Balkanreise  - Reisenotizen von Bernd Zillich   
   
 
   
   
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Die Brücke über die Drina
Szekler-Land
Finale in den Karpaten
   
 
Szekler
 
Die Szekler
in Siebenbürgen
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Freitag, 13. Juni
Unterwegs nach Siebenbürgen
Ich muss mich beeilen: In einer halben Stunde wird dieser Saal mit Aussicht auf die Staudamm­mau­er (nicht auf den Stausee) proppenvoll sein, denn es ist eine Reisegesellschaft angekündigt. Ich bestelle mititei, das übliche Verlegenheitsessen, weil gut portionierbar, dazu Salat und ein Bier. „Siete autista? (Sind Sie Fahrer?)“ fragt mich der Kellner in gebrochenem Italienisch. Zu erst den­ke ich, er meine, ich sei ein italienischer (?) Fernfahrer, dann geht mir aber ein Licht auf. Er wollte mir damit nur raten, dass ich als Autofahrer lieber alkoholfreies Bier bestellen sollte.
Dass ich überhaupt hier bin, am Staudamm kurz vor Bicaz und nicht auf dem Weg ins Maramureş, das habe ich allein dem Wetter zu verdanken. Vor einigen Stunden, als ich an der großen Straßen­kreu­zung am nördlichen Ende des Stausees beim Frühstück saß, hätte ich mich vor Unent­schlos­sen­heit fast zer­reißen können. Von einer unfreundlichen, sehr kleinen Kellnerin bedient, die wegen ihrer Ober­weite – das einzig Große an ihr – auch ohne Tablett in der Hand nach vorne zu kippen drohte, schiel­te ich unentwegt auf den grauen, verhangenen Himmel, von dem ein „Salzburger Schnürlregen“ herunterkam, der nicht von kurzer Dauer zu sein versprach. Jeder weiß, dass bei solchem Wetter das Gebirge der denkbar unpassendste Ort für einen Aufenthalt ist.
Ich hatte nämlich mit einer Reise nach Norden in den Maramureş liebäugelt, eines der Bezirke, die an die Ukraine angrenzen. Auch ein weiterer Verbleib im Neamţ, dessen Landschaft, aber vor al­lem dessen Architektur mich begeistert, scheiterte an diesem Wetter. Nach viel Hin und Her be­schloss ich, durch die berühmte Bicaz-Schlucht nach Siebenbürgen zu fahren, um dort eini­ge der berühmten Wehrkirchen zu besichtigen.
Bicaz-Schlucht
Die Bicaz-Schlucht (Cheile Bicazului) ist ein faszinierendes Naturdenkmal. Der Lauf des Bicaz-Flusses hat sich hier in Jahrmillionen Hunderte Meter tief in das Kalkgestein des Ceahlău-Massives eingeschnitten. Diesen Durchbruch teilt sich die Straße mit dem Fluss. Wenn letzterer Hochwasser führt, ist jeglichen Verkehr unmöglich. Die Wände dieser Klamm, die in ihrer Breite oft nur dem eingezwängten Fluss und der Straße Platz bieten, ragen senkrecht bis über 200 Meter empor. Die steilen, teilweise überhängenden Felswände lassen kaum Tageslicht einfallen. An zwei Stellen in der Schlucht wurden Touristenbasare aufgebaut. Hier bietet man typisch rumänische Handarbeiten zum Kauf an, angefangen von Trachten, Pullover und Socken aus Schafwolle, bis hin zu Korb­wa­ren, Holzarbeiten und allem möglichen Kitsch.
Lacul Roşu
Schließlich erreiche ich Lacul Roşu, einen kleinen Ferienort am gleichnamigen Roten See. Der See verdankt seine Existenz einer 1838 erfolgten Naturkatastrophe. Damals stürzte durch einen rie­si­gen Erdrutsch ein ganzer Steilhang herab, wodurch das Wasser des Bicaz-Flusses aufgestaut wur­de und einen Wald überflutete.
So spektakulär die Schlucht war, so zauberhaft ist dieser kleine Ort. Lacul Roşu besteht nur aus einer vom Bikaz durchflossenen grünen Fläche, in der sich wunderbare schlöss­chen­ähn­li­che Holzhäuser befinden, die mit ihren bunten Fassaden, mit ihren Türmchen und Erkerchen einer Schweiz in Miniatur ähneln, mit steilen Felswänden als malerische Kulisse. Nach dem obli­ga­to­ri­schen Fotorundgang beziehe ich gleich ein Zimmer in der Pension „Vila Bradul". Nur schade, dass es trotz des abschnittsweise blauen Himmels wieder leicht zu regnen beginnt. Aber kaum hört es einen Augenblick auf, schon mache ich mich auf die Socken. Eine wunderschöne Gebirgslandschaft fordert mich nahezu dazu auf. Ich habe mich aber keine zweihundert Meter vom Ort entfernt, da geht bereits der nächste heftige Regenschauer nieder, der mich zum Rückzug ins halbleere Res­taurant zwingt.
Am Nebentisch sitzt inmitten einer kleinen Runde eine junge Frau, die lautstark ihre Tisch­ka­me­ra­den unterhält. Sie sieht aus, als sei sie direkt einem Bild von Brueghel dem Älteren entsprungen. Sie kommt mir dermaßen ordinär vor, dass es schon wieder faszinierend ist. Hypnotisch zieht sie meine Blicke auf sich, trotz oder gerade wegen ihres fast nuttenhaften Aussehens. Ihre stark bemalten, fleischigen Lippen, fassen eine ansehnliche Reihe regelmäßiger weißer Zähne ein, die von einer breiten Zahnspalte geteilt wird, die auf mich - was für eine seltsame Gedan­ken­asso­ziation - wie das passende Gegenstück zu ihrer tief einge­schnit­te­nen Busenspalte wirkt, ein Canyon von einer Brust!
Als der Regen wieder einmal aufhört, traue ich mich auf einen kleinen Spaziergang zum etwa ei­nen Kilometer entfernten See. Unnötig zu sagen, dass keine fünf Minuten vergangen sind, als es wieder zu tröpfeln anfängt. Ein Radfahrer, ein etwa vierzigjähriger Mann mit Dreitagebart, tritt ne­ben mir mühsam auf der bergauf führenden Straße in die Pedale. Derweil unterhält er sich auf En­glisch mit mir. Unter anderem macht er mich darauf aufmerksam, dass heute Abend das EM-Fuß­ball­spiel Rumänien-Italien stattfinden wird. Italien ist ein Reizwort für ihn. Er ist er ganz und gar nicht gut auf dieses Land zu sprechen. Denn seit Berlusconi wieder an der Macht ist, weht dort ein äußerst fremdenfeindlicher Wind, der speziell die Rumänen als Sündenböcke auserkoren hat.
In unmittelbarer Nähe des Sees ist eine Touristiklandschaft entstanden, die nicht ganz so apart ist. Bunt, modern und disharmonisch in der Bauart sind in den letzten Jahren die Wochen­end­häus­chen, Restaurants und Be­her­bergungsbetriebe wie Pilze aus dem Boden geschossen. Der See selbst ist klein, lieblich, roman­tisch und steht unter Naturschutz. Leider ist er zugleich bösartig und gemein, denn er bewerkstelligt, dass ich knöcheltief in seinem sumpfigen Ufer einsinke, was mir patschnasse Schuhe beschert. Natur hat kein erbarmen mit Fotografen! Von dem früher anstelle des Sees stehenden Wald sind nur gespenstische, aus dem Wasser ragende Stümpfe übrig ge­blie­ben, die im Lauf der Zeit durch die Wirkung des kalkhaltigen Wassers versteinert sind. Das verleiht dem Gewässer eine geheimnisvolle Atmosphäre.
Beim Abendessen
Während ich durch die breite Fensterfront des Restaurants auf die verregnete Landschaft blicke und mit dem zähen Fleisch meines Gulaschs kämpfe, verfestigt sich bei mir die Überzeugung, dass, wie auch immer das Fußballspiel ausgehen mag, beim Kochen die Rumänen gegen die Italiener nicht die geringste Chance haben.
Samstag, 14. Juni
Nebel
Tief hängt der Nebel in den Baumwipfeln. Abgesehen davon ist alles noch so wie gestern. Auf der Tischdecke meines Frühstückstisches grinst mich immer noch der Soßenfleck an, den ich gestern verschämt mit der Serviette zugedeckt habe.
Nichts zu sagen: Urig ist es hier schon. Besonders im Zimmer. Als ich gestern die Gardinen zu­ziehen wollte, kamen sie mitsamt der Stange krachend herunter. Der Lichtschalter der Bettlampe funktionierte nicht. Zum Ausschalten musste ich den Stecker ziehen, und dabei höllisch aufpassen, dass die Steckdose, die nur äußerst dürftig befestigt war, nicht mit herausgerissen wurde. Auch der wackelige Kleiderschrank verlangte große Rücksicht, damit er mir nicht zusammen mit dem darauf stehenden Fernseher auf den Kopf purzele. Nicht, dass das Badezimmer eine Ausnahme machte. Die beiden Teile der Klobrille waren nur aufgelegt und die Duschvorhangstange erlitt heute Früh unversehens das gleiche Schicksal wie die Gardinenstange. Nichts liegt mir ferner, als mich darü­ber aufzuregen, ganz im Gegenteil: Worüber sollte ich denn sonst an so einem grauen Morgen schreiben? Als mir allerdings auch noch der Griff meines Regenschirms in der Hand bleibt, muss ich schallend lachen. Denn dafür kann ich dieses Land wirklich nicht verantwortlich machen.
Magyaren
Ich habe den Eindruck, als würde die Kellnerin, die gerade telefoniert, Ungarisch sprechen. Ich meine, es am Klang zu erkennen. Als ich ihr die Frage „Magyar“ stelle, lächelt sie. Um ganz sicher zu gehen, bedanke ich mich mit „Köszönöm". Worauf aus ihrem Lächeln ein Strahlen wird. Ich selbst bin baff erstaunt, dass mir dieses Wort wieder eingefallen ist, habe ich es doch vor etwa zwei Jahren gelernt und ein einziges Mal am Plattensee ausgesprochen.
Ich wusste bereits, dass es in Rumänien eine große ungarische Minderheit gibt, die Anzahl der Magyaren beträgt immerhin etwa 1,4 Millionen, was 6,6 % der Bevölkerung Rumäniens ausmacht. Aber diese Gegend – ich befinde mich im Bezirk Harghita – ist von den sogenannten Szeklern be­wohnt, auch diese eine ungarischsprachige Volksgruppe, aber mit einer unterschiedlichen, bis heute nicht völlig geklärten Herkunft. Fast jeder zweite Ungarischsprechende in Rumänien ist ein Szekler. Im Szeklerland (Székelyföld), einem Gebiet im Osten Siebenbürgens, das sich un­ge­fähr mit den rumänischen Bezirken Harghita und Covasna sowie einem Teil des Bezirks Mureş deckt, liegt der Anteil der ungarischsprachigen Bevölkerung zwischen 39 und 85 %.
Szekeler-Land
In Gheorgheni sind also die Rumänen in der Minderheit. Tatsächlich hat die Stadt einen völlig an­deren Charakter als die Ortschaften jenseits der Ostkarpaten. Ihre Architektur unterscheidet sich sowohl von der sehr stark von Holz geprägten des Neamţ, als auch – aber ich kann es als Laie nicht genau erklären - von jener der Dörfer der Siebenbürger Sachsen. Ein Hauch von Österreich-Ungarn, wenn auch nur in homöopathischen Mengen, weht über der Stadt.
Grau in grau das Wetter, flach und nichtssagend die Landschaft! Keine Spur von Vampiren und blutrünstigen Wojwoden, die in mir Neugierde und Abenteuerlust wecken könnten. Völlig lustlos sitze ich in einem Restaurant entlang der Straße nach Târgu Mureş und warte auf mein Gulasch. Ein Quartett sehr einfach gestrickter Männer in verstaubter Arbeitskluft unterhält sich lautstark auf Ungarisch und erlaubt sich derbe Späße auf Kosten der Bedienung, die mürrisch und abweisend darauf reagiert. Die Frau ist ein merkwürdiges Wesen, dem sofort meine Sympathie gilt. Es soll Wesen geben, die – Odysseus könnte davon erzählen – halb Fisch und halb Frau sind. Das Gesicht der Kellnerin erinnert mich hingegen an einen Bernhardiner: traurige große Augen und eine in die Länge gezogene, mit fülligen Backen versehene untere Gesichtspartie. Man könnte also nicht un­bedingt von einer schönen Frau sprechen. Und doch - wie ungleich verteilt die Natur ihre Gaben auch innerhalb einer Person - wenn man nach unten mit den Blicken wandert, entdeckt man einen attraktiven, wohlgeformten Körper.
Nach einer Weile ist das Lokal voll, alles spricht Ungarisch. Als ich nach einem Glas trockenen Wein verlange, übersetzt der joviale Chef, ein Vorzeigeungar mit breitem, rotem Gesicht und gezwir­bel­tem blondem Schnurrbart, meinen Wunsch, und als ich ihn frage, ob seine Gäste denn alle Ungarn seien, erwidert er stolz (auf Deutsch): „Das ist Szekeler-Land".
Und siehe da, ein Glas Rotwein, ein kurzes Gespräch, das Lächeln des bislang griesgrämigen Mäd­chens, als ich mich bei ihr mit „Köszönöm“ bedanke, und schon ist meine Gelassenheit wieder da. Zur Belohnung dafür schenkt mir Petrus einen blauen Streifen am Himmel, der mich wieder mit Reiselust auflädt.
Es gibt Dinge, die mich schlagartig und mit großer Intensität spüren lassen, dass die Ferne, nach der ich mich so oft sehne, unmittelbar vor meinen Augen liegt. Sie sind, gewissermaßen, zur Me­ta­pher für die Ferne geworden. Es mag eine Straße sein, deren Fluchtpunkt am Horizont liegt, oder die klare Luft nach dem Regen, die eine von der Diesigkeit verschluckte Landschaft wieder her­ge­ge­ben hat, Storchennester auf einem Strommast, oder auch nur ein alter Mann auf einer Dorf­stra­ße, der mich vorbeifahren sieht und eine Weile mit seinen Blicken verfolgt.
 
 
 
 
     
         
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