Was auch immer aus einer Reise wird: Verreisen ist schrecklich - vor der Abfahrt! Die Unlust am Kofferpacken am Vorabend, das zeitige Aufstehen, das hektische Versorgen der Zimmerpflanzen, das hastige Frühstück, und diesmal eine fast verpasste S-Bahn: Ich könnte alles hinschmeißen.
Kempinski Hotel am Flughafen München
Die Erholungsreisenden in Spe sitzen in kleinen Grüppchen auf den
aneinander gereihten Stühlen und langweilen sich. Ich kann sie mir alle schon vorstellen, wie sie in einer langen Reihe von Liegestühlen
auf Teneriffas Stränden liegen und sich langweilen.
Das Atrium wirkt trotz seiner architektonischen Großartigkeit wie
ein überdimensionierter Bahnhofswartesaal, in dem zwanzig
übergroße, stangengerade und künstlich aussehende Palmen
einen Hauch von Tropen vermitteln sollen.
Ich kann einen Blick auf die Anzeigetafel nicht vermeiden.
Flug LT006 nach Teneriffa, planmäßiger Abflug 12:15, voraussichtlicher
Abflug 18:30. Bekanntmachung des LTU-Bodenpersonals: Wegen eines technischen Defekts
muss auf die nächste Maschine ausgewichen werden. Also Gratismittagessen
und Vier-Uhr-Tee im Hotel Kempinski für alle 360 Passagiere.
Und nun heißt es warten, herumsitzen, Tee trinken, die Leute begaffen:
zum Beispiel den alten mann in Blue Jeans und buntbedrucktem T-Shirt, der
immer und immer wieder unruhig in der großen Halle auf- und abgeht,
und den ich mir so gut vorstellen kann, wie er nächste Woche träge
am Strand liegt und seine Gedanken über das blaue Meer schweifen
lässt - um von "Schweinebraten mit Kartoffelklößen"
zu träumen.
Irgendwann - die Zeit vergeht doch - sitze ich dann im Flugzeug und träume
selbst. Um 23 Uhr ist es so weit: Mit dem soeben von der entrega de equipajes abgeholten Koffer stehe ich vor dem Informationsschalter im Flughafengebäude
und werde von einer unbeholfenen und unbeteiligten Angestellten mit einem Hotelverzeichnis - zum Abschreiben, nicht zum Mitnehmen - abgespeist.
Ich befürchte schon, im Flughafen übernachten zu müssen.
Draußen in der lauen, feuchten kanarischen Nacht, während meine
Mitreisenden scharenweise in den Bussen der Reiseveranstalter verschwinden
und bei mir die Hoffnung, doch noch ein Bett für die Nacht zu finden,
fast am schwinden ist, finde ich das letzte Taxi, setze mein allerbestes
Spanisch ein, und im Nu bin ich im kleinen Ort San Isidro im Hotel
"Monica Sur".
22.
März
Teneriffa, Hotel "Monica Sur"
"Alles paletti? Guten Morgen!", ruft der Kellner in
perfektem Deutsch wohlgelaunt in die Runde der Frühstückenden.
Zweifelsohne, wir sind in Spanien! Im gestreiften T-Shirt – schließlich erwartet man so etwas von einem
Gondoliere –, die schwarzen, leicht gewellten Haare zu einen Pferdeschwanz
gebunden, die Sonnenbrille verkehrt über den Hinterkopf gesteckt,
summt der junge Mann beim Tischabräumen ein fröhliches Motiv.
In diesem Frühstücksraum mit dem subtilen Charme einer Werkskantine
herrscht gerade Hochbetrieb. Neben mir sitzt, dickbäuchig,
mit krebsroter Haut und im rotblaugestreiften, glänzenden Jogginganzug
gekleidet, ein jovialer Bayer. Am Nebentisch hat eine schwäbische
Familie Platz genommen. Welcher Nationalität die Mehrheit der Gäste
ist, merkt man spätestens am Ausgang, wo ein freundlicher Hinweis auf
Deutsch zu lesen ist, man solle die Speisen, die man aus dem Frühstücksraum
mitnimmt, bitte beim Personal bezahlen. Schließlich ist ein Frühstücksbuffet
keine Vollpension.
11 Uhr, Hafen von Los Cristianos
Warten auf die Fähre nach Gomera: Die Touristen
sitzen in kleinen Grüppchen auf den aneinander gereihten Stühlen
im Wartesaal der Estacion Maritima und
langweilen sich. Ich habe zwar – für alle Fälle – gerade einen
Film eingelegt, aber es sieht gar nicht nach Fotowetter aus. Eine graue
Dunstglocke taucht Hafen, Meer, Berge und Horizont in einen hässlichen
Brei. Ich glaube sogar, einige Regentropfen gespürt zu haben.
12 Uhr 30
Während die Fähre ablegt, macht
sie den Blick auf das aus allen Nähten platzende "Fischerdörfchen"Los Cristianos frei. Knapp hinter dem gepflegten Sandstrand, auf dem blaue
Sonnenschirme freundliche Akzente setzen, beginnt die erste
Reihe von hübschen weiß getünchten, vorbildlich höchstens
zweistöckig gebauten Apartmenthäusern. Die zweite Reihe macht
keine Ausnahme von dieser Regel, so wenig wie die dritte. Die Häuserreihen
schmiegen sich weit, weit hinauf an die Hügel, bis fast unter die
Gipfel.
Auf der Fred-Olsen-Fähre
Diese Zersiedelung, gepaart mit einem Himmel, der auf Ansichtskarten und
Reiseprospekten blau, hier und jetzt aber milchig und grau ist, gibt dem
Ganzen etwas unendlich Trostloses. Die Grenzen zwischen dem Meer, dem
Himmel und der kargen Gebirgslandschaft im Hintergrund verschwinden fast
völlig in diesem Grau und sind kaum wahrnehmbar.
Während sich die Fähre gemächlich von der Insel entfernt,
lasse ich meinen Blick die Küste
entlang schweifen. Nein, ich kann absolut keinen Stilbruch feststellen.
Bis auf zwei vermutlich nur versehentlich gebaute Hochhäuser – dort
wohnen vermutlich die einheimischen Fischer –, reihen sich nur
kleine Apartmentkomplexe aneinander, und das, so weit das Auge reicht.
Erst die Entfernung und der gnädige Dunst erlösen mich von diesem
nicht ganz so himmlischen Anblick.
Während der knapp eineinviertelstündigen Überfahrt nach
Gomera plagt mich ein unausgesprochen ungutes Gefühl. Ich sehe die
näher kommende Insel ebenso im grauen Dunst liegen wie Teneriffa,
und die Landschaften, die mich mit ihrem fast nordisch klaren Licht von
allen Prospekten und Büchern heraus angelacht und angelockt
hatten, scheinen sich auf einmal als Betrug zu entpuppen. Bilder aus zwei,
drei Wochen im Jahr vielleicht, so denke ich, werden auf den Prospekten
als ganzjährige Herrlichkeit verkauft – dem Tourismus zuliebe.
San Sebastian de la Gomera
Kaum habe ich meinen Koffer die steile Gangway hinuntergeschleppt
– er renkt mir dabei mit seinen 28 Kilo fast die Schulter aus –, bekomme
ich weiteren Anlass zu Trübsinn: Die Busse, die auf die Touristen
warten, spucken ihren stinkigen Ruß direkt in meine Lunge, das ersehnte
Leihauto ist im Hafen nicht zu bekommen, und Zimmer sind, laut Taxifahrer,
restlos ausgebucht - er nuschelt etwas von Semana Santa und versucht,
mich zu einer (vermutlich wesentlich einträglicheren) Fahrt nach Valle Gran Rey zu überreden.
Entnervt packe ich das Koffer-Ungetüm am Griff und beginne, es rollend
in Richtung San Sebastian zu ziehen. Bis zum Hauptplatz sind es zwar nur
zweihundert Meter, aber es ist auch der Augenblick, den die Sonne auserkoren
hat, um mich ihre volle Kraft spüren zu lassen.
Nach einem abgebrochenen Koffergriff, etlichen Flüchen und mit schmerzenden
Fingern komme ich endlich zur Plaza de Las Americas, wo ich in einer Bar
mein bestes Spanisch rauskrame, um nach einer Pension zu fragen. Apartamentos?
Ja, antwortet mir ein eher unfreundlicher, schmuddelig wirkender Mann,
die könne ich haben. Da ich aber das etwas zu hoch geratene, anonym wirkende Apartmenthaus
direkt hinter dem ayuntamento (Rathaus) schon von weitem gesehen
habe, entscheide ich mich rein gefühlsmäßig dazu, weiterzugehen. Als Nächstes klopfe ich bei der Pension Gomera an. Aber eine alte Frau ruft umgehend aus dem Fenster hinaus: "todo completo", und
der Fall ist erledigt. Meine Laune ist an ihrem Tiefpunkt angelangt.
Endlich doch ein Lichtblick: In der kleinen Pension Colon in der Calle
Real gibt es noch freie Zimmer.
An der Hafenpromenade
San Sebastian
Ein Patio
Cristobal Colon ist übrigens der spanische Name für Christoph
Kolumbus, den berühmten Genueser, der, auf dem Weg nach
Indien, am 2. August 1492 in La Gomera an Land gegangen war. Ihm verdanken
wir Tomaten, Kartoffeln, Paprika, Zigarettenrauch und die Karl-May-Bücher.
Der Name dieser Pension war mir bereits bekannt. Denn ich hatte im Kempinski eine längere Konversation mit einem deutschen Paar führen
können, das beabsichtigte, sich auf Teneriffa niederzulassen.
Der Mann, ein Münchner Arzt mit leicht fränkischem Akzent, wollte
sich einer Gemeinschaftspraxis in Santa Cruz anschließen;
die Frau, eine Schwäbin, hatte bereits ein Jahr lang als Apothekerin
in La Gomera gearbeitet. Sie schwärmten beide von dieser Insel.
Von ihnen wurde die Pension Colon in begeisterten Tönen erwähnt.
Zwar seien die meisten Zimmer ohne Fenster, zwar gebe es nur Etagenbäder,
aber der Innenbalkon mit Holzbalustrade und Blick auf die Mango- und Papaya- Bäume
des ruhigen Patios machten alles wett, meinten sie, und würden einen
Hauch von altkanarischer Atmosphäre entstehen lassen.
Ich entscheide mich nach kurzem Zögern für ein Zimmer "con
ventana" (mit Fenster), auch wenn ich dadurch mit aller Wahrscheinlichkeit
dem Knattern vorbeifahrender Mopeds ausgesetzt sein würde.
Die Atmosphäre im abgedunkelten Inneren des Raumes, in dem die halb geschlossenen
weißen Jalousien die Hitze und die gleißende Helligkeit der
Gasse zwar erahnen lassen, diese aber draußen halten, erinnert mich
stark – bis auf die gedämpften Farben – an die Stimmung mancher Bilder
von Matisse. Die im Patio angebrachten Schaukeln, Rutschen und weiteren Spielgeräte
eines Kindergartens wirken zwar im Augenblick etwas trostlos, aber die
in meiner Fantasie dadurch erzeuge Vorstellung von spielenden und lärmenden
Kinder verleiht der Pension in meinen Augen noch einen zusätzlichen
Charme.
Später am Nachmittag
Über eine unauffällig in den Fels gebaute
Steintreppe steige ich auf einen Felskegel, wo auf einem Sockel einmal
die Fackel mit dem olympischen Feuer gebrannt haben soll. Im Süden
glitzert das Meer vor Teneriffa, gegen Norden, unmittelbar an der 70 m
hohen, beeindruckenden Felsklippe des Galgenhügels, liegt die gepflegt
aussehende Playa de la Cueva. Sie verdankt ihren Namen einer kleinen
Höhle, in die geschickt ein Restaurant eingepasst wurde.
Auf dem Gipfel der Felswand thront eines der schönsten Paradores (staatlich geführten Luxushotels) ganz Spaniens. Ein herrlicher Anblick in dieser Dämmerstunde.
Es ist immer noch dunstig und Teneriffa ist in diesem Dunst gnädig
untergetaucht. Im Hafen liegt, voll beleuchtet im blauen Abendlicht, eine
Fähre; dahinter zwei Piratenschiffe, träume ich, nein - zwei
baugleiche Dreimast-Schoner. Auf dem Rückweg über Hafendamm und Anlegestelle sehe ich mir
die Regina Maris und die Amsterdam, so heißen
die Schiffe, einmal aus der Nähe an. Die Piraten entpuppen sich als
betucht aussehende, eher ältere Passagiere, die in der lauen
Abendbrise ihren Aperitif an Deck genießen, aber meiner Fantasie
reicht es völlig aus, um Sehnsüchte zu wecken.
Vom sportlich-drahtig wirkenden, braun gebrannten, blauäugigen Skipper
erfahre ich, dass die Schoner gechartert werden können und im Winter
zwischen den Kanarischen Inseln, im Sommer in der Ostsee auf Kreuzfahrt
gehen.
Es dunkelt. Der Leuchtturm am Hafenausgang zwinkert mir mit seinem grünen
Licht freundlich zu, während leise Dudelsackmusik vom Festland an
meine Ohren dringt.