|
|
|
|
|
LeseReise Krummau
von Harald Salfellner |
Auf das Bild klicken,
um Buch zu bestellen |
|
|
|
Böhmen und Mähren
Geschichte im Herzen Mitteleuropas
von Bernd Rill |
Auf das Bild klicken,
um Buch zu bestellen |
|
|
|
Westböhmen
Unvergessene Heimat
von Rolf Nitsch
und
Heinz Georg Podehl |
Auf das Bild klicken,
um Buch zu bestellen |
|
|
|
Böhmen und Mähren
Geschichte im Herzen Mitteleuropas
von Bernd Rill |
Auf das Bild klicken,
um Buch zu bestellen |
|
|
|
|
|
|
|
Dienstag, 24. Mai 1994 |
Von Linz aus fahre ich
durch das Mühlviertel nach Norden, zum Grenzübergang
bei Wullowitz.
Wenige Kilometer danach weiche ich von der gut ausgebauten Straße
nach Budweis ab. Kaum habe ich mich einige hundert Meter
von der Hauptstraße entfernt, da zeigt der Straßenbelag
bereits derart starke Anzeichen von Vernachlässigung,
dass ich die Fahrgeschwindigkeit herabsetzen und mich
auf ein gemütlicheres Reisetempo umstellen muss. Von Minute
zu Minute nimmt mein Staunen zu, denn ich sehe vor meinen
Augen eine Wildnis, wie ich sie im hintersten Eck des italienischen
Appennins nicht schöner finden könnte. |
Die alte Kirche und die
drei heruntergekommenen Häuser von Romitál
na umave (Rosental) versetzen mich mit einem
Schlag in die Stimmung "Zauber-der-Vergangenheit"
und fegen in wenigen Augenblicken die letzten Reste von Müdigkeit
weg. |
Was mir im adretten, modernen,
verbauten, gestriegeltem Westen fehlt, ist der Anblick von brach
liegenden Flächen, wo Kinder ihre Abenteuerlust austoben
und ihrer Phantasie freien Lauf lassen können. Man findet
es vielleicht ein wenig noch in der Provinz, aber der Ordnungssinn
und die Effizienz der Westdeutschen lässt es nicht zu,
dass ein Ort, ein Gegenstand, eine Fläche "verwahrlost".
Ach was für einen schönen Klang hat dieses Wort hingegen
in meinen Ohren. Mir wird in diesem Augenblick bewusst, wie
dankbar ich dafür bin, dass ich ein Bisschen von dieser
"Verwahrlosung" - die ich eher Freiheit
nennen möchte - auf meiner Reise erleben kann. |
Ich fahre auf schmalen,
von kleinen Birkenhainen und Büschen gesäumten, vor
sehr langer Zeit asphaltiert gewesenen Straßen, deren
Belag heute abgekratzt, brüchig und durchlöchert ist,
wenn nicht schon gar restlos zu Kies zurückgebildet. Weite
Aussichten auf die hügelige Landschaft werden von
Ahornalleen unterbrochen, manchmal strecken sogar die Birken
ihre dichten Zweige über die Fahrbahn, was dieser das Aussehen
eines künstlich geschnittenen Tunnels gibt. |
Krummau (Český Krumlov) |
|
Diesmal bin ich zwar innerlich darauf vorbereitet, dass diese
Stadt, die dank ihres intakten mittelalterlichen Kerns ein beliebte
Reiseziel von Besuchern aus der ganzen Welt ist, von einem Rahmen
architektonischer Hässlichkeiten umgeben ist, dennoch versetzt
mir der Kranz von sozialistischen Wohnsiedlungen auf den umliegenden
Hügeln einen kleinen Schock.
Die darauffolgende Betroffenheit muss schleunigst in einem Bistro
mit einem Glas pivo (Bier) hinuntergespült
werden. Der volle Magen und der Alkohol beruhigen mich
und ermöglichen es mir. über das immer wiederkehrende
Muster zu lachen, nach dem meine Reisen verlaufen. Nach diesem
bin ich zuerst enttäuscht, weil die Realität
von meinen Wunschgedanken abweicht, danach gewöhne ich
mich allmählich daran und öffne mich den positiven
Überraschungen, die sich unausweichlich irgendwann einstellen.
So ist es auch in Krummau, in dieser Stadt, die auf der Denkmalliste
der UNESCO steht.
Kaum habe ich Wurst und Pommes frites hinuntergewürgt
- nicht die Insekten, nicht die Ratten, nicht die Menschen sind
die eigentlichen Sieger im Ausleseprozess der
Evolution, sondern Pommes frites und Coca Cola
-, so mache ich mich voller Erwartungen mit dem Auto auf den
Weg in die Innenstadt. |
|
Im gleichen Augenblick,
in dem ich durch das Budweiser Tor in die Altstadt gelange,
verschwinden die genannten Hässlichkeiten aus meinem Blickfeld
und das Wunder geschieht. Vorsichtig, von der Freude über
die Entdeckung dieses Kleinods aus dem Mittelalter wie in eine
Trance versetzt, manövriere ich meinen Wagen über
das Kopfsteinpflaster, um langsam durch die engen Gassen des
Stadtteils Latrán voranzukommen, zunächst
aber mehr mit der Suche nach einer Unterkunft beschäftigt,
als mit der Stadtbesichtigung. Nach ein paar hundert Metern
ein unmissverständliches Schild: Fußgängerzone,
Einfahrt verboten. Ich begrüße zwar diese zivilisierte
Maßnahme, aber weil es bereits 7 Uhr ist und ich noch
immer kein Hotel gefunden habe, bin ich leicht irritiert.
Einige Autos missachten offensichtlich das Verbot und fahren
durch. So fahre ich kurz entschlossen den anderen hinterher.
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus! Zwar ist bereits
eine Reihe Touristenläden entstanden, und Baugerüste
verdecken an mehreren Stellen die architektonische
Substanz, aber man merkt sofort: Die Stadt ist völlig intakt
geblieben. |
Als ich über eine
Holzbrücke (die sogenannte Baderbrücke) über
die Moldau fahre, öffnet sich mir zur Rechten der Blick
auf den mächtigen Bau der Krummauer Burg (übrigens
die zweitgrößte im Land nach dem Hradcin in
Prag!) und links auf die St. Jodokus Kirche. Noch ein
paar hundert gesetzwidrige Meter weiter, dann befinde ich mich
auf dem Hauptplatz, sicher geparkt vor dem Hotel Krumlov. Schnell
habe ich in diesem (für 380.- Kronen) ein Zimmer gebucht,
und dann sitze ich bequem im Freien bei Kaffee und Gebäck.
Ich hätte sicher eine preiswertere Pension finden können,
aber "who cares?", mir geht es gut. |
|
Der
sommerlich warme Tag neigt sich dem Ende zu, und in der lauen
Abendluft komme ich nicht aus dem Schwärmen. Zu dieser
Uhrzeit ist kaum noch Fahrzeuglärm zu vernehmen,
die Tagestouristen sind abgefahren und man merkt an der
resultierenden Beschaulichkeit, dass die Reisesaison
noch nicht wirklich begonnen hat. Es umgibt mich eine
angenehme Stille. Denkt man sich die wenigen
Autos vom Rathausplatz weg, ist es ein Leichtes, sich
in vergangene Zeiten zu versetzen. |
|
Faszinierend:
der beeindruckende Blick von dem über die Moldau
führenden Steg auf die Burg, manche intime Ecke
mit kleinen ein- oder zweistöckigen Häusern,
das Auf-und-ab verwinkelter Gassen, allerlei
Treppen, Treppchen und Durchgänge und die etwas abseits
der Hauptsehenswürdigkeiten gelegene,
steil zu den Parkanlagen im Burgareal hinaufführende
Gasse, die an verwilderten Gärten vorbei, von stellenweise
zerbröckelnden und in den Ritzen stark bewachsenen
Steinmauern gesäumt, zu einer berauschenden Aussicht
führt. |
|
Und immer wieder nehme
ich diese auffallende Stille in den Seitengassen wahr, die manchmal
sogar das Rascheln der eigenen Kleidung oder das Klopfen der
eigenen Schritte als störend erscheinen lässt.
Die Zeit scheint stehen geblieben, und ich denke manchmal, ich
könnte Tage, Wochen, Monate oder sogar längere Zeit
hier verbringen. |
Mittwoch, 25. Mai |
Von meinem Fenster aus
kann ich direkt auf eine schmale, pittoreske Gasse schauen.
Ein leichter Regen tröpfelt auf das Kopfsteinpflaster und
bringt einen angenehmen Duft von nassem Staub, der sich mit
dem scharfen, leicht modrigen Geruch der frisch gekalkten Wände
meines Zimmers vermischt. Ich nehme mir Zeit. |
Dieses Stadtzentrum ist
wirklich eine seltsame Art von Fußgängerzone: Ein
dänisches Paar, das wie ich am Abend zuvor in den Ort gefahren
ist, musste einen Strafzettel von umgerechnet 30,-
DM zahlen, während außer mir auch zahlreiche weitere
Autofahrer unbehelligt blieben. Ich lasse mir an der Rezeption
den Text des Verbotsschilds übersetzen: "Von 10:30
bis 11:30 ist das Be- und Entladen erlaubt". Diese Zeit
scheint jedoch sehr großzügig bemessen zu werden.
|
|
Manchmal
können Museumsbesuche sehr aufschlussreich sein, dann
nämlich, wenn der Fremdenführer keine auswendig
gelernte Litanei mit langen Reihen trockener Geschichtsdaten
herunterratscht, sondern in der Lage ist, dem Besucher
historische Zusammenhänge, lebendige Details
und Anekdoten mit einer lebendigen, ausdrucksvollen Sprache
näherzubringen. Aber meistens beschränke
ich mich darauf, mich von der Aussagekraft der Ausstellungsstücke
selbst leiten zu lassen. Diese haben ihre eigene Sprache, und
wenn man sich mit ihr auseinandersetzt, wird man fast von selbst
und nahezu unmerklich in die dargestellte Geschichte hineingezogen.
So stelle ich beispielsweise sehr bald fest, dass mich die Bilder
und die alten Dokumente selbst, die ja original in
deutscher Sprache sind, der Geschichte näher bringen. So
bewundere ich die Porträts eines Herrn "Neubauer
und Weib, Totengräber der Gr. Veitskirche in Krummov,
1700 Jht", oder eines "Ferdinand Kindermann,
Ritter von Schulstein, Bischof von Leitmeritz",
während alte Ansichtskarten mit Motiven
zu Adalbert Stifters Erzählungen "Bunte Steine",
"Katzensilber" und "Bergkristall" oder
das alte Buch "General Kunst-Artikulen für die
Gunssten deren königl. Böhemischen Erb-Landen
(De Anno 1739)" die Atmosphäre dieser vergangenen
Zeiten für mich rekonstruieren. |
|
Durch Bilder kann bei
mir sehr schnell Interesse geweckt werden. So regen mich beispielsweise
die Bilder aus der Gegenreformation und dem Dreißigjährigen
Krieg dazu an, mich etwas mit diesen Epochen zu befassen. Der
Text des Museumführers erwähnt die Niederlage des
Ständeaufstandes auf dem "Weißen Berg"
(Bílá Horá) bei Prag am 8. November
1620 und die darauffolgende Hinrichtung 27 böhmischer Herren
auf dem Altstädter Ring in Prag im Jahre 1621.
Originaltext auf den Bildern: "Wie D. Jelsemi Cörper
geviertheilt und auf die Seraffen gesteckt ist worden"
(gruselige Darstellung der Spieße auf denen Körperteile
aufgespießt worden waren) und "Diese Figur
gibt eigentlich zu erkennen, wie die 24 Personen einer nach
der anderen enthauptet und hernach noch 3 andere mit dem Strang
gezichtet wurden." Diese Episode markierte eine Zäsur
in der böhmischen Geschichte. Der Konflikt zwischen den
böhmischen nichtkatholischen Ständen (Adel und Bürgertum)
und den Habsburgern war mit dem Prager Fenstersturz 1618 voll
entbrannt. Die tolerante Einstellung von Rudolf II, dem letzten
Habsburger, der seinen Sitz in Prag hatte und der eine umfangreiche,
für das damalige Europa unvergleichliche Religionsfreiheit
eingeführt hatte, war der Bigotterie Ferdinands II gewichen.
Die böhmischen Stände erlitten sehr bald ihre Niederlage
in der nicht allzugroßen Schlacht auf dem Weißen
Berg. Diejenigen Anführer des Ständeaufstandes,
die das Land nicht verlassen hatten, wurden verhaftet, und 27
von ihnen wurden exemplarisch hingerichtet. Dies war
der Anfang eines systematischen Rekatholisierungsprozess. |
|
Aus den meisten Exponaten
ist herauszulesen, dass diese Gegend jahrhundertelang deutsches
Siedlungsgebiet war. Bei den Glaswaren Böhmerwalder Provenienz
sind es die auf einem Kristallbecher gemalten Sprüche
wie "Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der
Mühe Preis", auf einer topographischen Karte die
Widmung "der in Böhmen budweiser Kreises liegenden
Sr. Durchlaucht dem Fürsten zu Schwarzenberg Herzog zu
Krummau gehörenden Herrschaft Krummau..", auf
einer alten Ansichtskarte die Aufschrift "Elektrizitätswerk
Ignaz Spiro & Söhne, Hohenfurt in Böhmen, 1911"
oder auf alten Fotos den "Treudeutschen Neujahrsgruß
vom Krummauer Männer-Gesang-Verein", den "Gruß
vom Böhmerwald-Passionspiel zu Höritz", die
"Satzungen für die freiwillige Feuerwehr in Krummau,
1868" und vieles mehr. Wo Texte auf alten Bildern zu
finden sind, sind siefast ausschließlich auf Deutsch.
"Die erste Eisenbahn des europäischen Kontinents,
zeitgenössische Bilder und ein kleines Modell
des Betriebes auf der Pferdebahn Budweis - Linz. Prof. F.A.
Gerstner, Autor des Projekts". da kann man sich schon
darüber ärgern, dass Krummau heute "Český
Krumlov" genannt wird. |
|
Das Wetter wechselt ständig.
Einmal ist der Himmel bewölkt, kurz darauf folgen sonnige
Abschnitte. Dadurch entsteht eine sehr reizvolle Stimmung.
Nachmittag reißt es völlig auf und mein Fotografenherz
fühlt sich für einen Augenblick äußerst
beschwingt.
In den Mittagsstunden steigt die Zahl der Besucher auf ein gerade
noch erträgliches Maß an. Unüberhörbar
ist der hohe Anteil von österreichischen Gästen, aber
auch tschechische Gruppen scheinen sich inzwischen eine solche
Reise leisten zu können. Als der Abend kommt, sind diese
Touristen allerdings größtenteils samt ihren Bussen
wieder verschwunden, und es wird etwas ruhiger. Nach dem Nachtmahl
sitze ich lange Zeit geduldig - Fotoapparat auf dem Stativ -
auf der Burgmauer und warte, bis das bestmögliche Licht
mir gute Aufnahmen ermöglicht. Danach - die Luft ist immer
noch lauwarm - kehre ich zurück auf den Hauptplatz, setze
mich auf eine Bank, und während die wenigen Lichter hinter
den Fenster aufgehen, schaue ich zu, wie sich die Nacht langsam
auf den Ort senkt. |
Donnerstag, 26. Mai |
Ich nehme mein Frühstück
wieder im Freien. Herrliches, frühsommerliches Wetter stellt
eine angenehme Weiterfahrt in Aussicht. Mir fällt
auf, dass es viele Zigeuner, die sich in ihrer Physiognomie
von den sonst eher blonden Slaven auffällig unterschieden,
zu sehen gibt. Ich habe auch den (vielleicht oberflächlichen)
Eindruck, dass diese Volksgruppe sehr gut integriert sei, denn
ich beobachte nicht wenige gemischte Paare, was bei uns in Deutschland,
wo Roma und Sinti eine isolierte und diskriminierte Gruppe bilden,
eher die Ausnahme ist. |
|
Gegen
10 Uhr, als die ersten Besucherherden wieder auftauchen,
suche ich das Weite.
Ich will fürs erste noch nicht meinen nächsten Aufenthaltsort
suchen, sondern die Ortschaften, die auf der Karte als "nicht
mehr existent" gekennzeichnet sind. Daraus wird eine faszinierende
Irrfahrt kreuz und quer durch das ehemalige Sperrgebiet entlang
der Grenze. Auf der Suche nach einer Vergangenheit, die es nicht
mehr gibt. Sie ist erloschen, dem Boden gleich gemacht, überwachsen,
zum Naturschutzgebiet deklariert. |
|
Die ehemaligen Bewohner
wurden über weite Gegenden im deutschspachigen Raum verstreut.
Noch eine Generation, dann wird auch die Erinnerung an die Heimat
Böhmerwald für alle Zeiten verschwunden sein. |
Die Zeit vergeht sehr schnell.
Bei Guglwald komme ich über die österreichischen
Grenze, die für Fußgänger und Radfahrer bereits
offen ist. Die aufgerissene Straße und das Brummen zahlreicher
Bulldozer, die die Grenzstraße auszubauen versprechen,
kündigen jedoch bereits die neue Zeit an. |
Ein mannshoher, mit winzigen
roten Früchten beladener Berberizenstrauch gibt dem kleinen
Garten der Gaststätte Guglwaldhof, in der ich zu Mittag
esse, eine kultivierte Note. Genüsslich lasse ich mir die
ausgezeichnete Küche - ich nehme Spinatknödel in zerlassener
Butter mit Petersilie - schmecken, bleibe dann noch eine ganze
Weile sitzen und lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, während
flauschige Pappelsamen wie kleine Fallschirme oder Sommerschneeflocken
vor meinen Augen herabsegeln. |
Mein Blick schweift über
die saubere, geordnete österreichischen Landschaft, in
der in nicht zu großen Abständen gut erhaltene kleine
Bauernhöfe einen zivilisierten Gesamteindruck vermitteln.
Nur wenige Schritte jenseits der Grenze hingegen fängt
bereits die große Leere an, die sich selbst überlassene
Natur - die Freiheit, in meinen Augen. Bald bin ich wieder drüben.
|
|
Eine drückende Gewitterstimmung
liegt in der Luft und lässt das Vogelgezwitscher, das Chrrt-chrrt
der Cykaden, ja die Stille selbst geheimnisvoll erscheinen,
fast bedrohlich. |
Nichts ist geblieben von
der Ortschaft Stift, kein auch nur so kleines
Zeichen, nichts ist mehr zu sehen, außer wild wuchernde,
schöne Natur; das Drama der Zerstörung ist für
alle Zeit vergessen, überlagert von der neuen Pracht.
Unwillkürlich muss ich an einen beklemmend-schönen
Satz von Adalbert Stifter denken "Dort, zum Beispiele,
wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt
ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um
seine Locken, er versinkt - und wieder nach einem Weilchen wallt
der Silberspiegel, wie vorher." |
Stand hier einmal Schönfelden?
frage ich mich, während ich einen kleinen dunkelgelben
Schmetterling auffliegen seh. Aber ich kann von dem
Ort nicht die kleinste Spur finden. Selbst in der Wüste
kann man Restzeugnisse von weit in der Vergangenheit durch Kriege
zerstörten Städten aufspüren, hier haben die
roten Herrscher gründliche Arbeit geleistet.
Ein Mensch hat in einem Ort gelebt, der Ort ist verschwunden,
ein anderer Mensch hat den ersten gesehen, mit ihm gesprochen,
seiner Geschichte zugehört. Dann ist auch er gestorben.
Was bleibt übrig, wenn die Erinnerung der Erinnerungen
verschwunden ist? Wenn die Bezugspunkte verschwunden
sind, alle Querverbindungen? Wenn Wiesen, Ameisen, die alles
überwuchernde Natur alles verschluckt haben? |
Ich erkenne, obwohl es
ihn doch vor wenigen Jahren noch gab, nicht einmal mehr jene
Ausgeburt des Bösen, den ehemaligen Grenzstreifen, noch
die Narben, die er mit seinen Wachtürmen und Grenzzäunen
hinterlassen haben müßte. |
|
|
Und dann! Eine Spur! Ein
Brunnen aus dem Jahr 1913, ein Hinweis auf das Dorf Kapellen
auf einer Inschrift. Ein Denkmal, ein Kranz, für die Pfarrei
Kapellen 1300-1959. Sonst nur ein paar große Granitblöcke,
an denen deutliche Spuren von Formen und Bearbeitung
zu erkennen waren.
Hunderte von kleinen Fliegen kreisen um die uralte Kastanie
in der Nähe des Denkmals und umhüllen sie mit
ihrem Summen, das mich an das unheimliche Dröhnen des Didgeridoo
der australischen Ureinwohner erinnert. Dieser alte Baum,
denke ich, hat wohl noch das Dorf gesehen, die ehemaligen Bewohner,
deutsche Stimmen gehört. Er hat jedoch keine Erinnerung.
|
|
Seit wann besteht Erinnerung?
Seit dem ersten einzelligen Lebewesen? Seit dem großen
Urknall? Begann damals die Erinnerung aus dem Chaos, als die
Elementarteilchen in alle Richtungen des Universums geschleudert
wurden und jedes für sich in die gleiche Richtung weiterfliegen
musste? Ist die Trägheit der Masse die erste Form von Erinnerung?
Sind die Naturgesetze selbst Erinnerung? Oder widerspricht
die heutige Auffassung von Physik (Heisenbergs Prinzips der
Indetermination der Quantenphysik) dem Konzept
von Erinnerung? Wäre alles, was in der Vergangenheit je
existiert hat, rekonstruierbar, falls das deterministische Prinzip
(alles hat eine nachvollziehbare Ursache) der Wirklichkeit entspräche?
Könnte man dieses große Erinnerungsvermögen
dann mit Gott identifizieren? |
Erst bei Kapellen
erkenne ich am breiten, nackten Landstreifen und an einem erhalten
gebliebenen Wachtturm, dass hier einstmals der Todesstreifen
verlief. Mich schaudert's beim Gedanken, dass vor nicht allzu
langer Zeit, wäre ich hier gefahren, auf mich geschossen
worden wäre.
Dem Todesstreifen entlang: Keine Menschenseele; ein holpriger
Weg voller Furchen und Steine; verwilderte Wiesen und Hecken;
hier und da ein verfallener Zaun - eine mitteleuropäische
Wildnis. Als ich an einem alten verlassenen Holzschuppen vorbeifahre,
flattern plötzlich zwei rotbraune Vögel vor mir auf,
während es zu tröpfeln beginnt. |
|
Dann
plötzlich: die schönste Frühlingswiese,
ein Pferd, das friedlich inmitten von Löwenzahn weidet,
dunkle Wolken im Hintergrund - man hört schon das dumpfe
Grollen eines näherkommenden Gewitters.
Und endlich - ein Lebenszeichen, das Dorf Stubanky,
das aus nur zwei neuerbauten Reihenhäusern mit
auffälligem rotem Dach zu bestehen scheint, während
das daneben stehende ältere Gebäude gerade abgerissen
wird. Vyí Brod (Hohenfurth)
ist eine Wiederholung mir inzwischen bekannter Klischees. Ein
schöner Hauptplatz, ein bemerkenswertes Kloster, umgeben
von übelster sozialistischer Proletenarchitektur. |
|
Abends, in Nová Pec
(Neuofen) |
Schnellgedanken im Restaurant:
Das, was in der böhmischen Küche gut war, ist in die
Wiener Küche eingegangen und im eigenen Land verschwunden
- 50 Jahre Sozialismus? Der Übergang zu Pommes frites und
Schnitzel ist erstaunlich rasch vonstatten gegangen, auf den
wenigsten Speisekarten kann ich die Namen böhmischer
Gerichte lesen, von Böhmens großer Küche sind
heute nur noch undefinierbarer Braten mit Soße und Einheitsknödel
geblieben. Es wird die internationale Küche nachgeäfft,
zu Phantasielosigkeit und Abfallkultur verkommen - Grillteller
& Co lassen grüßen. Zwetschgen- und Marillenknödel,
Golatschen, Liwanzen oder Buchteln, ich habe sie auf keiner
Speisekarte gesehen, wohl aber fehlen dort niemals die
Palatschinken - mit Eis! |
Beim Abendspaziergang:
Es knackt plötzlich in den Büschen und zwei Rehe liefen
vor meinen Augen über die Straße. |
Freitag, 27. Mai |
|
Auf
dem Gutwasserberg in Oberplan: "da ruhen
die breiten Waldesrücken und steigen lieblich schwarzblau
dämmernd ab gegen den Silberblick der Moldau. Es wohnet
unsäglich viel Liebes und Wehmütiges in diesem Anblicke."
(Adalbert Stifter).
Das Liebliche hat dem Wildromantischen Platz
gemacht. Über der Moldau, bzw. über dem Moldaustausee,
erhebt sich vor meinen Augen eine neblig-graue Gewitterwand.
Auch glänzt sie nicht silbrig sonder grau, während
die Oberfläche vom Wind gekräuselt
wird.
|
|
Im kleinen Wäldchen
oberhalb von Oberplana bläst es eiskalt durch alle noch
so kleinen Öffnungen meiner Windjacke. Etwas gebückt
sitze ich unter dem Denkmal von Adalbert Stifter, vergeblich
versuchend, mich im Windschatten des Sockels vor der eisigen
Luft zu schützen, während bereits dicke Regentropfen
immer dichter auf mich herabklatschen. |
|
So
ergreife ich die Flucht aus diesem mir äußerst "deutsch"
erscheinenden Zauberwald, der so aussieht, wie Wälder in
alten Märchen und Legenden. Instinktiv muss ich ihn mit
dem märchenhaften Wald in Covadonga im
nordspanischen Asturien vergleichen. Die Eichen, die
Rotbuchen, die Birken und die riesengroßen Fichten, der
dicht bewachsene Boden, die auf dem Weg liegenden
Granitblöcke, sie alle strahlten etwas Urzeitliches
aus, Romantisches, Geschichtsträchtiges. |
|
Überhaupt, Granit!
Ich habe Stifters Erzählung "Granit" noch nicht
gelesen, aber mir sind sie vom Anfang an aufgefallen, all die
Brunnen, Bänke, großen Tröge, die aussehen,
als wären sie aus einzelnen Blöcken reinsten Granit
herausgemeißelt. Welche Verbindung haben sie zu dieser
Gegend, zu den Bildern riesiger Felsblöcken in den Zeichnungen
Stifters, zu den verschiedenen Darstellungen des Böhmerwalds?
|
So scheint mein vierter
Reisetag ganz im Zeichen Stifters abzulaufen. Fasziniert von
seiner meisterhaften Sprache, von seiner Beschreibungskunst
von Menschen und Landschaften, auf der Suche nach den Stationen
seines Lebens. Noch habe ich nicht den Weg zu den reißenden
Bächen, den dunklen Wäldern, den riesigen Felsblöcken
und den Burgruinen gefunden, die jegliche Literatur über
ihn beschreibt. Der Plöckenstein, wo ein Denkmal für
Stifter steht, ist in Wolken gehüllt. |
Abends in Nová Pec |
|
Nach
dem Abendessen, trete ich mir noch die Beine aus und folge einer
geraden Straße, die parallel zum Seeufer verläuft.
Jedesmal wenn ich stehenbleibe und horche, berauscht mich diese
Ruhe, das Gewirr der Vogelstimmen, das satte Grün
der Wiesen, der matte Abendhimmel, die stille Wasseroberfläche.
Mir ist bewusst, dass diese Wildnis nur zwei Schritte vom warmen
Pensionszimmer entfernt ist, und ich frage mich, ob ich jemals
die Natur in engerem Kontakt erleben werde, weitab von Menschensiedlungen
und ohne diese sichere Nähe. |
|
Samstag, 28. Mai |
Obwohl das graue Wetter
keine gute Aussicht verspricht, beschließe ich, mich auf
den Weg zum Plöckenstein, mit 1378 Metern dem höchsten
Berg des Böhmerwalds auf tschechischer Seite, zu machen.
Ein Waldweg wie tausend andere. Der Himmel ist grau bis diesig-weiß,
und bloß gelegentlich kämpft sich die schwache
Sonne durch. Nur vereinzelt kann man die im "Hochwald"
von Stifter so meisterhaft beschriebenen
romantischen Sturzbäche, mächtigen
Granitblöcke oder imposanten alten Bäume
finden |
|
" .. ein riesenhaft großer und sehr alter Baum,
der gewaltige Äste, eine rauhe aufgeworfene
Rinde und mächtige, in die Erde eingreifende Wurzeln
hat", "das weiße Gerippe eines gestürzten
Baumes" oder " .. tausendjährige
Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie
bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da
sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen und rundgerieben
sind ..".
|
|
Eine gewisse Enttäuschung,
also, die am vielgerühmten Plöckensteiner See
ihren Höhepunkt erreicht. Von Romantik ist nichts
zu spüren! Es wartet eine Schar lärmender, teilweise
mit Mountainbikes gekommener Ausflügler auf mich.
Sie haben sich gleichmäßig auf Bänken und Tischen
eines nahe dem Ufer gelegenen Picknickplatzes breitgemacht.
Dieser höchstgelegene Gletschersee des Böhmerwaldes
ist durch ein Netz von Wander- und Fahrradwegen
bestens erschlossen. Kaum vorstellbar, wie es hier im Sommer
zugehen muss. |
|
"Ein schöner, schwarzer Zaubersee soll in ihrer
Mitte ruhen, und wunderbare Felsen und wunderbare Bäume
um ihn stehen, und ein Hochwald ringsherum sein, in dem seit
der Schöpfung noch keine Axt erklungen".
|
|
Ich
marschiere weiter und werde nach einer knappen halben Stunde
durch einen nun ansehnlicher gewordenen Wald doch
noch entschädigt, dort nämlich, wo dem "Dichter
des Hochwalds" schon im vorigen Jahrhundert ein Denkmal
gesetzt wurde, ein 15 Meter hoher Granitobelisk. Bei guter
Fernsicht ist das baumhohe Denkmal einer der schönsten
Aussichtspunkte Südböhmens, nicht nur wegen
des Blicks 220 m hinunter zum Plené jezero.
Leider zwingt mich ein drohendes Gewitter dazu, zurückzukehren. |
|
Auf dem Rückweg fällt
mir ein künstlich angelegter, etwa eineinhalb Meter breiter
Graben auf, heute überwuchert von Farnen
und Gräsern aber offensichtlich noch erkennbar als ehemaliger
Wasserweg: der berühmte Schwarzenberger Kanal. Es
lohnt sich, ein paar Worte über ihn zu verlieren. Der Gedanke,
das Stromgebiet von Moldau und Donau durch einen Kanal zu verbinden,
stammt schon aus der Zeit Karls IV. Erst am Ende des 18. Jh.
plante der Bauingenieur der Schwarzenbergs, Josef Rosenauer,
eine großzügige Lösung. Sie ermöglichte
es, das Holz aus den Wäldern im Stromgebiet der Moldau
in den Fluss Mühl in Österreich und dadurch
in die Donau zu schwemmen. Der Kanal wurde von vielen Seebächen
und Regulierseen gespeist, und trocknete so nicht einmal während
der Sommerhitze aus. Der Kanal wurde mit Steinplatten ausgelegt,
war fast 40 km lang, einschließlich des 419 m langen Tunnels
bei Hirschberg. Leider gelang es mir nicht, auf der Karte die
grenzüberschreitende Stelle dieses technischen
Wunderwerks zu finden. Auf tschechischer Seite soll er streckenweise
noch bis 1962 in Betrieb gewesen sein. |
|
Abends, in Srni (Rehberg) |
|
Jetzt
bin ich wirklich dort, wo sich Hasen und Füchse gute Nacht
sagen. Eine weite Landschaft erstreckt sich vor meinen
Augen, mit sanften bewaldeten Bergrücken im Hintergrund,
anderswo dunkelgrüne, feuchte Wiesen, gelb gesprenkelt
mit Sumpfdotterblumen, am Himmel noch ein zartes Blau mit
zerfledderten weißen und grauen Wolkenfetzen,
das sich langsam in eine bedrohlich wirkende
Gewitterfront verwandelt. |
|
Soeben habe ich eine Glocke
läuten gehört, und an der Stelle, an der ich mich
befinde, könnte man glauben, es hätte sich in den
letzten hundert Jahren nichts geändert. Plötzlich
schreckt mich ein Geräusch wie von einer wütenden
Ente auf, aber es ist ein Reh, das keine zwanzig Meter vor mir
aus dem Wald gesprungen ist, ich sehe es wenige Sekunden zwischen
den niedrigen Fichten vorbeilaufen, dann ist es verschwunden.
Ich höre nur noch das Zwitschern von Hunderten von Vögeln,
die Rufe von Kindern aus der Ferne, einen Hund, der plötzlich
aufbellt, dann ist alles still. Es umgibt mich eine Stille,
wie sie bei uns kaum noch zu finden ist, weil es überall,
auch an den schönsten Flecken, mehr Menschen, mehr Häuser,
mehr Autos gibt. Nicht dass auch hier nicht ab und zu aus der
Ferne Motorenbrummen zu hören sei, aber es wird gleich
wieder leise, und im Kontrast fällt die darauffolgende
Stille besonders angenehm auf. |
|
Es
ist kühl geworden und doch sitzen vor manch einem dům
(Haus) am Ortsrand die Menschen im Freien vor einem Feuer und
bereiten darauf ihr Abendessen. An anderer Stelle sitzt eine
ganze Schulklasse um ein Lagerfeuer. Wann tat ich das zum
letzten Mal? Dieser süßliche Holzfeuerrauch weckt
Eindrücke aus meiner Kindheit in mir und führt
mich zurück in diese seit langem vergangene Zeit. Die Stille
ist nur durch menschliche Geräusche belebt. |
|
Srni, Sonntag, 29. Mai |
In diesem entlegenen Teil
des Böhmerwaldes, der umava (was, die "Rauschende"
bedeutet), treffen alle Charakterzüge dieser Gegend zusammen,
herabstürzende Waldbäche und vor sich hinplätschernde
Rinnsale, dunkle Urwälder, weite offene Flächen, Feuchtwiesen
und Moore, sanftes Mittelgebirge. Und, was mir immer so wichtig
erscheint, ein Maß an Verlassenheit und Einsamkeit, das
selbst an schönen Sommerwochenenden - gegebenenfalls weicht
man von den Hauptwanderstrecken etwas ab - erhalten
bleibt. Und spätestens am Abend, wenn die Tagestouristen
abgereist sind und es bei den Zeltplätzen ruhiger geworden
ist, ist der ganze Zivilisationsrummel plötzlich wie weggefegt.
So muss es auch bei uns auf dem Lande einmal gewesen sein, vor
dem Weltkrieg vermutlich, als die Auto- und Freizeitgesellschaft
noch nicht erfunden worden war. |
|
Zwischen
wunderlich geformten, riesigen Steinen wirbelt kristallklares
Wasser, anderswo fließt es behäbig vor sich hin,
oder es bildet ruhige, von Eisen bräunlich gefärbte
Tümpel in der Nähe des Ufers. Ich frage mich,
welch übermächtige Naturgewalt diese
Giganten jemals hierher schaffen konnte. Kaum vorstellbar
das Donnern der herabstürzenden Felsen,
die Wucht der alles hinweg spülenden Wassermassen,
ein urzeitliches Inferno muss es gewesen sein, denn die Anwesenheit
solcher Brocken im Flussbett kann nicht durch das ausdauernde
Wirken von Wetter und Zeit allein erklärt werden. |
|
Stunden
und Stunden verbringe
ich hier entlang dem Fluss Vydra, manchmal am Uferweg
entlang, manchmal stolpernd über die Wurzeln am Waldboden,
manchmal von Stein zu Stein kletternd und springend oder einfach
auf einem von ihnen sitzend, darauf erpicht, jedes eigene Geräusch
zu vermeiden, um ja die Ursprünglichkeit dieser
Umgebung nicht zu stören. Solche Stellen sind wie gut versteckte
Juwelen, die man im raschem Vorbeifahren nicht entdeckt,
die man suchen muss, oder einfach auf langen Wanderungen zufällig
findet, als Überraschung, quasi als Belohnung dafür,
dass man sich so viel Zeit genommen hat und Mühen nicht
gescheut hat. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|