Im Böhmerwald
Reiseskizzen von Bernd Zillich   
   
 
                   
   
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Juni 1995
   
   
 
Sumava
 
Sumava
von Manfred Böckl

 
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Hochwald
 
Der Hochwald
von Adalbert Stifter

 
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Witiko
 
Witiko
von Adalbert Stifter
 
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Lipno
 
Böhmerwald,
Stausee Lipno
1:50 000: Wander-
und Radwanderkarte
 
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Frymburk, 16. Juni 1995, morgens
Wieder einmal bezaubern mich die Stille dieser Landschaft, die verfallenen Häuserfassaden, das Vogelgezwitscher, das Leuchten der Rotdorn-Bäume, Bilder und Töne einer Zeit, die fast vergan­gen ist. Ein Huhn gackert im Hof, ein Hahn kräht in der Ferne, bald gesellt sich ein Hund mit seinem Geheule dazu, ja, man hört sogar die Stimme spielender Kinder. Erstaunlich, wie sich die Welt anhört, wenn Motorenlärm nicht den Ausschlag gibt.
Hruštice, Hotel Koalko, 16. Juni
Als ich erfuhr, dass an diesem Wochenende in Krummau das Fest der fünfblättrigen Rose [] statt­finden würde, dachte ich zuerst daran, diese einmalige erlebnisversprechende Gelegenheit zu nützen, aber später malte ich mir den Stress des Hin-und-her-fahrens mit dem Auto vor Augen, die Touristenströme, den selbst auferlegten Zwang zu fotografieren, der mir keine Ruhe lassen würde, und ich ließ es sein. Ich wollte endlich einsteigen in diesen Böhmerwald, seine Natur, seine Stille, seine Ursprünglichkeit und nicht unaufhörlich am Suchen sein: nach einer Aussicht, nach einem Foto, nach einem gemütlichen Restaurant abseits der Hauptstraße, nach Abgeschiedenheit, nach dem Zwitschern der Vögel oder der Biegung eines Flusses. Als ich mich später dennoch knie­tief im Gras zwischen Brennesseln und Schilf mit dem Stativ auf der Schulter herumplagte, um im ungünstigen Licht des verschleierten Himmels ein Flussmotiv zu erhaschen, wurde mir dies noch einmal bewusst, zumal ich junge Leute die Moldau auf Kanus und Schlauchbooten hinabfahren sehen konnte, die, von ähnlichen Zwängen ungehindert, die Natur genossen.
Kurz darauf machte ich mich, Reiseführer in der Hand, zwischen Lipno und Kloster Hohenfurth (Vyšší Brod) auf die Suche nach der berühmten Teufelsmauer, der "Čertova stěna". Obwohl diese nur fünf Minuten zu Fuß von der Hauptstraße entfernt ist, von dieser nur durch ein Wäldchen aus jun­gen Eichen und Buchen getrennt, erfasste mich unverzüglich das überwältigende Gefühl, mei­len­weit weg in der Wildnis zu sein. Auf diesem kleinen unter Naturschutz stehenden Areal sind Aber­tau­sende von Steinriesen, ineinander verklemmte und ver­hakte Felsen, in einer tief im Wald ein­geschnittenen Klamm zu sehen, durch die sich die Moldau einst­mals, als der Stausee noch nicht gebaut war, ihren Weg gesucht hatte. Früher strömte an dieser Stelle mit Donnern das Moldau­was­ser durch, die Teufelsströme. Heute fließt das Wasser durch ei­nen 3,5 km langen unterirdischen Kanal, in der Tiefe 150 m unter dem Stauseeboden, nach Hohen­furth.
Der höchste Felsen der Teu­felswand wurde vom Volk "des Teufels Predigtstuhl" genannt. Eine lange Zeit verweilte ich schweigend und ergriffen an dieser Stelle. Immer wieder blickte ich mit Erstaunen auf das ausgedehnte Geröllfeld und achtete auf die Stille, die von keinem Menschen­laut gestört wurde, nur das Flüstern des Windes, das sich manchmal zu einem mächtigen Rauschen steigerte, war wahrzunehmen, und es entstand eine fast überirdische Entfernung zu den Dingen.
Ich blickte in die Schlucht und auf die Weite der bewaldeten Bergrücken ringsum. Dieses steinerne Meer bildete vor meinen Augen eine einzigartige Szenerie und fesselte mich durch seine Romantik. Ich glaubte, ein Bild von Kaspar David Friedrich vor Augen zu haben.
Aber lassen wir Adalbert Stifter sprechen: " . . . ganz ernster und schöner wird die­se Erscheinung erst weiter un­ten von Kienberg, wo eine Gesellschaft von Felsen steht, die Bäume immer weniger und kleiner werden, der Stein sich mehrt und endlich allein in größ­ter Fülle die Herrschaft führt. Zerschlagene, zer­trüm­mer­te Steine liegen umher, ein mäch­ti­ger Felsbau erhebt sich und trägt die graue Brust aus dem ringsum liegenden Reiche der Zerstörung em­por . . . Die Leute nennen die­se Stelle die Teufelsmauer, und es geht die Sage, dass der Teufel, dem es nicht recht war, dass die Abtei Hohenfurth gebaut wur­de, dass er in Gefahr geriet, viele Seelen, die sich hier erbauen, zu verlieren, den Plan gefaßt habe, die frommen Väter mit dem Wasser der Moldau zu ertränken.
Er erkor zu diesem Zwecke eine Nacht, in der er alle Steine, die in der Gegend zu finden sind, auf diese eine Stelle zusam­men­tra­gen und eine Mauer bauen wollte, daß sich das Wasser in der Bergenge zu einem See schwelle, den er dann plötzlich mit Öffnung seiner Schleu­se auf das heilige Gebäude ließe. Er nahm aber zu viele kleine Stei­ne, die auf der Oberfläche der Ber­ge herumlagen, und mußte zu oft gehen, was nicht der Fall ge­we­sen wäre, wenn er die großen, in der Erde verwachsenen, genom­men hätte. Es geschah daher, als er sehr emsig trug, dass plötzlich der Hahn krähte, ein blasses Mor­genlicht in den Lüften erschien und die Engel im Himmel oben ihre Frühgebete begannen. Er mußte nun davon und die Sache lassen, wie er sie hatte."
Wie leicht bin ich zufriedenzustellen, reicht mir doch ein Restaurant mit etwas Ambiente - ein gutes Zeichen, die Speisekarte ist nur auf Tschechisch -, die Aussicht auf den im Licht der Spätsonne glitzernden Moldaustausee, Tischnachbarn, die nicht mit lila Jogginganzügen meinen Sinn für Ästhetik verletzen, sondern einen Hauch von Bildung vermuten lassen: ältere, fast vornehme Menschen, wie man sie hier selten sieht. Sie sprechen leise, aber gewiss nicht - wenn ich es auch nicht beweisen kann - über den Stau an der Grenze oder die - ach wie niedrigen - Preise.
Diesen Lipno genannten Stausee nennt man auch "das böhmische Meer". Er wirkt im Dunst des Abends tatsächlich ein wenig wie ein Meer, und die Silhouetten der Kiefern und Pappeln mit ihren immerwährend im Wind zitternden Blättern erfüllen mich mit Ruhe. Die Kronen der Pappeln gleichen einer leicht gekräuselten Wasseroberfläche im Gegenlicht, ein Perpetuum mobile, das man ohne sich zu langweilen immer und immer wieder ansehen kann.
Samstag, 17. Juni
Endlich habe ich (beim frühstücken in der Pension Vyhlídka in Přední Výtoň) meinen ersten Satz auf Tschechisch hervorgebracht. "Máte také máslo a marmeládou?" (Haben Sie auch Butter und Marmelade?). Zwischen türkischem Kaffee und Reiselektüre genieße ich den herrlichen Blick auf die Kirche und den spiegelglatten, blauen Stausee.
Bereits in uralten Zeiten soll sich hier ein See befunden haben. Gegen Ende des vorigen Jahr­hunderts entstanden dann die ersten Vorschläge für seine Neuerschaffung während der Bau erst nach dem II. Weltkrieg begann. Mit dem Füllen des Sees, der heute eine Länge von 44 km und eine Breite bis zu 4 km aufweist, wurde 1958 begonnen. "Meine Schwiegermutter kann sich noch gut daran erinnern, wie es hier, als es den See noch nicht gab, ausgesehen hat", erzählte ein freundlicher Herr mit graumeliertem Bart vor der Kirche.
Als ich am Morgen den Parkplatz vor der Kirche randvoll mit deutschen und österreichischen Autos sah, kam augenblickliche Panik bei mir auf. Soll an diesem Fronleichnamswochenende vielleicht auch hier die Wanderwut ausgebrochen sein? Können die Leute nicht gefälligst ihre eigenen Wan­der­we­ge zertrampeln? So grübelte ich missgelaunt vor mich hin. Bald konnte ich mich allerdings beruhigen. Die Menschenansammlung galt der feierlichen Einweihung der Kirche. Eine Spenden­ak­tion, an die hauptsächlich die ehemaligen deutschen Bewohner von Přední Výtoň (Neuraffl) be­tei­ligt waren, hatte die Renovierung dieser spätgotischen Kirche ermöglicht. Nun stehen sie alle bei­sammen: Tschechen (nicht sehr zahlreich) und Deutsche, Väter und Söhne. Es werden Ansprachen gehalten, eine Messe gelesen - in beiden Sprachen. Mit welchen Gefühlen sie wohl hier stehen und der Stimme des Priesters lauschen? Ist noch Ver­bit­terung in ihren Herzen?
Einige Zeit ist vergangen und ich sitze beim Frühstück im halb­leeren Raum und schrei­be. Popmusik klingt aus dem Radio. Bald, so denke ich, wird es lauter werden. Nach der Messe werden die Be­su­chermassen das Lokal über­fallen und sich den böhmi­schen Knödeln, den Schnitzeln, dem Bier - und ihren Erin­ne­run­gen hin­ge­ben. Musikanten aus Krum­mau werden aus ihren Zieh­har­monikas heimatlich-tra­di­tionelle Töne her­vor­locken. Es wird eine ganz andere Stim­mung herrschen. Die deut­sche Sprache wird domi­nie­ren, eine laute, fröhliche Me­lan­cholie wird den Raum ausfüllen.
Ich fühle mich voller Tatendrang. Bei klarer und kühler Morgenluft mit weißen Haufenwolken auf dem Hintergrund eines stahl­blauen Himmels bin ich in bester Stimmung und es zieht mich zur Burgruine Wittinghausen. Ein ideales Wanderwetter. Unterwegs zum St. Thoma-Kirchlein kommt die Sonne sporadisch her­vor, graue Gewitterwolken und blauer Himmel, Sonne und Schatten wechseln sich ständig ab. Der Waldboden ist von samtweichem, nadeldünnem Gras bedeckt.
Die einzigen Laute stammen vom Wind in den Baumwipfeln und von den allgegenwärtigen Vögeln. Durch meine Anwesenheit auf­ge­schreckt fliegt ein Dompfaff hoch, kurz darauf ein weiterer, doch meis­tens höre ich nur das Rascheln in den Zweigen. Es ist himmlisch.
Endlich bin ich am Ziel. Die Ruine Wittinghausen, Schauplatz von Stifters Erzählungen "Der Hoch­wald" und "Witiko", steht vor mir. Weithin sichtbar ist heute leider nicht mehr der im Wald ver­borgene Burgturm, sondern nur der über dreißig Meter hohe Stahlgitterturm der ehemaligen Grenzwache, ein Objekt aus der Zeit, als diese schöne Landschaft noch durch den Eisernen Vor­hang verunstaltet war. Von diesem Turm aus wurde die nahe Grenze beobachtet, nachdem im mittelalterlichen Turm, der also bis in unsere Zeit als Wachturm gedient hatte, die Steintreppe eingestürzt war. Strategisch wichtig war die Burg schon seit alters her. Sie war Stammburg der Wittigonen, Festung und Verwaltungszentrum für die umliegenden Dörfer und wechselte im Laufe der Jahrhunderte mehrmals die Besitzer: die Rosenberg, Eggenberg, Sternberk und Schwar­zen­berg, die die Feste schließlich aufgaben.
Zu Stifters Zeit war die Burg noch nicht ganz vom Wald verschluckt worden. Schließlich musste, als die Burg noch ihren Zweck zu erfüllen hatte, der Berg kahl gehalten wer­den, damit man das Herannahen der Feinde recht­zeitig bemerken konnte. Auf Stifters bekanntestem Ge­mälde der Ruine (nicht vielen ist bekannt, dass Stifter auch ein sehr begabter Land­schafts­maler war) ist kaum ein Baum oder Gebüsch zu sehen; inzwischen ist der Wald bis an die Mauern seines "gelieb­ten, kleinen Würfels" zurückgekehrt. Wie in Stifters Roman Der Hochwald in meisterhaften Sprache erzählt wird, konnte man die Burg von weit her sehen, sogar von oberhalb des schwarzen Sees unter dem Plöckenstein. Als sich die Heerhaufen des Dreißigjährigen Krieges dem Böh­mer­wald näherten, hatten sich dort, in einem Schutzhaus nahe dem See, die Töchter von Heinrich dem Wittinghauser mit dem alten Jäger Gregor in Sicherheit gebracht. Von hier aus konnten sie mit einem Fernrohr die entfernte Burg beobachten.
"Johanna war die erste am Gipfel des Felsens und erhob ein lautes Jubeln; denn in der glasklaren Luft, so rein, als wäre sie gar nicht dass, stand der geliebte kleine Würfel (die Burg) auf dem Wal­des­rande von keinem Wölklein mehr verdeckt, so deutlich stand er daß, als müßte sie mit freiem Auge sei­ne Teile unterscheiden, und der Himmel war von einem so sanftem Glanze, als wäre er aus einem ein­zi­gen Edelstein geschnitten." Später aber würde sie mit Ent­set­zen von dieser Stelle aus die zer­störte Burg erkennen.
"Mit diesem Worte schaute er in das Rohr, aber ob auch sein Auge durch Übung vielmal schärfer war als das der Mädchen, so sah er doch auch nichts anders als sie: in schöner Klarheit einen gewaltigen Turm von dem Waldrande emporstehen ohne Dach und mit den schwarzen Brandflecken, nur schien es ihm, als schwebe noch eine ganz schwache blaue Dunstschicht über der Ruine." Die Burg wurde noch im 18 Jh. bewohnt, heute steht man vor einer Ruine und man kann Stifters Geschichte nur noch in der Phantasie wieder wach werden zu lassen.
In der folgenden Stunde bleibe ich allein mit mir und der Geschichte. Lange überlege ich, ob ich auf den Gitterturm hinaufklettern soll (und beschließe, es nicht zu tun), warte auf das geeignete Licht zum fotografieren, frage mich nach dem Sinn, an diesem Ort zu sein, und genieße das geschichtsträchtige Ambiente. Erst als mich eine lärmende Touristengruppe aus meinen Gedanken reißt, mache ich mich all­mäh­lich auf den Rückweg. Und doch kann ich noch kurz von diesem "Heimattourismus" profitieren, denn der Fremdenführer aus Guglhof (dem Ort unmittelbar jenseits der österreichischen Grenze) macht mich auf interessante Details aufmerksam, die ich sonst nicht erfahren hätte: auf einen unterirdischen Bunker beispielsweise, der als Munitionsdepot verwendet worden war, auf die Ba­rack­en, die als Kasernen für die stationierte Garnison gedient hatten und auf die Tatsache, dass der Turm 1988 durch einen größeren ersetzt wurde, weil die Bäume den alten (kleineren) über­wachsen hatten.
Etwas später, in St. Thoma, ziehe ich von derselben Touristengruppe wieder Vorteil, als ich sie in der Gartennische eines alten Holzhauses in Gesellschaft eines lebhaften, Deutsch sprechenden älteren Herrns sehe. Seine Kontaktfreudigkeit und sein Bedürfnis nach Selbstdarstellung sind augenfällig. Als ich näher trete, spricht er mich freundlich an und zeigt mir gleich zwei an die Haustür gelehnte und mit geheimnisvollen Symbolen beschnitzte Totenbretter, die er für sich und seine Frau eigenhändig angefertigt haben will. Die Tra­dition kommt aus dem Bayerischen (nach der Auf­bah­rung des Verstorbenen werden die Bretter an Bäumen, Kapellen oder Wegkreuzungen aufgestellt).
Ein Kind von Traurigkeit ist Petr Ziegrosser, der ehe­ma­lige Förster, den das Schicksal in diesen kleinen Ort am Fuß der Ruine Wittinghausen verschlagen hat, si­cher nicht. Zuerst überredet er mich dazu, das goti­sche Kirchlein von St. Thoma zu besichtigen, begleitet mich dorthin und sperrt eigens für mich die Tür auf. Er zeigt mir die Spitzbogenfenster und macht mich darauf aufmerksam, dass das Maßwerk eines jeden Fensters ein anderes Muster hat.
Im Inneren lenkt er meine Aufmerksamkeit auf das Gewölbe über dem Altarraum, das mit einem Wappen­schild und einem Steinkreuz aus zusammen­ge­bun­denen Baumästen geschmückt ist, dessen Bedeutung mir leider entfallen ist. Vor dem Kirchlein erinnern zwei Ansichtskarten mit Fotos aus der Vorkriegszeit, wie es hier einmal ausgesehen hatte. In einem alten Reiseführer ist zu lesen: "St. Thoma. Dieses hoch­gelegene Dorf (960m) besitzt nur eine Gasse ähnlicher Holzhauerhütten von welchen eines das vornehme Schild 'Hotel zur Ruine Wittinghausen' trägt. Vor dem Dorf steht ein Forsthaus (auch als Jagdschloß benutzt) in dem einige Gemächer mit Zeichnungen von Dürer geschmückt sind".
Das genannte Forsthaus Revertera brannte 1990 ab, während die meisten Häuser des Dorfes bereits nach der kommunistischen Machtübernahme in der CSSR 1948 "geschleift" worden waren. Herr Ziegrosser ist sehr gesprächig, und das kommt mir sehr gelegen, denn es liegt mir sehr daran, nicht nur an der Oberfläche und an der Ästhetik der Dinge zu kratzen, sondern mehr über die Geschichte eines Ortes zu erfahren.
Die Fronleichnamskirche von St. Thoma ist eine Gründung der Rosenberg aus dem frühen 14 Jh. mit Fresken aus dem 15 Jh. Während der Herrschaft der Kommunisten erlitt sie das Schicksal der meisten Gotteshäuser des Landes und wurde zur Ruine. Ganz stolz erzählt der Förster, dass die kleine Kirche 1948 zerstört worden wäre, hätte er nicht, wohlberaten vom Sprengtrupp des Re­gi­mes, das der Kirche nahestehende Haus trotz zahlreicher Drohungen und Demütigungen mit Kre­di­ten erworben und sich seiner Zerstörung widersetzt. Da eine Sprengung der Kirche das Haus gefährdet hätte, durfte sie stehenbleiben. Jahrelang wurde sie als Schafstall mißbraucht. Jetzt macht sich Herr Ziegrosser für seine Renovierung verdient.
Vor der Kirche zeigt mir Herr Ziegrosser ein Grab. Josef Rodler, Oberförster, ist auf dem Grabstein zu lesen, und ein Datum: 1883. "Mein Vorgänger" wird mirerklärt. "Er hat diese schönen Wälder alle ge­pflanzt."
Nachdem ich einen großen Raum im Parterre des Försterhauses (eine Rumpelkammer mit den in vielen Jahrzehnten ges­am­mel­ten skurrilsten Ge­gen­stän­den, wie Jagd­tro­phä­en, Pfer­de­ge­schir­re, Fried­hofs­kreu­ze, Verbotsschilder, Kriegshelme u.ä.) auf seinen Wunsch fo­to­grafiert habe, werde ich zum Kaffee in die Wohnung ein­ge­laden und wir unterhalten uns erst mit seiner tschechischen Frau. Er selbst, dessen Vor­fah­ren im 13. Jh aus Tirol stammen, betont, dass er sich nicht als Sudetendeutscher fühlt, sondern als Tscheche. Anschließend zeigt er mir seine Holz­schnitzarbeiten, blättern wir in zahlreichen Büchern und Zeitungsausschnitten, erfahre ich von seinem Steckenpferd als Funk­ama­teur, und zuletzt führt er mich durch das gesamte Haus, in dem drei Generationen wohnen. Von seinem Zimmer äußert er mit Humor, als spräche er von seinem heiligen Refugium: "Hier schlafen mein Hund und ich."
Als wir uns schließlich verabschieden, ruft er mir noch entgegen: "Nächstes Mal klebe ich mir einen Klebestreifen auf den Mund und dann müssen Sie erzählen. "
In manchen Augenblicken, und jetzt, während ich diese Worte schreibe, ist so einer, bin ich vor Ergriffenheit den Tränen nahe. Bereits am Rückweg durch das zauberhafte Nachmittagslicht
in Hochstimmung gebracht, wollte ich noch sehen, ob die Musikanten in der Wirtschaft weiterhin musi­zierten. Und siehe da, schon vor dem Eintreten kommen mir Zieh­har­monika-Klänge ent­gegen - eine Polka. Manche Tage sind einfach rund­ge­schliffen und perfekt. Welch bindende Kraft kann Musik haben! Diese von Tschechen der älteren Gene­ration gespielte Volks­musik ähnelt der un­se­ren sehr stark. Ganz im Gegensatz zur franzö­sischen oder ita­lie­nischen Volksmusik scheint sie mit derjenigen des deutsch-ös­ter­rei­chischen Raums aus einem Guss zu sein. Das ge­mein­same mitteleuropäisches Erbe! Unvermeidlich, auch, dass das Böhmerwald-Lied [] gespielt wird. Einige der deutschen Besucher singen zuerst zaghaft mit, dann beginnen ihre Stimmen deutlicher zu werden. Bald singen Tschechen und Gäste im (Grup­pen-)Duett, jeweils in der eigenen Sprache!
Mein Tischnachbar, ein Schwabe aus Ulm, versucht mir zu erklären, wo das Haus seiner Frau einmal stand - bevor es dem Boden gleichgemacht wurde. Vergessen, nichts als vergessen sollte man solche Vorkommnisse, sagt er. Dann fährt er weiter und erzählt, wie die Zigeuner in den Kirchen kampierten und jedes Holz, auch das der Türen benutzten, um einzuheizen, wie man Kühe und Ziegen in den heruntergekommenen Kirchen hausen ließ und wie schließlich die deutschen Bewohner die ganze Kircheneinrichtung in Sicherheit über die Grenze brachten.
Während ich etwas später in Frymburk am Seeufer sitze und die Stille wie eine Medizin in mich aufnehme, kann ich im spärlichen Gegenlicht des Abends kleine Libellen, Fliegen und Mücken be­obachten, die über der See­ober­fläche zu schweben scheinen. Immer wieder bewegen sie sich ruckartig, legen eine kurze Strecke zurück, stehen einen Mo­ment fast still in der Luft, um knapp darauf wieder eine andere Position ein­zu­nehmen. Sie beißen nicht, und ich kann ihren Tanz be­wundern. Gelegentlich höre ich ein kurzes Glucksen - wohl von einem Fisch, der zugeschnappt hat - sehe aber nur noch die Stelle, an der sich das Wasser bewegt und sich dann in größer werdenden Kreisen wieder beruhigt. Die Sonne ist längst untergegangen und der blassblaue Himmel verliert langsam seinen Glanz. Dunkelgraue Wolkenreste zeichnen am Himmel ein Muster, das sich in der ölglatten Wasser­ober­fläche spiegelt und sich dort in tausend Mosaiken bricht. Nahe am gegenüberliegendem Ufer er­kennt man im See, als pechschwarzen Schatten, die dunkle Silhouette der bewaldeten Landzunge.
Ein Ruderboot fährt durch diese dunkle Stelle im See. Die Stille wird jetzt nur vom rhythmischen Klatschen der Ruderblätter und vom Quietschen der Ruder auf den Dollen durchbrochen. Die Fort­bewegung des Bootes selbst ist nahezu geräuschlos, es zerschneidet die Glätte wie ein Messer, und dabei zieht der Kiel einen Streifen hinter sich her, der seine Oberfläche dem Licht in einem anderen Winkel als das umgebende Wasser zeigt, und schon sieht es aus, als würde das Boot einen hellen Streifen malen, der sich, sobald die Bewegung des Wassers aufhört, schnell wieder auflöst. Dann taucht ein leichter Wind auf, die Wasseroberfläche kräuselt sich, und abermals er­scheint in der dunklen Spiegelfläche ein leuchtender, diesmal breiterer Streifen.
Es wird dunkler und ich beginne zu frösteln. Aus einiger Entfernung hört man das kratzende Ge­räusch, das ein Fischer beim entschuppen seines Fanges erzeugt, während an weiteren Stellen entlang des Ufers andere, nur noch als Schatten erkennbare Gestalten ihre kleinen flachen Metallkähne aus dem Wasser bergen.
Das gelbe Licht der Straßenlaternen, das einen starken Farbkontrast zum kobaltblauen, unge­wöhn­lich klaren Himmel bildet, läßt mich einen Augenblick lang an ein berühmtes Gemälde von Van Gogh denken, ein Sommerabendbild voller Wärme, mit leeren Stühlen im Freien vor einem Café. Das Gelb der Sterne und der Straßenlampen und das Dunkelblau der Nacht sind die einzigen, komplementären Farben in diesem stimmungsvollen Bild. Aber der Süden Frankreichs ist fern, hier ist eher noch ein mitteleuropäischer Vorsommerabend, an dem man sich nur mit dickem Pullover hinauswagt. In manchen Vorgärten tun die Menschen schon so, als ob es bereits Sommer wäre, sie sitzen vor einem lodernden Feuer, wärmen sich, braten Würste auf Holzspießen, machen ihren eigenen Lichtzauber, genießen die Geselligkeit und parfümieren die Luft mit Holzrauch, der in dieser verdünnten Form wie Weihrauch wirkt, angenehm, leicht, undefinierbare Erinnerungen aus großer Ferne hervorbringend.
Hunderte Assoziationen überwältigen den "logischen" Teil meines Gehirns und erzeugen ein wirres Durcheinander von Eindrücken, bei dem keiner zwar vom anderen verursacht wird und doch alles eine Kette von innigst verbundenen "Gedanken" ergibt. So bin ich mit meiner Immagination plötz­lich an der Nordsee, vielleicht nur weil ich durch die beleuchteten Fenster Einblick in das kleine Leben manch einer Familie bekommen habe, oder weil mich die einfache Bauweise dieser Häuser an jene aus einem Städtchen im hohen Norden erinnert. Es ist ein offenes Fließen, das mich in Nullkommanichts ganz woanders hinführt. Mir geht es gut.