Ich zitiere aus dem Reiseführer, der es in sehr
poetischer Sprache zu formulieren weiß: "Wie die Finger einer riesigen Hand
ziehen sich vom Hochland fächerförmig mehrere Schluchten nach
Nordwesten hinunter und bilden an ihrem Zusammenfluss ein kesselartig
erweitertes großes Tal". Und inmitten dieses Tals liegt auf 200 m Höhe Vallehermoso. Der Name
bedeutet soviel wie "Schönes Tal". Vom Ortskern, der zuweilen recht
belebten und lauten Plaza de la Constitución, kann man direkt auf
den mächtigen, 400 m hohen Vulkanschlot Roque Cano (der Weißhaarige)
blicken. Eine beeindrückende Aussicht.
Am frühen Nachmittag
Von der Terrasse des Restaurants Triana in Vallehermoso bietet sich
mir ein beeindruckendes Schauspiel: Links über dem Dorf ist der Himmel
blau, die Sonne bestrahlt die weißen Häuser mit fast nordischem
Licht, die Luft ist stechend klar. Wenn ich hingegen den Blick nach rechts
in Richtung Roque Cano schwenke, zeigt sich mir ein grauer, fast
undurchsichtiger Vorhang – ein tropischer Regenguss. Er verleiht der grünen
Landschaft ein fast apokalyptisches Aussehen: Der Wind pfeift, der Regen
- wie mit spitzem Bleistift gezeichnete Wasserstriche - peitscht im 45-Grad-Winkel
auf Häuser, Bananenplantagen, Palmen und Boden. Ab und zu reißt
es auf, und der Berg steht stellenweise im grellen Scheinwerferlicht
der Sonne, nur um einige Minuten später wieder hinter dem Nebelvorhang
zu verschwinden.
Zwischen den Vorstellungen des
Naturschauspiels befasse ich mich mit dem Hauptgericht: "Gebratenen Knoblauch
mit scharfer Fischtunke". Pardon, Wortverdrehung. Ich hatte jedenfalls pescado bestellt, aber der Fisch ist wohl nur als Augenfang gedacht, den Geschmack
liefern die Unmengen von ajo – aber es ist vorzüglich.
Vallehermoso
Der "Roque cano"
Palmenlandschaft
Weiter geht's zur unscheinbaren Playa de Vallehermoso, während
eine theatralische Sonne Licht und Schatten auf den Roque Cano malt. Aber
sie muss wohl etwas gegen mich haben, denn kaum ist mein Stativ aufgestellt,
schon besinnt sie sich eines Besseren und versteckt sich trotzig wieder
hinter den Wolken.
Landschaften bei Vallehermoso
Nun aber los, denn San Sebastian ist fern und es fängt wieder an zu
tröpfeln. Und während ich die Transversale auf dem Garajonay-Hochplateau
entlang fahre und der Wind in einem zunehmend unheimlichen
Ton heult , wird aus dem Tröpfeln ein Regen, aus dem Regen ein Guss und aus
dem Guss eine undurchdringliche nasse Wand, die man nur im Schritttempo
durchfahren kann. Genauer gesagt, könnte, wenn da nicht so ein unangenehmes
Rütteln und so ein seltsames Ratschtata- ratschtata-ratschtata-Geräusch
wäre. Bei einer schnellen Begutachtung des linken Vorderreifens werde
ich pitschnass. Zu behaupten, der Reifen sei noch rund, wäre reine
Schmeichelei - er ist völlig platt.
Aber selbst ist der Mann. Beim ersten Nachlassen des Regens durchsuche ich
den Opel nach Reservereifen und Wagenheber. Ohne Letzteren zu finden. Indessen pfeift der Wind weiter so unheimlich, dass ich unwillkürlich an die einzigartige, nur auf Gomera existierende
PfeifspracheEl Silbo denken muss. Es wird bereits dunkel und bald breitet sich
bei mir wieder eine ähnliche Hektik aus, wie heute früh
bei der Schlüsselsuche. Allerdings ohne Erfolg!
Kurz darauf fängt es auch noch an zu hageln und ich flüchte mich
Hals über Kopf in mein Gefährt. Für eine mir endlos erscheinende
Weile ist kein weiteres Auto zu sehen und der Niederschlag nimmt eher zu.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als im Auto sitzen zu bleiben und
langsam unruhig zu werden.
Die ersten Autofahrer, die ich anhalte – es sind Briten –, finden auch keinen
Wagenheber im Kofferraum ihres Mietautos. Jedenfalls finden sie keinen.
Die zweiten finden hingegen nicht einmal den Reservereifen, was natürlich
viel konsequenter seitens der Verleihfirma ist.
Die nächsten Kandidaten sind Spanier mit Kleinkindern. Unabhängig davon,
dass Wagenheber auf Spanisch ein eher diffiziles Wort ist, und "no tiengo
alguna cosa por alzar el coche" eher dem Italienischen als dem Spanischen
ähnelt, habe ich Mitgefühl und lasse sie weiter fahren.
Endlich hält ein hilfsbereiter Teutone an, der beides
hat. Und vor allem, der weiß, wo man ansetzen muss. Als der Reifen
nach wenigen Minuten montiert ist und ich den platten verstauen will,
habe ich abermals – wie beim Schlüsselbund – ein Wiederfinden-Erlebnis: Einen winzigen
Wagenheber gibt es doch. Man muss halt nur gezielt suchen.
An der Bushaltestelle von Laguna Grande warten zwei junge Leute - mit erhobenem
Daumen. Beide nass bis auf die Haut in ihren kurzen Höschen und T-Shirts.
Man sieht es ihnen an, wie erbärmlich sie frieren. Ja, erzählen
sie, am Tag zuvor sei es so heiß gewesen, dass sie sich für die
heutige Wanderung das Tragen von Regenzeug und Co ersparen wollten. Und
das auf tausend Meter Höhe!
Gut, dass die Autoheizung schnell aufwärmt.
25.
März
San Sebastian
Ich sitze zwar nicht auf der Terrasse des noblen parador,
aber die Bougainvillea-Sträucher, die Palmen und der Blick über
die steile Klippe auf das Meer entschädigen mich reichlich für
dieses Manko.
Zwei Albatrosse segeln weit oben am etwas verschleierten Himmel, ein Windjammer
schaukelt fünfhundert Meter vom Ufer träge auf den Wellen. Die
Atmosphäre ist bestens dazu geeignet, mich in eine Traumwelt zu versetzen.
Es sieht ganz danach aus, als würde ich einen faulen Tag einlegen. Beim morgendlichen Kaffee in der Dulceria Mendoza lächelt mich
die stets freundliche Inhaberin wie gewohnt an. "Mejora el tiempo hoy"
(das Wetter wird besser heute), bemerkt sie, quasi um mich zu beruhigen.
Denn ich bin hier auf dem Hauptplatz inzwischen Stammgast; man grüßt
sich, wenn man sich trifft, lächelt sich zu - ich erkenne bereits zahlreiche
Gesichter. Des alten Mannes, beispielsweise, der sich immer an dem Tisch direkt an der
Wand niederlässt, manchmal seine Mundharmonika aus der Tasche zieht
und den Anwesenden ein paar Töne vorspielt. Meistens steckt er das
Instrument dann mit einem verschmitzten Lächeln rasch wieder ein.
Im Parador (Garten und Schwimmbad)
Blick auf San Sebastian
Vielleicht könnte ich mich doch in die süße, träge,
immer gleich bleibende Eintönigkeit dieser subtropischen Kleinstadt
fallen lassen. Es wäre vielleicht sogar ein genuineres Erlebnis als
Wandern.
Da taucht Pablo (eigentlich Paul) auf, ein Atomphysiker im Ruhestand aus der Schweiz,
mit dem ich gestern beim Abendessen lange philosophiert hatte. Auch
heute wird es wieder ein langes Gespräch über spanische Behörden,
idyllische Wanderwege auf der Insel, die gut bestückte Bibliothek
im ayuntamento (Rathaus), die Sehenswürdigkeiten von Genua,
die wilden Orchideen im Tessin und das Lernen von Sprachen – ab der zehnten
geht es leichter, scherzt er.
Schließlich – es ist inzwischen fortgeschrittener Nachmittag – zieht
es mich wieder hinauf zum Parador. Dicke Gewitterwolken sammeln sich
über dem Meer. Das leere Schwimmbad, der bleierne Himmel, die schwachen
Konturen des Teide, die aus dem fernen Dunst auftauchen, und vor allem die
unendliche Weite des atlantischen Ozeans beeindrucken mich auf subtile Art.
Als die ersten Lichter der Stadt schließlich aufleuchten und der Himmel
beginnt, sich in die Farbnuancen der
Abenddämmerung zu kleiden, packt mich der Fotografierteufel, zerrt
mich ins Auto, führt mich aus der Stadt hinaus und lässt mich aufgeregt
und in wildem Wettlauf mit der Zeit nach einer Stelle suchen, von der aus
ich San Sebastian in dieser fantastischen Lichtstimmung fotografieren könnte.
Als aber das Stativ auf dem Lomo del Higueral aufgebaut ist und ich endlich
durchs Objektiv, Finger auf dem Auslöseknopf, den beleuchteten Hafen
betrachten kann, ist es exakt eine Minute zu spät. Das Feuer, das eben
noch den Himmel blutrot gefärbt hatte, ist bereits am Erlöschen.