Im Böhmerwald
Reiseskizzen von Bernd Zillich   
   
 
                   
   
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Mai 1994
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Dienstag, 24. Mai 1994
Von Linz aus fahre ich durch das Mühlviertel nach Norden, zum Grenzübergang bei Wullowitz.
Wenige Kilometer danach weiche ich von der gut ausgebauten Straße nach Budweis ab. Kaum habe ich mich einige hundert Meter von der Hauptstraße entfernt, da zeigt der Straßenbelag be­reits derart starke Anzeichen von Vernachlässigung, dass ich die Fahrgeschwindigkeit he­rab­setzen und mich auf ein gemütlicheres Reisetempo umstellen muss. Von Minute zu Minute nimmt mein Stau­nen zu, denn ich sehe vor meinen Augen eine Wildnis, wie ich sie im hintersten Eck des italie­ni­schen Appennins nicht schöner finden könnte.
Die alte Kirche und die drei heruntergekommenen Häuser von Rožmitál na Šumave (Rosental) ver­setzen mich mit einem Schlag in die Stimmung "Zauber-der-Vergangenheit" und fegen in wenigen Augenblicken die letzten Reste von Müdigkeit weg.
Was mir im adretten, modernen, verbauten, gestriegeltem Westen fehlt, ist der Anblick von brach liegenden Flächen, wo Kinder ihre Abenteuerlust austoben und ihrer Phantasie freien Lauf lassen können. Man findet es vielleicht ein wenig noch in der Provinz, aber der Ordnungssinn und die Effizienz der Westdeutschen lässt es nicht zu, dass ein Ort, ein Gegenstand, eine Fläche "ver­wahr­lost". Ach was für einen schönen Klang hat dieses Wort hingegen in meinen Ohren. Mir wird in diesem Augenblick bewusst, wie dankbar ich dafür bin, dass ich ein Bisschen von dieser "Verwahr­lo­sung" - die ich eher Freiheit nennen möchte - auf meiner Reise erleben kann.
Ich fahre auf schmalen, von kleinen Birkenhainen und Büschen gesäumten, vor sehr langer Zeit asphaltiert gewesenen Straßen, deren Belag heute abgekratzt, brüchig und durchlöchert ist, wenn nicht schon gar restlos zu Kies zurückgebildet. Weite Aussichten auf die hügelige Landschaft wer­den von Ahornalleen unterbrochen, manchmal strecken sogar die Birken ihre dichten Zweige über die Fahrbahn, was dieser das Aussehen eines künstlich geschnittenen Tunnels gibt.
Krummau (Český Krumlov)
Diesmal bin ich zwar innerlich darauf vorbereitet, dass diese Stadt, die dank ihres intakten mittelalterlichen Kerns ein beliebte Reiseziel von Besuchern aus der ganzen Welt ist, von einem Rahmen architektonischer Hässlichkeiten umgeben ist, dennoch versetzt mir der Kranz von sozialistischen Wohnsiedlungen auf den um­liegenden Hügeln einen kleinen Schock.
Die darauffolgende Betroffenheit muss schleunigst in einem Bistro mit einem Glas pivo (Bier) hinunter­ge­spült werden. Der volle Magen und der Alkohol beru­higen mich und ermöglichen es mir. über das immer wiederkehrende Muster zu lachen, nach dem meine Reisen verlaufen. Nach diesem bin ich zuerst ent­täuscht, weil die Realität von meinen Wunschgedanken abweicht, danach gewöhne ich mich allmählich daran und öffne mich den positiven Überraschungen, die sich unausweichlich irgendwann einstellen. So ist es auch in Krummau, in dieser Stadt, die auf der Denkmalliste der UNESCO steht.
Kaum habe ich Wurst und Pommes frites hinun­ter­ge­würgt - nicht die Insekten, nicht die Ratten, nicht die Menschen sind die eigentlichen Sieger im Ausle­se­pro­zess der Evolution, sondern Pommes frites und Coca Cola -, so mache ich mich voller Erwartungen mit dem Auto auf den Weg in die Innenstadt.
Im gleichen Augenblick, in dem ich durch das Budweiser Tor in die Altstadt gelange, verschwinden die genannten Hässlichkeiten aus meinem Blickfeld und das Wunder geschieht. Vorsichtig, von der Freude über die Entdeckung dieses Kleinods aus dem Mittelalter wie in eine Trance versetzt, manö­vriere ich meinen Wagen über das Kopfsteinpflaster, um langsam durch die engen Gassen des Stadtteils Latrán voranzukommen, zunächst aber mehr mit der Suche nach einer Unterkunft be­schäftigt, als mit der Stadtbesichtigung. Nach ein paar hundert Metern ein unmissverständliches Schild: Fußgängerzone, Einfahrt verboten. Ich begrüße zwar diese zivilisierte Maßnahme, aber weil es bereits 7 Uhr ist und ich noch immer kein Hotel gefunden habe, bin ich leicht irritiert.
Einige Autos missachten offensichtlich das Verbot und fahren durch. So fahre ich kurz entschlossen den anderen hinterher. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus! Zwar ist bereits eine Rei­he Touristenläden entstanden, und Baugerüste verdecken an mehreren Stellen die architek­to­ni­sche Substanz, aber man merkt sofort: Die Stadt ist völlig intakt geblieben.
Als ich über eine Holzbrücke (die sogenannte Baderbrücke) über die Moldau fahre, öffnet sich mir zur Rechten der Blick auf den mächtigen Bau der Krummauer Burg (übrigens die zweitgrößte im Land nach dem Hradcin in Prag!) und links auf die St. Jodokus Kirche. Noch ein paar hundert gesetzwidrige Meter weiter, dann befinde ich mich auf dem Hauptplatz, sicher geparkt vor dem Hotel Krumlov. Schnell habe ich in diesem (für 380.- Kronen) ein Zimmer gebucht, und dann sitze ich bequem im Freien bei Kaffee und Gebäck. Ich hätte sicher eine preiswertere Pension finden können, aber "who cares?", mir geht es gut.
Der sommerlich warme Tag neigt sich dem Ende zu, und in der lau­en Abendluft komme ich nicht aus dem Schwärmen. Zu die­ser Uhr­zeit ist kaum noch Fahr­zeug­lärm zu vernehmen, die Ta­gestouristen sind abgefahren und man merkt an der resultierenden Be­schau­lich­keit, dass die Reise­saison noch nicht wirklich be­gon­nen hat. Es umgibt mich eine an­ge­nehme Stil­le. Denkt man sich die wenigen Autos vom Rat­haus­platz weg, ist es ein Leichtes, sich in ver­gan­gene Zeiten zu ver­setzen.
Faszinierend: der beein­druck­ende Blick von dem über die Moldau füh­renden Steg auf die Burg, man­che intime Ecke mit klei­nen ein- oder zwei­stöckigen Häu­sern, das Auf-und-ab ver­win­kelter Gas­sen, allerlei Treppen, Treppchen und Durch­gänge und die etwas abseits der Haupt­se­hens­wür­dig­keiten gele­ge­ne, steil zu den Park­an­lagen im Burgareal hinauf­füh­ren­de Gasse, die an verwilderten Gärten vorbei, von stellenweise zerbröckelnden und in den Ritzen stark bewach­se­nen Steinmauern gesäumt, zu ei­ner berausch­enden Aussicht führt.
Und immer wieder nehme ich diese auffallende Stille in den Seitengassen wahr, die manchmal sogar das Rascheln der eigenen Kleidung oder das Klopfen der eigenen Schritte als störend er­schei­nen lässt. Die Zeit scheint stehen geblieben, und ich denke manchmal, ich könnte Tage, Wochen, Monate oder sogar längere Zeit hier verbringen.
Mittwoch, 25. Mai
Von meinem Fenster aus kann ich direkt auf eine schmale, pittoreske Gasse schauen. Ein leichter Regen tröpfelt auf das Kopfsteinpflaster und bringt einen angenehmen Duft von nassem Staub, der sich mit dem scharfen, leicht modrigen Geruch der frisch gekalkten Wände meines Zimmers ver­mischt. Ich nehme mir Zeit.
Dieses Stadtzentrum ist wirklich eine seltsame Art von Fußgängerzone: Ein dänisches Paar, das wie ich am Abend zuvor in den Ort gefahren ist, musste einen Strafzettel von umge­rech­net 30,- DM zahlen, während außer mir auch zahlreiche weitere Autofahrer unbehelligt blieben. Ich lasse mir an der Rezeption den Text des Verbotsschilds übersetzen: "Von 10:30 bis 11:30 ist das Be- und Entladen erlaubt". Diese Zeit scheint jedoch sehr großzügig bemessen zu werden.
Manchmal können Museumsbesuche sehr aufschluss­reich sein, dann nämlich, wenn der Frem­den­führer keine auswendig gelernte Litanei mit langen Reihen trockener Geschichtsdaten herunter­ratscht, sondern in der Lage ist, dem Besucher historische Zusam­men­hänge, lebendige Details und Anekdoten mit einer lebendigen, ausdrucksvollen Sprache näherzubringen. Aber meistens be­schrän­ke ich mich darauf, mich von der Aussagekraft der Ausstellungsstücke selbst leiten zu lassen. Diese haben ihre eigene Sprache, und wenn man sich mit ihr auseinandersetzt, wird man fast von selbst und nahezu unmerklich in die dargestellte Ge­schichte hineingezogen. So stelle ich beispielsweise sehr bald fest, dass mich die Bilder und die alten Do­ku­mente selbst, die ja original in deutscher Sprache sind, der Geschichte näher bringen. So bewundere ich die Porträts eines Herrn "Neubauer und Weib, Toten­gräber der Gr. Veitskirche in Krummov, 1700 Jht", oder eines "Ferdinand Kindermann, Ritter von Schul­stein, Bischof von Leitmeritz", während alte An­sichts­kar­ten mit Motiven zu Adalbert Stifters Erzählungen "Bunte Steine", "Katzensilber" und "Berg­kristall" oder das alte Buch "General Kunst-Artikulen für die Gunssten deren königl. Böhe­mi­schen Erb-Landen (De Anno 1739)" die Atmosphäre dieser vergangenen Zeiten für mich rekon­stru­ieren.
Durch Bilder kann bei mir sehr schnell Interesse geweckt werden. So regen mich beispielsweise die Bilder aus der Gegenreformation und dem Dreißigjährigen Krieg dazu an, mich etwas mit diesen Epochen zu befassen. Der Text des Museumführers erwähnt die Niederlage des Stände­auf­standes auf dem "Weißen Berg" (Bílá Horá) bei Prag am 8. November 1620 und die darauffolgende Hinrichtung 27 böhmischer Herren auf dem Altstädter Ring in Prag im Jahre 1621.
Originaltext auf den Bildern: "Wie D. Jelsemi Cörper geviertheilt und auf die Seraffen gesteckt ist worden" (gruselige Darstellung der Spieße auf denen Körperteile aufgespießt worden waren) und "Diese Figur gibt eigentlich zu erkennen, wie die 24 Personen einer nach der anderen enthauptet und hernach noch 3 andere mit dem Strang gezichtet wurden." Diese Episode markierte eine Zäsur in der böhmischen Geschichte. Der Konflikt zwischen den böhmischen nichtkatholischen Ständen (Adel und Bürgertum) und den Habsburgern war mit dem Prager Fenstersturz 1618 voll entbrannt. Die tolerante Einstellung von Rudolf II, dem letzten Habsburger, der seinen Sitz in Prag hatte und der eine umfangreiche, für das damalige Europa unvergleichliche Religionsfreiheit eingeführt hatte, war der Bigotterie Ferdinands II gewichen. Die böhmischen Stände erlitten sehr bald ihre Nieder­la­ge in der nicht allzugroßen Schlacht auf dem Weißen Berg. Diejenigen Anführer des Stände­auf­stan­des, die das Land nicht verlassen hatten, wurden verhaftet, und 27 von ihnen wurden exem­pla­risch hingerichtet. Dies war der Anfang eines systematischen Rekatholisierungsprozess.
Aus den meisten Exponaten ist herauszulesen, dass diese Gegend jahrhundertelang deutsches Siedlungsgebiet war. Bei den Glaswaren Böhmerwalder Provenienz sind es die auf einem Kris­tall­becher gemalten Sprüche wie "Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis", auf einer topographischen Karte die Widmung "der in Böhmen budweiser Kreises liegenden Sr. Durchlaucht dem Fürsten zu Schwarzenberg Herzog zu Krummau gehörenden Herrschaft Krummau..", auf einer alten Ansichtskarte die Aufschrift "Elektrizitätswerk Ignaz Spiro & Söhne, Hohenfurt in Böhmen, 1911" oder auf alten Fotos den "Treudeutschen Neujahrsgruß vom Krummauer Männer-Gesang-Verein", den "Gruß vom Böhmerwald-Passionspiel zu Höritz", die "Satzungen für die freiwillige Feuerwehr in Krummau, 1868" und vieles mehr. Wo Texte auf alten Bildern zu finden sind, sind siefast ausschließlich auf Deutsch. "Die erste Eisenbahn des europäischen Kontinents, zeitge­nös­si­sche Bilder und ein kleines Modell des Betriebes auf der Pferdebahn Budweis - Linz. Prof. F.A. Gerstner, Autor des Projekts". da kann man sich schon darüber ärgern, dass Krummau heute "Český Krumlov" genannt wird.
Das Wetter wechselt ständig. Einmal ist der Himmel bewölkt, kurz darauf folgen sonnige Ab­schnit­te. Dadurch entsteht eine sehr reizvolle Stimmung. Nachmittag reißt es völlig auf und mein Foto­gra­fenherz fühlt sich für einen Augenblick äußerst beschwingt.
In den Mittagsstunden steigt die Zahl der Besucher auf ein gerade noch erträgliches Maß an. Unüberhörbar ist der hohe Anteil von österreichischen Gästen, aber auch tschechische Gruppen scheinen sich inzwischen eine solche Reise leisten zu können. Als der Abend kommt, sind diese Touristen allerdings größtenteils samt ihren Bussen wieder verschwunden, und es wird etwas ruhiger. Nach dem Nachtmahl sitze ich lange Zeit geduldig - Fotoapparat auf dem Stativ - auf der Burgmauer und warte, bis das bestmögliche Licht mir gute Aufnahmen ermöglicht. Danach - die Luft ist immer noch lauwarm - kehre ich zurück auf den Hauptplatz, setze mich auf eine Bank, und während die wenigen Lichter hinter den Fenster aufgehen, schaue ich zu, wie sich die Nacht lang­sam auf den Ort senkt.
Donnerstag, 26. Mai
Ich nehme mein Frühstück wieder im Freien. Herrliches, frühsommerliches Wetter stellt eine an­ge­neh­me Weiterfahrt in Aussicht. Mir fällt auf, dass es viele Zigeuner, die sich in ihrer Physiognomie von den sonst eher blonden Slaven auffällig unterschieden, zu sehen gibt. Ich habe auch den (vielleicht oberflächlichen) Eindruck, dass diese Volksgruppe sehr gut integriert sei, denn ich beobachte nicht wenige gemischte Paare, was bei uns in Deutschland, wo Roma und Sinti eine isolierte und diskriminierte Gruppe bilden, eher die Ausnahme ist.
Gegen 10 Uhr, als die ersten Besucherherden wieder auf­tau­chen, suche ich das Weite.
Ich will fürs erste noch nicht meinen nächsten Aufenthaltsort suchen, sondern die Ortschaften, die auf der Karte als "nicht mehr existent" gekennzeichnet sind. Daraus wird eine faszinierende Irrfahrt kreuz und quer durch das ehemalige Sperrgebiet entlang der Grenze. Auf der Suche nach einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt. Sie ist erloschen, dem Boden gleich gemacht, über­wach­sen, zum Naturschutzgebiet de­klariert.
Die ehemaligen Bewohner wurden über weite Gegenden im deutschspachigen Raum verstreut. Noch eine Generation, dann wird auch die Erinnerung an die Heimat Böhmerwald für alle Zeiten verschwunden sein.
Die Zeit vergeht sehr schnell. Bei Guglwald komme ich über die österreichischen Grenze, die für Fußgänger und Radfahrer bereits offen ist. Die aufgerissene Straße und das Brummen zahlreicher Bulldozer, die die Grenzstraße auszubauen versprechen, kündigen jedoch bereits die neue Zeit an.
Ein mannshoher, mit winzigen roten Früchten beladener Berberizenstrauch gibt dem kleinen Gar­ten der Gaststätte Guglwaldhof, in der ich zu Mittag esse, eine kultivierte Note. Genüsslich lasse ich mir die ausgezeichnete Küche - ich nehme Spinatknödel in zerlassener Butter mit Petersilie - schmecken, bleibe dann noch eine ganze Weile sitzen und lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, während flauschige Pappelsamen wie kleine Fallschirme oder Sommerschneeflocken vor meinen Augen herabsegeln.
Mein Blick schweift über die saubere, geordnete österreichischen Landschaft, in der in nicht zu großen Abständen gut erhaltene kleine Bauernhöfe einen zivilisierten Gesamteindruck vermitteln. Nur wenige Schritte jenseits der Grenze hingegen fängt bereits die große Leere an, die sich selbst überlassene Natur - die Freiheit, in meinen Augen. Bald bin ich wieder drüben.
Eine drückende Gewitterstimmung liegt in der Luft und lässt das Vogelgezwitscher, das Chrrt-chrrt der Cykaden, ja die Stille selbst geheimnisvoll erscheinen, fast bedrohlich.
Nichts ist geblieben von der Ort­schaft Stift, kein auch nur so klei­nes Zeichen, nichts ist mehr zu sehen, außer wild wuchernde, schöne Natur; das Drama der Zerstörung ist für alle Zeit ver­gessen, überlagert von der neuen Pracht. Unwillkürlich muss ich an einen beklemmend-schönen Satz von Adalbert Stifter denken "Dort, zum Beispiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt - und wieder nach einem Weilchen wallt der Silberspiegel, wie vorher."
Stand hier einmal Schönfelden? frage ich mich, während ich einen kleinen dunkelgelben Schmet­ter­ling auffliegen seh. Aber ich kann von dem Ort nicht die kleinste Spur finden. Selbst in der Wüste kann man Restzeugnisse von weit in der Vergangenheit durch Kriege zerstörten Städten aufspüren, hier haben die roten Herrscher gründliche Arbeit geleistet.
Ein Mensch hat in einem Ort gelebt, der Ort ist verschwunden, ein anderer Mensch hat den ersten gesehen, mit ihm gesprochen, seiner Geschichte zugehört. Dann ist auch er gestorben.
Was bleibt übrig, wenn die Erinnerung der Erinnerungen verschwunden ist? Wenn die Bezugs­punk­te verschwunden sind, alle Querverbindungen? Wenn Wiesen, Ameisen, die alles überwuchernde Natur alles verschluckt haben?
Ich erkenne, obwohl es ihn doch vor wenigen Jahren noch gab, nicht einmal mehr jene Ausgeburt des Bösen, den ehemaligen Grenzstreifen, noch die Narben, die er mit seinen Wachtürmen und Grenzzäunen hinterlassen haben müßte.
Und dann! Eine Spur! Ein Brunnen aus dem Jahr 1913, ein Hinweis auf das Dorf Kapellen auf einer Inschrift. Ein Denkmal, ein Kranz, für die Pfarrei Kapellen 1300-1959. Sonst nur ein paar große Granitblöcke, an denen deutliche Spuren von Formen und Bear­bei­tung zu erkennen waren.
Hunderte von kleinen Fliegen kreisen um die uralte Kastanie in der Nähe des Denkmals und um­hüllen sie mit ihrem Summen, das mich an das unheimliche Dröhnen des Didgeridoo der aus­tralischen Ureinwohner erinnert. Dieser alte Baum, denke ich, hat wohl noch das Dorf gesehen, die ehemaligen Bewohner, deutsche Stimmen gehört. Er hat jedoch keine Erinnerung.
Seit wann besteht Erinnerung? Seit dem ersten einzelligen Lebewesen? Seit dem großen Urknall? Begann damals die Erinnerung aus dem Chaos, als die Elementarteilchen in alle Richtungen des Universums geschleudert wurden und jedes für sich in die gleiche Richtung weiterfliegen musste? Ist die Trägheit der Masse die erste Form von Erinnerung? Sind die Naturgesetze selbst Erin­ne­rung? Oder widerspricht die heutige Auffassung von Physik (Heisenbergs Prinzips der Inde­ter­mi­na­tion der Quantenphysik) dem Konzept von Erinnerung? Wäre alles, was in der Vergangenheit je existiert hat, rekonstruierbar, falls das deterministische Prinzip (alles hat eine nachvollziehbare Ursache) der Wirklichkeit entspräche? Könnte man dieses große Erinnerungsvermögen dann mit Gott identifizieren?
Erst bei Kapellen erkenne ich am breiten, nackten Landstreifen und an einem erhalten gebliebenen Wachtturm, dass hier einstmals der Todesstreifen verlief. Mich schaudert's beim Gedanken, dass vor nicht allzu langer Zeit, wäre ich hier gefahren, auf mich geschossen worden wäre.
Dem Todesstreifen entlang: Keine Menschenseele; ein holpriger Weg voller Furchen und Steine; verwilderte Wiesen und Hecken; hier und da ein verfallener Zaun - eine mitteleuropäische Wildnis. Als ich an einem alten verlassenen Holzschuppen vorbeifahre, flattern plötzlich zwei rotbraune Vögel vor mir auf, während es zu tröpfeln beginnt.
Dann plötzlich: die schönste Früh­lingswiese, ein Pferd, das friedlich inmitten von Löwenzahn wei­det, dunkle Wolken im Hintergrund - man hört schon das dumpfe Grol­len eines näherkommenden Ge­wit­ters. Und endlich - ein Lebens­zei­chen, das Dorf Stubanky, das aus nur zwei neuerbauten Rei­hen­häusern mit auffälligem rotem Dach zu bestehen scheint, wäh­rend das daneben stehende ältere Gebäude gerade abgerissen wird. Vyšší Brod (Hohenfurth) ist eine Wiederholung mir inzwischen bekannter Klischees. Ein schöner Hauptplatz, ein bemerkenswertes Kloster, umgeben von übelster sozia­lis­tischer Proletenarchitektur.
Abends, in Nová Pec (Neuofen)
Schnellgedanken im Restaurant: Das, was in der böhmischen Küche gut war, ist in die Wiener Küche eingegangen und im eigenen Land verschwunden - 50 Jahre Sozialismus? Der Übergang zu Pommes frites und Schnitzel ist erstaunlich rasch vonstatten gegangen, auf den wenigsten Speise­kar­ten kann ich die Namen böhmischer Gerichte lesen, von Böhmens großer Küche sind heute nur noch undefinierbarer Braten mit Soße und Einheitsknödel geblieben. Es wird die internationale Kü­che nachgeäfft, zu Phantasielosigkeit und Abfallkultur verkommen - Grillteller & Co lassen grüßen. Zwetschgen- und Marillenknödel, Golatschen, Liwanzen oder Buchteln, ich habe sie auf keiner Spei­sekarte gesehen, wohl aber fehlen dort niemals die Palatschinken - mit Eis!
Beim Abendspaziergang: Es knackt plötzlich in den Büschen und zwei Rehe liefen vor meinen Augen über die Straße.
Freitag, 27. Mai
Auf dem Gutwasserberg in Ober­plan: "da ruhen die breiten Wal­desrücken und steigen lieblich schwarzblau dämmernd ab gegen den Silberblick der Moldau. Es wohnet unsäglich viel Liebes und Wehmütiges in diesem An­blicke." (Adalbert Stifter).
Das Liebliche hat dem Wild­ro­man­tischen Platz gemacht. Über der Moldau, bzw. über dem Mol­dau­stausee, erhebt sich vor mei­nen Augen eine neblig-graue Ge­wit­ter­wand. Auch glänzt sie nicht silbrig sonder grau, während die Ober­fläche vom Wind ge­kräu­selt wird.
Im kleinen Wäldchen oberhalb von Oberplana bläst es eiskalt durch alle noch so kleinen Öffnungen meiner Windjacke. Etwas gebückt sitze ich unter dem Denkmal von Adalbert Stifter, vergeblich versuchend, mich im Windschatten des Sockels vor der eisigen Luft zu schützen, während bereits dicke Regentropfen immer dichter auf mich herabklatschen.
So ergreife ich die Flucht aus diesem mir äußerst "deutsch" erscheinenden Zauberwald, der so aussieht, wie Wälder in alten Märchen und Legenden. Instinktiv muss ich ihn mit dem märchen­haf­ten Wald in Covadonga im nordspanischen Asturien ver­glei­chen. Die Eichen, die Rotbuchen, die Birken und die riesengroßen Fichten, der dicht bewachsene Boden, die auf dem Weg lie­gen­den Granitblöcke, sie alle strahl­ten etwas Urzeitliches aus, Ro­man­tisches, Geschichtsträchtiges.
Überhaupt, Granit! Ich habe Stifters Erzählung "Granit" noch nicht gelesen, aber mir sind sie vom Anfang an aufgefallen, all die Brunnen, Bänke, großen Tröge, die aussehen, als wären sie aus einzelnen Blöcken reinsten Granit herausgemeißelt. Welche Verbindung haben sie zu dieser Gegend, zu den Bildern riesiger Felsblöcken in den Zeichnungen Stifters, zu den verschiedenen Darstellungen des Böhmerwalds?
So scheint mein vierter Reisetag ganz im Zeichen Stifters abzulaufen. Fasziniert von seiner meis­ter­haften Sprache, von seiner Beschreibungskunst von Menschen und Landschaften, auf der Suche nach den Stationen seines Lebens. Noch habe ich nicht den Weg zu den reißenden Bächen, den dunklen Wäldern, den riesigen Felsblöcken und den Burgruinen gefunden, die jegliche Literatur über ihn beschreibt. Der Plöckenstein, wo ein Denkmal für Stifter steht, ist in Wolken gehüllt.
Abends in Nová Pec
Nach dem Abendessen, trete ich mir noch die Beine aus und folge einer geraden Straße, die parallel zum Seeufer verläuft. Jedesmal wenn ich stehenbleibe und horche, berauscht mich diese Ruhe, das Gewirr der Vo­gel­stimmen, das satte Grün der Wie­sen, der matte Abendhimmel, die stille Was­ser­ober­fläche. Mir ist bewusst, dass diese Wildnis nur zwei Schritte vom warmen Pensionszimmer entfernt ist, und ich frage mich, ob ich jemals die Natur in engerem Kontakt erleben werde, weitab von Menschensiedlungen und ohne diese sichere Nähe.
Samstag, 28. Mai
Obwohl das graue Wetter keine gute Aussicht verspricht, beschließe ich, mich auf den Weg zum Plöckenstein, mit 1378 Metern dem höchsten Berg des Böhmerwalds auf tschechischer Seite, zu machen. Ein Waldweg wie tausend andere. Der Himmel ist grau bis diesig-weiß, und bloß gele­gent­lich kämpft sich die schwache Sonne durch. Nur vereinzelt kann man die im "Hochwald" von Stifter so meister­haft be­schrie­be­nen ro­man­ti­schen Sturz­bä­che, mäch­ti­gen Gra­nit­blöcke oder imposant­en alten Bäume finden

" .. ein riesenhaft großer und sehr alter Baum, der gewaltige Äste, eine rauhe auf­ge­wor­fene Rinde und mächtige, in die Erde eingreifende Wurzeln hat", "das weiße Gerippe eines gestürzten Baumes"
oder " .. tau­sendjährige Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen und rundgerieben sind ..".
Eine gewisse Enttäuschung, also, die am vielgerühmten Plöckensteiner See ihren Höhepunkt er­reicht. Von Romantik ist nichts zu spüren! Es wartet eine Schar lärmender, teilweise mit Mountain­bikes gekommener Ausflügler auf mich. Sie haben sich gleichmäßig auf Bänken und Tischen eines nahe dem Ufer gelegenen Picknickplatzes breitgemacht. Dieser höchst­gelegene Gletschersee des Böhmerwaldes ist durch ein Netz von Wander- und Fahr­rad­we­gen bestens erschlossen. Kaum vorstellbar, wie es hier im Sommer zugehen muss.





"Ein schöner, schwarzer Zaubersee soll in ihrer Mitte ruhen, und wunderbare Felsen und wun­derbare Bäume um ihn stehen, und ein Hochwald ringsherum sein, in dem seit der Schöpfung noch keine Axt erklungen"
.

Ich marschiere weiter und werde nach einer knappen halben Stunde durch einen nun ansehnlicher ge­wor­denen Wald doch noch ent­schä­digt, dort nämlich, wo dem "Dichter des Hochwalds" schon im vorigen Jahrhundert ein Denkmal gesetzt wurde, ein 15 Meter hoher Granit­obelisk. Bei guter Fern­sicht ist das baumhohe Denkmal einer der schönsten Aussichtspunkte Süd­böh­mens, nicht nur wegen des Blicks 220 m hinunter zum Plešné jezero. Leider zwingt mich ein drohendes Gewitter dazu, zurückzukehren.
Auf dem Rückweg fällt mir ein künstlich angelegter, etwa eineinhalb Meter breiter Graben auf, heute überwuchert von Farnen und Gräsern aber offensichtlich noch erkennbar als ehemaliger Wasserweg: der berühmte Schwarzenberger Kanal. Es lohnt sich, ein paar Worte über ihn zu verlieren. Der Gedanke, das Stromgebiet von Moldau und Donau durch einen Kanal zu ver­binden, stammt schon aus der Zeit Karls IV. Erst am Ende des 18. Jh. plante der Bauingenieur der Schwarzenbergs, Josef Rose­nauer, eine großzügige Lösung. Sie ermöglichte es, das Holz aus den Wäldern im Stromgebiet der Moldau in den Fluss Mühl in Öster­reich und dadurch in die Donau zu schwemmen. Der Kanal wurde von vielen Seebächen und Regulierseen gespeist, und trocknete so nicht einmal während der Som­merhitze aus. Der Kanal wurde mit Steinplatten ausgelegt, war fast 40 km lang, einschließlich des 419 m langen Tunnels bei Hirschberg. Leider gelang es mir nicht, auf der Karte die grenz­über­schrei­tende Stelle dieses technischen Wunderwerks zu finden. Auf tschechischer Seite soll er streckenweise noch bis 1962 in Betrieb gewesen sein.
Abends, in Srni (Rehberg)
Jetzt bin ich wirklich dort, wo sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen. Eine weite Land­schaft erstreckt sich vor meinen Augen, mit sanften bewaldeten Bergrücken im Hintergrund, an­derswo dunkelgrüne, feuchte Wiesen, gelb gesprenkelt mit Sumpfdotterblumen, am Him­mel noch ein zartes Blau mit zer­fled­der­ten weißen und grau­en Wol­kenfetzen, das sich lang­sam in eine bedrohlich wir­ken­de Gewitterfront verwandelt.
Soeben habe ich eine Glocke läuten gehört, und an der Stelle, an der ich mich befinde, könnte man glauben, es hätte sich in den letzten hundert Jahren nichts geändert. Plötzlich schreckt mich ein Geräusch wie von einer wütenden Ente auf, aber es ist ein Reh, das keine zwanzig Meter vor mir aus dem Wald gesprungen ist, ich sehe es wenige Sekunden zwischen den niedrigen Fichten vorbeilaufen, dann ist es verschwunden. Ich höre nur noch das Zwitschern von Hunderten von Vögeln, die Rufe von Kindern aus der Ferne, einen Hund, der plötzlich aufbellt, dann ist alles still. Es umgibt mich eine Stille, wie sie bei uns kaum noch zu finden ist, weil es überall, auch an den schönsten Flecken, mehr Menschen, mehr Häuser, mehr Autos gibt. Nicht dass auch hier nicht ab und zu aus der Ferne Motorenbrummen zu hören sei, aber es wird gleich wieder leise, und im Kontrast fällt die darauffolgende Stille beson­ders angenehm auf.
Es ist kühl geworden und doch sitzen vor manch einem dům (Haus) am Ortsrand die Menschen im Freien vor einem Feuer und bereiten darauf ihr Abendessen. An anderer Stelle sitzt eine ganze Schul­klasse um ein Lagerfeuer. Wann tat ich das zum letzten Mal? Dieser süßliche Holzfeuerrauch weckt Eindrücke aus meiner Kind­heit in mir und führt mich zurück in diese seit langem vergangene Zeit. Die Stille ist nur durch men­schliche Geräusche belebt.
Srni, Sonntag, 29. Mai
In diesem entlegenen Teil des Böhmerwaldes, der Šumava (was, die "Rauschende" bedeutet), treffen alle Charakterzüge dieser Gegend zusammen, herabstürzende Waldbäche und vor sich hinplätschernde Rinnsale, dunkle Urwälder, weite offene Flächen, Feuchtwiesen und Moore, sanftes Mittelgebirge. Und, was mir immer so wichtig erscheint, ein Maß an Verlassenheit und Einsamkeit, das selbst an schönen Sommerwochenenden - gegebenenfalls weicht man von den Haupt­wan­der­strecken etwas ab - erhalten bleibt. Und spätestens am Abend, wenn die Tagestouristen abgereist sind und es bei den Zeltplätzen ruhiger geworden ist, ist der ganze Zivilisationsrummel plötzlich wie weggefegt. So muss es auch bei uns auf dem Lande einmal gewesen sein, vor dem Weltkrieg vermutlich, als die Auto- und Freizeitgesellschaft noch nicht erfunden worden war.
Zwischen wunderlich geformten, riesigen Steinen wirbelt kristall­klares Wasser, anderswo fließt es behäbig vor sich hin, oder es bildet ruhige, von Eisen bräun­lich ge­färb­te Tümpel in der Nä­he des Ufers. Ich frage mich, welch über­mäch­ti­ge Naturgewalt diese Giganten je­mals hierher schaffen konnte. Kaum vor­stell­bar das Donnern der herab­stür­zen­den Felsen, die Wucht der alles hinweg spülenden Was­ser­mas­sen, ein urzeitliches Inferno muss es gewesen sein, denn die Anwesenheit solcher Brocken im Flussbett kann nicht durch das ausdauernde Wirken von Wetter und Zeit allein erklärt werden.
Stunden und Stunden verbringe
ich hier entlang dem Fluss Vydra, manchmal am Uferweg entlang, manchmal stolpernd über die Wur­zeln am Waldboden, manchmal von Stein zu Stein kletternd und springend oder einfach auf einem von ihnen sitzend, darauf erpicht, jedes eigene Geräusch zu ver­mei­den, um ja die Ursprünglichkeit dieser Umgebung nicht zu stören. Solche Stellen sind wie gut ver­steckte Juwelen, die man im ra­schem Vorbeifahren nicht ent­deckt, die man suchen muss, oder einfach auf langen Wanderungen zufällig findet, als Überraschung, quasi als Belohnung dafür, dass man sich so viel Zeit genommen hat und Mühen nicht gescheut hat.