Balkanreise  - Reisenotizen von Bernd Zillich   
   
 
   
   
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Marija Bistrica in Kroatien
Die Brücke über die Drina
Finale in den Karpaten
   
 
Wallfahrtsorte
 
Marien-Wallfahrtsorte
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Mittwoch, 21. Mai
Ein Leben in der Fremde
Nach vierzig Jahren Arbeit in Deutschland ist er wieder zurück in Marija Bistrica (ausgespr.: "Maria Bistritza"). Vierzig Jahre lang habe er eisern sparen müssen, um sich hier in seinem Heimatort den Traum eines Eigenheims erfüllen zu können. Kann man so etwas überhaupt nachvollziehen? Sich ein Leben lang einschränken, fast nur fürs Alter leben, um dann eines Tages in die Enge seines Dorfes zurückkehren, als ob die Welt, in der man all seine Jahre verbracht hat, nur das Fege­feuer gewesen wäre, das den Eintritt in den Himmel sichern soll? In Obersendling, wo mein Gast­geber all die Jahre als Automechaniker arbeitete, kenne er kaum eine Wirtschaft von innen, er­zählt er mir, lieber habe er sein Bier zu Hause getrunken. Mit ihrem Ziel immer vor Augen hätten er und seine Frau jede Mark zweimal umgedreht. Jeden Urlaub hätten sie in der Heimat verbracht, um dort Schritt für Schritt, Jahr für Jahr und mit den eigenen Händen ihr Haus zu bauen. Keine einzige Krone Kredit habe er aufgenommen, sagt er stolz mit einem breiten Lächeln. Lieber habe er sich jeweils nur einen einzigen Sack Zement gekauft, und den nächsten erst dann, wenn das erforderliche Geld dafür angespart worden war. Aber jetzt: Seine Kinder hätten alle einen guten Beruf, und 1500 qm Grundstück am Meer sorgten für zusätzliche Sicherheit für die Familie. Seine Lachfalten und seine strahlenden Augen sagen mir, dass Drago ein glücklicher Mensch ist.
Wir sitzen bei schwarzem türkischem Kaffee in der Wohnstube und ich genieße diese spontane Gastfreundschaft, die aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. Der süße Brombeerwein und der Kuchen machten den Anfang. Die Frau mischt sich nur ab und zu auf Kroatisch ins Gespräch ein und ich glaube sogar, da ich in Ansätzen eine andere sla­wische Sprache spreche, manchmal ein paar Worte zu verstehen. Cerny, beispielsweise, steht für schwarz. Jedno pivo wird überall als "ein Bier" verstanden und dass zlata ribica ein goldenes Fischlein ist, das versteht man von Moskau bis Makedonien.
Marija Bistrica
Dieser in der beschaulichen hügeligen Region nördlich von Zagreb liegende kleine Weiler ist einer der populärsten Marien-Wallfahrtsorte in Kroatien. Die aus dem 15. Jahrhundert stammende schwarze Holzstatue der Muttergottes wurde bald wegen ihrer Wundertätigkeit bekannt. Nach Marija Bistrica kam sie Mitte des 16. Jhs. Um sie vor dem Ansturm der Osmanen zu retten, wurde sie im 17. Jh. zweimal in die Kirchenwand eingemauert und galt dann kurzzeitig als verloren. 1684 wurde sie endgültig wiedergefunden und von da an verbreiteten sich die Nachrichten über die klei­nen Wunder über alle Länder der damaligen Habsburgermonarchie, weshalb immer mehr Gläubige nach Marija Bistrica pilgerten.
An den zahlreichen Pilgerfahrten, die von An­fang April bis Ende Oktober stattfinden, nehmen jährlich mehr als eine halbe Million Gläubige teil. Bedauerlicherweise ist die Lieblichkeit dieser Landschaft vom monotonen Grau des andauernden Regen regelrecht verschluckt worden, und von den von mir erwarteten Pilgermassen ist weit und breit nichts zu sehen. Gerade zwei Dutzend alte Frauen nehmen an der Abendmesse teil, was mich daran hindert, ein ähnlich starkes Gefühl zu erleben, wie den Rausch, der mich damals in Lourdes bei der Lichterprozession packte, und der mir die widersprüchliche Definition meiner Selbst als "zutiefst religiöser Atheist" einfallen ließ.
Welche ist die kritische Menge, bei welcher der Funke des Gemeinschaftserlebnisses überspringt und starke Gemütsbewegungen entfacht? Ein Dutzend im Chor singende Menschen? Hunderte Betende in einer Kerzenprozession an einem lauen, blauen Sommerabend? Tausende im Fuß­ball­stadion jubelnden Fans? Zehntausende aufgeputschte Massenmenschen bei einer Groß­ver­samm­lung eines demagogischen Inszenierungsgenies?
Ich frage mich, ob ich solche Emotionen nur suche, um mein begrenztes Gefühls­leben zu be­reich­ern, oder ob ich tatsächlich auf der Suche nach etwas bin, was mein beschränk­tes Ich trans­zen­diert. Was lässt mich ein Gefühl der Nähe zu anderen Menschen empfinden? Ihr öf­fent­lich zur Schau gestelltes Leiden, wie bei den Kranken und Behinderten in Lourdes? Der augen­scheinliche Ausdruck ihrer unbeirrbaren Hoffnung, weil sie mich auch hoffen lässt? Ihr gemein­sa­mes, syn­chro­nes Handeln bei Gebeten und Prozessionen, weil es von Zusammen­ge­hö­rig­keits­gefühl und Soli­darität zu mir spricht?
Das Gemeinschaftsgefühl, das uns in einer derartigen Situation beglückt, lässt uns für Augenblicke glauben, dass es tatsächlich möglich sei, unsere Grenzen und Unzulänglichkeiten, Krankheiten und Ängste zu überwinden. Ist das nicht der wahre Kern der Religiosität? Dieser Glaube, diese vorü­ber­gehende Illusion, die uns das Sprengen aller Grenzen, bis hin zu jener des Todes gedanklich erlaubt?
Donnerstag, 22. Mai
Die Fronleichnamprozession
Nein, auch heute keine Massenveranstaltung, keine entrückte Menschen, die mit ihrer Aura die Luft vibrieren lassen. Ganz im Gegenteil: Dieser Fronleichnamstag in Marija Bistrica ist eine ruhige, intime Feier. Es gibt keine hunderttausend Gläubige, wie jene, die an Maria Himmel­fahrt den Ort über­schwem­men und zum Klimax führen. Wir, nämlich die Prozessionsteilnehmer und ich, bleiben nahezu unter uns. Eine liebenswürdige Bescheidenheit strahlt von diesen Men­schen aus, ihr Ge­sang ist schlicht, ohne Töne, die die Seele streicheln, ihr Glaube tritt nicht als überwältigendes, mitreißendes Massenerlebnis auf. So beschränkt sich mein Erlebnis anfangs fast nur aufs Be­obach­ten dieser bodenständiger Menschen. Was für eine bäuerliche Kraft strahlen manche Gesichter aus!
Aber dann, als die Prozession beim Karmeliterinnen-Kloster ankommt, springt der Funke über. Es wird gebetet, die raue Stimmte des Pfarrers schallt kräftig aus den Lautsprechern, die Menge kontert mit einer murmelnden Litanei. Irgendwann stimmen alle in ein Lied ein und der Gesang eines perfekt eingespielten Chors füllt minutenlang die Luft. Dann folgen einige von der Liturgie vor­ge­sehenen Minuten der absoluten Stille, in denen der Pfarrer den Kelch und die Hostie feierlich emporhebt. Minutenlang sind nur das Zwitschern der Vögel und das Säuseln einer sanften Brise zu hören. Aus dieser Stille heraus stimmt unversehens eine der Karmeliterinnen leise in einen Psalm ein. Aus dem Lautsprecher vernehme ich ihre zarte, nuancierte Sopranstimme, samtweich ist sie und klar wie Kristall. So ergreifend und ausdrucksschön sind ihre Töne, dass sie mir für Augen­blicke den Atem nehmen. Was für andere der "Kick" eines Fallschirmsprungs ist, das ist für mich das Erleben eines solchen Gesangs. So hinreißend schön ist er, dass mir ein leichten Schauer über den Rücken läuft. Vom Messdiener erfahre ich, dass es sich um eine junge Nonne von der Insel Corčula handelt, die erst vor kurzem das Gelübde abgelegt hat.
Als die Menge in den Gesang einfällt, gekonnt mehrstimmig, zaghaft und leise, als trauten sie sich nicht, diesen "lieblichen Engel" zu überstimmen, geht auch meine Nüchternheit verloren. Es packt mich für einige Augenblicke eine derart starke Ergriffenheit, dass mir auch die Erkenntnis, dass ich soeben von der meisterhaften, seit mehr als zwei Jahrtausenden einstudierten Choreographie der katholischen Kirche geblendet werde, nicht mehr weiterhilft. Ich muss mein Taschentuch ver­stoh­len aus der Tasche ziehen.
Nachmittag mit Familienanschluss.
Der älteste Sohn meiner Gastgeber ist mit Frau und Kindern zu Besuch. Als ich mitten in die Kaf­fee­runde platze, werde ich ganz selbstverständlich dazu eingeladen. Und es vergeht keine halbe Stunde, da weiß ich bereits alles über die Familie und ihre Geschichte, inklusive ihrer politischen Haltung zu Tito und den Kommunisten. Das verdanke ich der Tatsache, dass die junge Schwie­ger­tochter, wenn auch von kroatischem Vater und griechischer Mutter, ein echtes "Münchner Kindl", also in München geboren ist, und sehr offen und gesprächig ist.
Wie bereits oft in anderen ehemals kommunistischen Ländern gehört, wird auch hier die Kälte des globalisierten Kapitalismus beklagt und die daraus entstandene materielle Gier, deren schlimmster Auswuchs zum Ausverkauf des eigenen Landes geführt hat. Was die Wohnkosten für die Ein­hei­mi­schen ins Unbezahlbare geschleudert hat.
Während mir Drago von seinem Balkon aus die Landschaft zeigt, frage ich ihn, was er denn eines Tages tun wolle, wenn das Haus fertig sei. Als Antwort zeigt er mit dem Finger auf den großen Fried­hof. Wenn man nicht mehr beschäftigt ist, sagt er, kämen zuerst die Wehwehchen, dann die Krank­heiten, dann das Grab. Nein, glücklicherweise gebe es am Haus noch sehr viel zu tun. Bei­spiels­weise die Säulen für die Balkonbrüstung: Jede einzige davon werde er weiterhin selber in Beton gießen. Und die Pen­sions­gäste sorgten auch für Arbeit. Allein bis Ende Juli gebe es bereits hundert Vormerkungen. Es müssten die Zimmer in Schuss gehalten werden, die Hühner versorgt, der Gar­ten gepflegt, einmal im Jahr werde ein Schwein geschlachtet, um die Familie über Monate mit Wurst, Speck und Fleisch zu versorgen. Seine fleißige Frau wecke ein und backe Kuchen. Sie seien nahezu Selbstversorger, sagt er mit Stolz. Selbst das Holz für die Heizung würden sie nicht kaufen. Es komme aus dem Wald des Schwiegervaters.
Ich kann es nur schwer erklären, aber ich fühle mich in dieser bodenständigen Familie sehr wohl. Mehr als in manchem "bürgerlichen" Kreis, wo witzige Pointen und gebildetes Gespräch nicht selten zum Statussymbol ausarten.
Es hat völlig aufgeklärt, ein wundervoll klares Licht verzaubert die hügelige Landschaft, die erst jetzt ihr zauberhaftes Antlitz zeigt. Der Familienspaziergang geht zu einer Art Skulpturenpark, der jedes Jahr Anfang Juli zahlreiche Holzschnitzer anzieht, die ihr können unentgeltlich zur Schau stellen. Daraus ist eine Art skurriles Open-Air-Museum entstanden.
 
 
 
 
     
         
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