. Der Hausherr saß im Lehnsessel und strei­chelte die Katze, als sie sich im Vorbeigehen an ihn schmiegte. Und dann - dann zerplatzte der Traum wie eine Seifenblase. Plötzlich war alles wieder nur eine Erinnerung. Von diesem alten Pfarrhaus ist, wenn auch die einstige Möblierung durch 08/15-Ware ersetzt worden ist, zum Glück noch vieles erhalten geblieben. Nur die einstigen - deutschen - Bewohner sind verschwunden.

Alte Häuser haben eine Seele. Sie überlebt die Generationen, die Vertreibungen, die Zeit, solange ein einzige Mauer noch steht und solange es noch einen einzigen Menschen gibt, der sich erinnert, selbst wenn es sich nur um die Erinnerung handelt, die ihm seine Eltern mitgaben. Nichts ver­schwin­det wirklich, alles hinterlässt Spuren, seien es die Formen einer Landschaft, ein Architek­tur­stil, alte Lichtbilder von Menschen, die nur noch in den Silberbromiden und -iodiden der Foto­pa­piere existieren, oder die Märchen und Erzählungen, die bereits tausendfach gelesen wurden, und nun in einem vergilbtem, in einem Regal liegengelassenen Buch noch - vielleicht vergeblich - auf weitere Leser warten.

 
 
 
 
     
         
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