Palmen und Sümpfe
Etwas hat sich geändert gegenüber dem gestrigen Tag. Die Luft ist klarer und die Landschaft weniger monoton. Es herrscht typische Savan­nen­ve­ge­ta­tion, mit Palmen, Grasflächen und kleinen Laub­holzwäldern, die mich an das sub­tro­pische Afrika den­ken lassen. Und je weiter ich nach Osten fahre, um so mehr häufen sich kleinere oder größere Sumpfgebiete. Corrientes ist die wasserreichste Gegend in Argentinien.
Es wird spannend: Sümpfe und Palmen.
Wie auch gestern fahre ich, ohne mein Ziel (Mercedes) unbedingt noch heute er­rei­chen zu wol­len. Wenn die Landschaften und die Ereignisse (falls es welche gibt) mich ver­lang­samen, dann sei es halt. Mit Absicht fahre ich auch auf Ne­ben­stra­ßen, um den Ein­druck von „Ferne“ noch intensiver erleben zu können. Gegenden ohne Tourismus, sofern sie landschaftlich nicht allzu reizlos sind, üben unausweichlich eine subtile Fas­zination auf mich aus.
In der Tat begegne ich immer wieder Gauchos, die seelenruhig die Straße entlang rei­ten, oder eine Rinderherde vor sich her treiben. Kaum zucke ich aber die Kamera, schon winken sie mir zu und kommen angeritten, um ein kleines Gespräch vom Zaun zu brechen.
Der klassische Gaucho
Die erste Frage lautet dabei immer: „¿De dónde eres?“ (Woher kommst du?). Deutsch­land und die Deutschen werden  immer gelobt. Einer von drei Män­nern, mit denen ich so ins Ge­spräch kom­me, ist daraufhin ganz stolz, mir mitzuteilen, dass sein Orthopäde ein Deutscher sei: Namens Fuchs. Großes Ge­läch­ter, als ich den Männern eröffne, was Fuchs eigentlich bedeutet (aus Spanisch heißt das Tier „zorro“). Sie ha­ben es richtig verstanden: Der Name des „Rächers der Ar­men“ mit schwarzer Maske und Umhang bedeutet „Fuchs“.
Begegnung in der Pampa
Die Zeit vergeht wirklich schneller, als ich es vorgesehen hatte. Das liegt unter an­de­rem daran, dass die „im Prinzip asphaltierte Straße wie ein Schweizer Käse durch­lö­chert ist. Streckenweise sind keine hundert Meter ohne ein (mehr oder weniger tie­fes) Schlagloch versehen.
Tropische Atmosphäre
Genau auf die Straße schauen, beschleunigen, ver­lang­sa­men, Slalomfahren oder abrupt bremsen: Das ist ganz schön anstrengend und kos­tet wert­volle Zeit.Da hilft auch kein Halt bei einem Gau­chi­to-Gil-Schrein am Straßenrand, um den Patron von Au­to-, Bus- und Lastwagenfahrern um eine schnelle und sichere Fahrt zu bitten.
Wenn man an einem der Schrei­ne mit den roten Fähnchen vorbeifährt, ist es üblich, zu hupen, um den Gau­chito damit zu grüßen. Hätte ich es doch getan! Plötzlich ist mir nämlich klar, dass ich Mer­ce­des nicht mehr bei Tageslicht erreichen würde. So peile ich den kleinen abge­le­ge­nen Ort Pe­ru­gorria an, einen Weiler außerhalb der Zeit.
Ruta Provincial 24 (Corrientes)
Perugorria
Nicht, dass ich dieses kleine Hotel (10 Euro/Nacht) jemandem empfehlen würde, aber es erinnert mich daran, dass ich auch schon einmal bescheidener gereist bin. „Back to the roots“ des Reisens! Das Hotel lässt mich an einfache Herbergen in den ru­mä­ni­schen Karpaten oder an private Unterkünfte auf Kuba zurückdenken. Im Innenhof wäscht eine jun­ge Frau Wäsche in einem Scheffel.
Eine stämmige Katze döst ein paar Meter wei­ter an der Hauswand. Mein Zimmer ist äußerst schlicht! Be­mer­kenswert ist das Badezimmer. Die Dusche besteht aus einem an der Wand befes­tig­ten Kübel, an dem ein Duschkopf angebracht worden ist. Der Clou ist, dass das Wasser anscheinenddirekt von einem elek­trischen Draht erhitzt wird. Deshalb wird dringend empfoh­len, die Wasserheizung abzuschalten, bevor man duscht. Man will schließlich keinen elektrischen Schlag erleiden! Umso freundlicher ist die Inhaberin! Sehr oft wird sich wohl kaum ein "alemán" bei ihr einquartieren.
Abend in Perugorria
Die Straßen des Ortes sind fast alle nicht asphaltiert und bei Dunkelheit nur sehr spärlich beleuchtet. So verliere ich bei meinem Abend­spaziergang mehr­mals die Orien­tie­rung. Und auch die Kommunikation mit den Einhei­mi­schen ist nicht leicht. Deren Anleitungen zum Weg, den ich zu­rück zum Hotel gehen muss, verstehe ich gerade bis zur zwei­ten Abzweigung. Dennoch bin ich begeistert.
Es herrscht, sieht man einmal von einem Moped ab, das ein paar Mal knatternd die Hauptstraße entlang gefahren ist, absolute Stille. Durch die fast völlige Dunkelheit in den Sei­ten­stra­ßen ist der Sternenhimmel klar zu sehen. Die we­nigen Men­schen, die vor­bei gehen, sind nur als dunkle Silhouetten zu er­ken­nen. Ein plötzliches Getrappel von Pfer­de­hu­fen schreckt mich auf. Se­kun­den darauf galoppiert ein Reiter an mir vorbei. Ich sehe ihn kaum. Er ist nur ein dunkler Schatten aus dem Wilden Westen meiner Fantasie.
22. April
Ripio!
Endlich in Mercedes angekommen informiere ich mich bei der „oficina de turismo“ über die Wei­terfahrtmöglichkeiten nach Colonia Carlos Pel­le­grini, so heißt der kleine Ort im Nationalpark. Die Auskunft ist nicht gerade ermutigend. Bis dorthin seien es et­wa 120 km. Die ersten 35 km davon asphaltiert, der größte Teil der restlichen Strecke in guten Zustand, nämlich „ripio con­so­lidado“. „Ripio“ ist der argentinische Ausdruck für Erdstraße oder Schotterstraße, bzw. Schotterpiste, „con­so­lidado“ steht für befestigt. Aller­dings seien etwa 40 km „ripio muy feo (in sehr schlechtem Zu­stand). Bei Regen sei die Strecke un­be­fahrbar. Dann verwandele sich die Fahrbahn in Schlamm, den man gerade noch mit einem Geländewagen mit Allradantrieb be­wäl­ti­gen könne. Bei mei­nem Auto sei davon abzuraten.

BUCHEMPFEHLUNG
GAUCHOS: Aldo Sessa brauchte vier Jahre, um dieses beei­ndruckende fotografische, künst­lerische und do­ku­men­ta­rische Buch zu realisieren. In dieser Zeit besuchte er jede Provinz, legte 40.000 Kilometer zurück und machte 50.000 Fotos. Dieses außer­ge­wöhnliche Buch gibt einen Einblick in die Welt der argentinischen Gauchos.

Ein Blick auf die Wettervorhersage – die nächsten Tage sollen trocken bleiben – und ich fahre los. Bei der letzten Ausfahrt frage ich noch eine Frau, die in einem uralten Renault in die gleiche Richtung fährt, wie die Stra­ßen­lage denn sei. Sie lächelt mir zu und hebt den Daumen, um mich zu ermuntern!
In der Tat: Der „ripio“ ist tatsächlich äußerst „feo". Die Straße besteht haupt­sächlich aus hartem getrocknetem Lehm, der tiefe Spurrillen gebildet hat, die ausgefahren und vom Wasser tief aus­ge­wa­schen sind. Es besteht das Risiko, dass der Wagen mit dem Bodenblech auf den erhöhten Erdstreifen zwischen den Spurrillen aufsetzt.
Ripio feo
Immerhin fehlen scharfkantige Steine, die halb aus dem Boden ragen und Ölwanne, Spurstange und ähnliche emp­find­li­che Teile akut gefährden. Durch­schnitts­ge­schwindigkeit 35 km/h! Auf der ganzen Strecke: keine Tankstellen, keine Raststätten, kaum Handyempfang. In etwas mehr als drei Stunden habe ich es geschafft!
Colonia Pellegrini
Die Esteros del Iberá sind ein 13.000 km² großes Sumpfgebiet („estero“ = Sumpf). Das Gebiet ist eine Mischung aus Sumpf, Moor, Seen und La­gu­nen. Seit 1982 sind die Esteros del Iberá Teil ei­ner Schutzzone, die 14 % der Provinz Corrientes aus­macht und damit das größte Schutzgebiet in Ar­gen­ti­nien darstellt. Das Gebiet ist auch eines der wichtigsten Süßwasserreservoirs des Kontinents. Die Unesco prüft zurzeit die Aufnahme ins Welterbe.

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Der einzige Ort, der innerhalb der geschützten Zone der „Esteros“ liegt, ist Colonia Carlos Pelle­gri­ni. Ein 700-Einwohner-Ort, den man kaum wahr­nimmt, so verstreut sind seine Häuser. Je­den­falls fin­de ich relativ schnell – die Tou­ris­ten­saison ist vorbei – eine Un­ter­kunft in der an­spre­chen­den Posada Ypa Sapukai, kaum hundert Meter vom Parkeingang entfernt.
Die „Posada Ypa Sapukai“
Um 16 Uhr nehme ich an der letzten Tour per „lancha“ (Ausflugsboot) über die La­gu­ne teil. Die Sonne ist schon tief und die Wasseroberfläche funkelt und glitzert zau­ber­haft, als das Boot in die Lagune von Iberá einbiegt. Diese Landschaft aus Süm­pfen, Lagunen und schwimmenden Inseln wirkt auf mich wie ein feuchter Garten Eden.
Mit dem Boot in der Lagune
Die schwimmenden Matten, die langsam im Was­ser treiben, so erläutert es unser „guía“, kön­nen mehrere Hektar groß und bis zu zwei Meter dick werden. Auf ihnen wachsen Gräser, Schilfe, Was­ser­hyazinthen, Lilien und Orchi­deen und sogar klei­ne Bäume – ein reichhaltiger Lebensraum für eine Vielzahl von Tierarten.
Camalote (Eichhornia azurea)
Jedes Mal, wenn wir uns an ein Ufer nähern, schaltet der Bootsführer den Motor ab, um keine Tiere zu erschrecken, und bewegt die „lancha“ mit ei­nem Holzstab durch das niedrige Wasser. Das auffälligste Tier, das man hier beobachten kann, ist der „Carpincho“ (zu Deutsch Wasserschwein). Es handelt sich um das größte heute le­ben­de Na­ge­tier. Vom Körperbau ist er seiner teilweise im Wasser stattfindenden Le­bens­weise ideal angepasst.
Carpincho (Hydrochoerus hydrochaeris)
Beeindruckender ist der „Yacaré“ (Brillenkaiman), der bis zu 2,70 m lang werden kann. Auch auf sicherer Entfernung flößt er den Menschen Respekt ein, wenn er mit aufgesperrtem Rachen ein Son­nen­bad nimmt. Doch er ist kaum so gefährlich wie bei­spielsweise Nilkrokodile in Afrika. Nur sehr sel­ten greift ein Brillenkaiman einen Men­schen an.
Yacaré (Brillenkaiman)
Die Lagune strahlt eine ganz besondere Magie aus. Kormorane und Geier fliegen auf, zwei von mehr als 350 hier aufzufindenden Vo­gel­ar­ten. Für Vo­gel­beobach­ter aus der gan­zen Welt sind die Sümpfe von Iberá ein Magnet. Und ich kann es kaum fassen, dass ich dieses Na­tur­schau­spiel nicht mit Tausenden von Touristen gleichzeitig teilen muss. Vielleicht liegt es nur an der späten Jahreszeit, aber es ist deutlich zu er­ken­nen, dass es hier gar keine Infrastruktur für einen Massentourismus gäbe. Die na­tür­liche Begrenzung der Touristenzahl dieses Ortes geschieht allein durch seine Lage und die nicht ausgebauten Straßen, die hierher führen. Ich be­reue es, kei­nen län­ge­ren Aufenthalt ein­ge­plant zu haben.
Die Lagune
Ein urzeitliches Erlebnis ist die Nacht, die abseits der spärlichen Straßenbeleuchtung den Kontrast von fast absoluter Dunkelheit und dem Glitzern und Funkeln des süd­li­chen Sternenhimmels er­le­ben lässt. Was für eine tiefe innere Ruhe und was für eine starke Gemütsbewegung über­kom­men mich zur gleichen Zeit!
23. April
Ein herrlicher Morgen
Im Gegensatz zur fast absoluten Lautlosigkeit der Nacht ist der frühe Morgen ein ununterbrochenes Ge­zwit­scher, Gezirpe, Trällern und Piepsen von allerlei Vögeln. Obwohl in meinen Ohren allein das Fehlen des üblichen Zivilisationslärms eine Art Stille ist. Ein leichter Wind und die klare Luft sind ideale Voraussetzungen für eine weitere Er­kun­dung des Ge­bie­tes. Nur in den Mit­tags­stunden drängen mich die Hitze und das glei­ßen­de Licht in ruhige Schattenplätze.
Sumpfhirsch
Viele Tiere lassen sich aus nächster Nähe be­o­bach­ten, ohne zu fliehen, sogar ein grauer Fuchs schaut mit großen Augen in meine Richtung, ohne sofort die Flucht zu er­greifen. Ob Wald, offenes Gelände oder Lagune, eine seltene Magie geht von ihnen aus.
Gruenbindenspecht (Colaptes melanolaimus)
Abends – zu essen gibt es offensichtlich nur in den wenigen, sehr weit verstreuten Hotels – lande ich im einzigen „comedor“ in der Nähe. Es handelt sich um eine be­schei­dene Bude, deren Speisekarte gerade Mal drei Gerichte aufweisen kann. Der Abend ist lau, aber nach dem ersten Mückenstich verziehe ich mich in den etwas düster wirkenden Speiseraum.
Graukardinal (Paroaria coronata)
Und weil ich der einzige Gast bin – später wird sich noch ein junges chinesisches Ehe­paar dazugesellen –, komme ich mit dem „dueño“ bald ins Gespräch. Unter anderem frage ich ihn, wovon die Einwohner von Colonia Pellegrini denn lebten. Vom Tou­ris­mus, meint er, der sei aber erst vor einem Dutzend Jahre aufgekommen, vorher hät­ten sie alle in den „estancias“ in der Viehzucht gearbeitet.
Die UNESCO prüfe zurzeit die Aufnahme ins Welt­erbe. Außerdem plane der ar­gen­ti­nische Staat, aus dem Schutzgebiet einen Nationalpark zu ma­chen und wolle intensiv in die Infrastruktur in­ves­tieren. Au weh, denke ich, wenn künftig die Zu­fahrts­straße geteert ist und es genügend Gästebetten gibt, dann kann leicht aus dem sanften Tourismus ein Massentourismus à la Peninsula Valdez werden, wo man Robben und Seelöwen nur noch von hinter einem Zaun und mit dem Fernglas beobachten kann.
Auch heute genieße ich die absolute Stille und die Dunkelheit der Nacht. Nur wenige Meter von der letzten Straßenlaterne entfernt ist es bereits so dunkel, wie es für Millionen von Jahren war.
24. April
Caranchos
Sie hocken mitten auf der Straße, auf Bäumen oder auf Zaunpfosten, die falken­ar­ti­gen Caranchos (Caracara plan­cus). Zumindest tun sie das, so­lan­ge ich mit mei­ner Ka­mera noch weit weg bin. Ich kann mich aber noch so langsam in ihre Rich­tung be­wegen, ab einer gewissen Entfernung fliegen sie plötz­lich auf.
Carancho
Wie oft habe ich die­se Erfahrung gemacht, ob auf Feuerland oder weiter im Norden, ohne starkes Te­le­objektiv endete es immer mit einem (fo­to­gra­fi­schen) Miss­erfolg. Hier, an der Straße von Iberá nach Mercedes habe ich es endlich geschafft. Und zwar von Autofenster aus; das sich langsam be­we­gende Auto erkennen sie wohl nicht als Gefahr.
Ripio
Inzwischen bin ich ein Ripio-Profi. Als Skiläufer beherrschte ich die Kunst des Slalom­fahrens nie­mals, auf diesen Straßen voller Löcher und tiefen Spurrillen habe ich es zur Perfektion ge­bracht. Immerhin brauch ich für die Strecke zu­rück nach Mercedes nur etwas mehr als zwei­einhalb Stunden.
Ripio feo
Gauchito Gil
Durch Zufall gerate ich auf der Straße, die von Mercedes in Rich­tung Westen führt, an die Gedenk- und Pilgerstätte von Gauchito Gil. Jeweils zu seinem Todestag am 8. Januar soll der Men­schen­auf­lauf hier schier unglaublich groß sein. Einige Hun­dert­tausende waren es 2011. Man musste stundenlang Schlange stehen, um an sein Grab und an die Stelle seiner Hinrichtung zu gelangen.
Riesige Gauchito-Statuen
Gauchito Gil
Im kleinen „comedor“ an der Straße werde ich, während ich mich mit einem paar „empanadas stärke, von den Tisch­nach­barn angesprochen. Zumindest der Mann in der Gruppe, mit dem ich mich unterhalte, macht einen gebildeten Eindruck. Ob sie Gläu­bi­ge seien oder Touristen, frage ich. Eher Touristen, ist die Antwort.
Gauchito Devotionalien
Eine der Frauen am Tisch scheint aber eine ab­wei­chende Meinung zu haben. Sie zögert ein we­nig, dann gesteht sie: In der Tat, sie habe den Volks­heiligen um etwas gebeten. Denn sie sei ar­beits­los gewesen und habe dringend einen neuen Job gesucht. Etwa zwei Wo­chen später sei ihr Wunsch dann in Erfüllung gegangen. Wenn das kein Beweis ist!
La Paz
Ich kann nicht anders. Auf der Rückfahrt wähle ich wie­der die hübsche Stadt La Paz als Etappe, so sehr hatte mich die damalige Atmosphäre am großen Fluss ge­fes­selt! An der Rezeption erkennt mich Señor Mario Gomez wieder und – in dieser Saison gibt es für ihn nicht viel zu tun – wir un­terhalten uns wieder eine Weile. Wir spre­chen von den Deut­schen, die in der ganzen Region sehr be­liebt sind. „Hätten wie doch nur für ein Jahr Frau Merkel in Argentinien!“, seufzt er.
25. April
Morgen muss ich den Mietwagen in Rosario abgeben und von dort dann per Bus zu­rück nach Buenos Aires fahren. Dennoch entscheide ich mich für eine weitere Etappe. Zu sehr spricht der Name des kleinen Städtchen Diamante meine Fantasie an. Die 225 km sind ohne Stress zu schaffen und der Gedanke an einen stimmungsvollen Abend am Río Paranà ist verlockend.
Romantik in La Paz
Diamante
Das übliche kleine Provinzstädtchen: ein vier­eck­i­ger Platz vor der Kirche, drum he­rum eine Vielzahl von sich im rechten Winkel kreuzenden Stra­ßen und ein- bis zwei­stöckige kleine Häuser, die noch Formen und Strukturen aus kolonialen Zeiten auf­wei­sen. Kaum ein klotziges Gebäude stört dieses Bild.
Etwas am Rande des Ortes, auf einem kleinen Platz mit Blick auf den von den letzten Son­nen­strahlen zum Leuchten gebrachten Río Paranà findet vor ein paar Dutzend Anwesenden eine Messe im Freien statt. Es sei zum 6. Jahrestag der Aufstellung der riesigen Statue des „Cristo Pes­cador“ (Christus, der Fischer), erklärt mir eine der Teilnehmerinnen. Gegen Ende der Messe wer­den kleine Brotstücke unter den An­we­senden verteilt.
Der „cura“, ein Priester von kräftiger Statur und mit roten Paus­ba­cken, segnet derweil die Menge. Unter der Soutane trägt er die typische, nach un­ten enger werdenden und mit einer Manschette endenden Gauchohose. Das kurze Ge­spräch, das auf meine Frage und auf die unausweichliche Gegenfrage, „von wo ich denn herkäme“ folgt, endet mit dem Satz: „Que dios la bendiga y que tenga una bue­na estadia!“ (Gott segne Sie, ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt). Daraufhin komme ich, ohne es zu wollen, wieder in jenen Zustand der inneren Gemüts­be­we­gung, der mir Tränen in die Augen treibt.
Während es dunkel wird, spielen noch zahlreiche Kinder auf den autoleeren Straßen, ein be­ru­higendes Bild, das mir in Mitteleuropa fehlt, zu­mal eingebettet, wie es hier ist, in diese laue Frei­tagabendstunde. Ein Bild, das an Ewigkeit den­ken lässt, an Ein­fachheit und an eine Welt, die in der „Zivilisation“ längst verschwunden ist. Un­will­kür­lich denke ich an die berühmten Verse des italienischen Dichters Giacomo Leopardi.
Schon aus der Höhe sinkt
tiefblaue Dämmrung,
und die Schatten fallen
...
Die Knaben, die in Haufen
dort auf dem Platze jauchzen
und hier- und dorthin laufen,
wie lachen sie und lärmen!