Im Böhmerwald
Reiseskizzen von Bernd Zillich   
   
 
                   
   
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August 1994
Juni 1995
   
   
 
Krummau
 
Südböhmen
Böhmerwald

 
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Samstag abend, 27. August 1994
Während ich in der Dunkelheit zurück nach Lipka fahre, in den Fünf-Häuser-drei-Pensionen-Ort, in dem meine Unterkunft ist, fliegen mir, wie Gespenster in einem Spukschloss, leichte, durch­sich­ti­ge, nur durch die Autoscheinwerfer sichtbar gemachte Nebelschwaden entgegen. Es sieht so aus, als möchten sie mein Fahrzeug umhüllen, verführen, nur um hinter ihm wieder schnell und spurlos zu verschwinden. Ein Gemisch an Freude und Melancholie und eine seltene Klarheit durchdringen mei­ne Gedanken. Ich fühle mich fast so weit weg von meiner gewohnten Welt wie einmal in Ron­da, Andalusien, und empfinde eine ähnlich erstaunliche Nähe zu den Dingen, wie damals in Kargil, in den Bergen Kaschmirs, als ich jene mir verschlossene Welt fremder Menschen beobachtete.
Ich frage mich, welche Eigen­schaft des Reisens es ist, die solch eine Faszination auf mich ausübt, was es denn ist, das in mir so in­tensive Gefühle auslöst. Allein das "Neue" an den Eindrücken kann es doch nicht sein. Ich denke an den ges­tri­gen Tag, an die Fahrt durch diese Landschaft, die ich so sehr mit dem amerikanischen Bergriff "big sky country" um­schreiben könnte, denn die Hügeln des Böh­mer­wal­ds sind weitläufiger, grö­ßer, be­waldeter als die im be­nach­barten, in vielen Aspekten doch so ähn­li­chen Bayern.
Man findet stellenweise eine Leere, ein Licht und eine Stille, die mich an die unendlichen Weiten von Amerikas Westen, wie ich es aus unzähligen Filmen kenne, erinnern. Ich habe das Gefühl, durchatmen zu können, mein Blick kann von einer Seite dieser unendlichen Leinwand, auf der ich meinen "Western" anschaue, bis zur anderen schweifen, ohne dass meine Augen er­mü­den, ohne dass ich das Bedrohliche einer wilden zerklüfteten Berglandschaft erlebe oder das Hässliche einer von den Menschen zersiedelten Natur.
Man hat anfangs den Ein­druck, es gäbe nicht viel zu sehen, was aber nur daran liegt, dass man es nicht auf einmal sieht, dass die Über­ra­schungen einen immer nach der nächsten Kurve erwarten, hinter dem nächsten Berggipfel, oder am nächsten Morgen. Einmal sind es die Eber­eschen, die ihr leuch­ten­des Rot in den Alleen am Stra­ßen­rand zur Schau stellen, ein an­de­res Mal ist es der Wind, der den Himmel klargefegt hat, und die raschelnden Blätter der Silber­pap­peln immer wieder so wendet, dass man ihre Silberseite sieht.
Dann sind es wieder verwilderte Korn­felder, in denen nur wenige Ähren daran erinnern, das dies einmal Kulturlandschaft war; hier haben die gelben Gräser die Vorherrschaft gewonnen, das Ris­pengras, die Kratzdisteln, der Bährenklau und viele, die mir unbekannt sind. Am frühen Morgen ist es eine Freude, knietief in solch einem Feld zu stapfen. Kein Bauer in Sicht - ist es über­haupt Bau­ern­land? -, der einem das verbietet. Ein Reh, durch mein Erscheinen aufgeschreckt, läuft wenige Meter vor mir davon. Was für ein Geschenk diese weder gebrauchte noch verbrauchte Landschaft!
Winterberg
Man kann freilich auch un­ange­nehme Überraschungen erleben, wie heute, als an der Peripherie von Vimperk (Win­terberg) plötz­lich eine Reihe hässlicher Wohn­silos vor mei­nen Augen er­schien. Ich war noch von den Wäldern und Wie­sen im goldenen Spät­nach­mit­tags­licht völlig berauscht, als die­se heruntergekommenen Sym­bo­le des sozialistischen "Fort­schritts" wie aus dem Nichts auf­tauch­ten, fast unwirklich in die­ser Um­ge­bung und nur gräss­lich, nur klotzig, nur absurd.
Nichts wie wei­ter­fah­ren, dachte ich, und als kurz darauf auch noch ein für den kleinen Ort völlig überdimensionierter Verkehrsknoten auf mich zukam, konnte ich nicht anders als meinen Blick abwenden und fest auf das Gaspedal drücken. Doch die Wege der Göttlichen Vorsehung sind unerforschlich! Weil nämlich die Straße nach Kubova Hut (Kubohütten) direkt an der Altstadt von Vimperk vorbeifährt und mein Blick deshalb unver­meid­lich auf die mächtige Burganlage fallen musste, brauchte die Stadt keine zwei Minuten, um meine Neugierde zu wecken, mich für einen Abstecher von der Straße abbiegen zu lassen und mich schließlich für sich zu gewinnen.
Lipka
Da ich keine Übernachtunsnöglichkeit fand, fuhr ich weiter. Bereits wenige Kilometer südlich der Stadt lockte mich ein Wegweiser in eine kleine Nebenstraße, und sofort - ich sah mich inmitten einer idyllischen Landschaft, streckenweise durch kleine Wäldchen und an ein­zel­stehenden Gehöf­ten vorbeifahren - erwachten meine Lebensgeister wieder.
Endlich ein kleiner Ort, Lipka, mit "Hotel". Ein Kellner mit ausdruckslosem, unter­würfigem Gesicht. "Zimmer?" Er schüttelte den Kopf! Der Ort bestand nur aus wenigen Häusern, einem Sägewerk und - zwei Hinweisschilder sagten es mir - zwei Pensionen. Ein paar hundert Meter Autofahrt, wieder ein paar Absagen aber dann hatte ich's.
Koffer ausgepackt, mich schnell erfrischt und umgezogen, und schon saß ich wieder im Auto, wie­der unterwegs zum fünf Kilometer entfernten Winterberg.
Wieder in Winterberg
Woraus ergibt sich die Faszination eines Ortes? Ich gehe in Gedanken die Schritte nach, die mich durch Winterberg führten. Geschwind, noch bevor es vollends dunkel wurde, marschierte ich, vom Parkplatz unterhalb des Schlosses ausgehend und links an einem alten Fabrikgelände vorbei, den Weg hinauf zur Burg. Der mächtige Bau ähnelte dem von Krummau, er war nur nicht so lang­ge­zogen, der Innenhof nicht restauriert und für Touristen aufpoliert, und es lag ein Hauch von Verfall über den Mauern, Türen, Türmchen, überdachten Außentreppen und kleinen Nebenhöfen. In jener Stunde der Dämmerung war kein Mensch zu sehen, alles wirkte verlassen, als ob es seit einer Ewigkeit nicht mehr betreten worden sei, und ich versuchte mich gedanklich in diese Ewigkeit zurückzuversetzen.
Laut Reiseführer befindet sich im Schloss ein kleines, liebenswertes, aber in dieser Jahreszeit ge­schloss­enes Museum mit einer Sammlung von Flora und Fauna des Böhmerwaldes, einer Glas­aus­tel­lung und einer Ausstellung über die Entwicklung der Buchkunst. Denn hier in Winterberg gab es eine der ersten Buchdruckereien Böhmens, und in den darauf fol­genden Jahrhunderten hatte die Druckereikunst eine Lange Tra­di­tion. Wenn man vom Weg zur Burg hinunter auf die Altstadt sieht, wird der Blick durch keine verschan­deln­de Aussicht entstellt. Die Betonklötze sind auf der anderen Seite vom Berg, entlang der Aus­fahrtsstraße hinter der Biegung des Flusses. Es gibt eine Pers­pek­tive der Schönheit und eine der Ernüchterung.
Wieder am Parkplatz zurück nahm ich nun den kurzen Weg links hinauf zum Stadtplatz. Auch hier begegnete mir kein Mensch, es war schon fast dunkel, und der Himmel war metallblau und klar. Die Fassaden der Häuser verschwanden gerade in diesem Dunkelblau und verwandelten sich lang­sam in Silhouetten, bei denen nur die beleuchteten Fenster etwas sichtbares verkörperten. Aus einem dieser Fenster gelang Klaviermusik ins Freie. Ich blieb stehen. Ich konnte niemanden se­hen, niemanden hören, nur die mir unsichtbare menschliche Präsenz hinter den Wänden der Wohnungen wahrnehmen. In diesem stillen, unwirklichen Augenblick, als nicht einmal meine Schritte mehr zu hören waren, tauchte ich in die Musik und in die Monotonie der mir un­ver­ständ­lichen Worte, die aus dem offenen Fenster herauskamen, ein. Die Luft war lau, kein Auto brummte die Ruhe aus den Gassen, kein Geräusch lenkte mich von der Musik und vor den Gedanken an die Menschen in diesem Zimmer ab.
Dass ich eine allerorts auftretende Situation wie Musik, die aus einem Fenster kommt, überhaupt als etwas Besonderes erleben konnte, gibt mir Anlass zum nach­denken. Wenn man von zu vielen Eindrücken bom­bar­diert wird, kann man die meisten von ihnen nicht mehr wahrnehmen. Tau­send­fache Ablenkung lässt Ereig­nis­se, Situationen und Personen verschwinden. Die Arbeit an Kon­zen­tra­tion, die man erbringen müsste, um dies zu vermeiden, wäre derart groß, dass man die Ein­zel­heiten in der Realität meistens gar nicht sehen würde. So war es nur die Stil­le, die die Musik in den Vorder­grund mei­nes Bewusst­seins projizieren konnte.
Oft sind es Erinnerungen, die das Faszinierende eines Augenblickes ausmachen! Diese Musik verge­gen­wär­tigte mir schlagartig und mit ungewöhnlicher Klar­heit die Atmosphäre manch träger Mittagsstunde im som­mer­lichen Italien. Die Rolläden sind halb herunter­ge­lassen, um die Mit­tagshitze nach draußen zu bannen, im Halbduklen liegt man bei der Siesta, liest oder lässt nur seine Gedanken durch die Luft schwirren. Und von draußen, eher leise als penetrant, eine aus irgend­ei­nem Fenster strömende Musik: alte Schlager, süße, honig­klebrige Lieder, die man heute nicht mehr hört.
Nachdem ich ein paar Augenblicke lang mit diesen Gedanken innegehalten hatte, ging ich die letzten Schritte hinauf zum Hauptplatz. Das untere Ende von diesem leicht abfälligen, länglichen Platz wird durch den Stadtturm begrenzt, in der Mitte stehen einzelne knorrige Bäume und ein trockener Brunnen (vielleicht ist es eine ehemalige Waschstelle), während sich am oberen Ende der Weg rasch in der freien Natur verliert.
Bei keinem der zwei- bis drei­stöckigen Häuser war - wie es im Westen Usus ist - die Fassade durch Ausgestaltung mit rie­sigen, unansehnlichen Schau­fen­stern und Geschäften entstellt worden. Wenn nicht ein Dutzend Autos auf dem Platz gestanden wären, hät­te man nicht gewusst, in welchem Jahrhundert man sich befand. Und selbst diese Au­tos, die alten Skodas, Renaults und Ladas, sie verkörperten eher eine "alte" vergangene Welt.
Das Fehlen von neuen, dicken, protzigen Autos der oberen Klasse ließ erkennen, dass der Platz nicht zu einer musealen Fassade für nostalgische Neureiche verkommen war. Es lebten "wirkliche" Menschen hier, die Stadt spielte kein Theaterstück für Touristen, um ihnen einen halbstündigen Einblick in eine wiederhergestellte künstliche Vergangenheit zu gewähren.
Aus einem Gasthaus drangen Stimmen angetrunkener Menschen zu mir, eine Gruppe von Passan­ten eilte desinteressiert vorbei, während ich mit Bedacht und Genuss die Fassaden beobachtete, die gespenstisch von Straßenlampen mit orange-gelbem Licht angestrahlt wurden. Am oberen Ende des Platzes, das zugleich das Ende der Stadt ist, hörte ich wieder Stimmen aus einem Fen­ster, ich sah, ohne die Menschen, die darin wohnten, selbst zu sehen, gelb beleuchtete Zimmer, Lampen, Bücherregale, Bilder an der Wand, Stuck an der Decke - eine altmodische Welt. Es war so, als würde ich in die alten Wohnungen der Herrnsdorferstraße im Wien meiner Kindheit schau­en, seit Jahrzehnten unverändert, verstaubt, aber von jungen Leuten bewohnt. Die Alten haben nur ein wenig ihrer vergangenen Welt hinterlassen, ihre Formen und Dekorationen, sie selbst sind weg­ge­storben und die Jungen haben das Inventar unverändert übernommen. Mit Altem assoziiere ich Beständigkeit, Sicherheit, gewissermaßen ein Quäntchen Unsterblichkeit.
Sonntag, 28. August 1994
Koubany-Urwald
Eier, Wurst, Käse und Kuchen, daraus besteht mein üppiges Sonntagsfrühstück. Ich kann nur einen Bruchteil dessen, was mir aufgetischt worden ist, verzehren. "Kleine Essen weg" wiederholte daraufhin mein Gastgeber mehrmals; und als ich immer noch nicht verstand, brachte er mir zwei Butterbrotpapiere zum Einpacken und Mitnehmen der Frühstücksreste. Überrascht, aber erfreut und etwas nachdenklich packe ich meinen "Proviant" für den Tagesausflug ein.
Das trifft sich gut, denn mein heu­tiges Ziel ist der Boubín/Kubany-Urwald. Der Kubany (1362 m) ist ein Berg, der seit über 140 Jahren unter Naturschutz steht und da­durch einen urwaldähnlichen Charakter ange­nom­men hat. An sich unterscheidet sich der Wald nicht sehr von denen, die an­ders­wo in der Gegend zu finden sind, die Stämme sind lediglich ein we­nig umfang­rei­cher. Es ist die Mi­schung aus Fichten, Tannen und Bu­chen und einer Vielzahl von teils riesigen Farnen, die diesen Wald gegen­über den mir bekannten Fichten­plan­tagen hervorheben. Ich kann freilich nicht beur­tei­len, ob die Flora hier besonders artenreich ist.
Besonders interessant finde ich den kleinen Kern­be­reich, der heute eingezäunt ist, um die Besu­cher­massen - und somit leider auch mich - fernzuhalten. Hier ver­setzt mich tatsächlich die Mäch­tig­keit der älteren Stäm­me in Erstaunen, und vor allem die Unzahl gefallener Bäumen, die zer­fal­lend, vermodernd, mit den aus­ge­ris­senen Wurzeln gespenstisch in die Luft ragend, kreuz und quer seit Jahren und Jahrzehnten im ansonst recht lichten Wald herumliegen.
Winterberg, letzter Besuch
Gegen Abend zieht es mich aufs neue nach Winterberg. Ich will noch einmal das faszinierende Eintauchen in die Vergangenheit genießen, das Zurückziehen in die stillen Gassen und in eine Welt anderer Gedanken und Gefühle als jene, die ich im Alltag in mir herumtrage.
Warum, frage ich mich, bin ich nur derart von alten Gemäuern fasziniert, warum üben alte Fa­brik­gelände, verstaubte Werkshallen, eingeschlagene Fenster und abbröckelnder Putz eine so starke Anziehung auf mich aus, wie es kein architektonisch noch so gelungener Glaspalast der Moderne je schaffen könnte? Warum schlägt mein Herz stärker beim Betrachten von alten Mauern, deren Ritzen bewachsen sind, von Steintreppen, die durch zigtausend Tritte speckig-glatt geworden sind, beim Ansehen von alten Türen, von Kopfsteinpflaster, von rußgeschwärzten Fassaden? Es spricht daraus eine Sehnsucht in mir nach etwas, was ich nicht mit Worten erklären kann. Vielleicht muss ich immer wieder hierher kommen, mir die Zeit nehmen, diese Eindrücke wiederholt auf mich einwirken lassen und immer und immer wieder in mich hineinblicken, um die Gefühle zu finden, die die Quelle solcher Sehnsucht sind.
Dunkle Nacht
Inzwischen bin ich wieder bei der Pension zurück. Hinter dem Haus, wo die Hausbeleuchtung nicht hinreicht, taucht man in die Dunkelheit ein. Der Himmel ist noch klar von dem heftigen Spät­nach­mit­tags­gewitter, die Luft noch halbwegs warm, und es ist absolut still. Meine Ohren sausen zwar noch ein wenig von der Autofahrt, ich höre mein Herz klopfen und die Grillen zirpen, aber sonst kann ich nichts wahrnehmen. Zwei gerade noch wahrnehmbare Kondensstreifen vorbeigeflogener Flugzeuge verschwinden langsam am dunkelblauen Abendhimmel und die Sterne schauen auf mich herab.
Im Wohnzimmer platze ich in eine familiäre Atmosphäre hinein, die ich in einem der klotzigen Ho­tel­bunker für gut zahlende Westler kaum gefunden hätte. Zwei Kinder (Mädchen) laufen in langen Nachthemden herum, die Mutter bereitet in der kleinen Küche das Abendessen vor.
Als ich später noch vom Balkon hinauschaue, ist es pechdunkel, es sind nur die Sterne und ein paar schwach beleuchtete Fenster in der Ferne zu sehen. Es ist absolut still.
Anders als bei Kindern, die sich unentwegt von neuen Eindrücken angezogen fühlen und gar nicht satt werden von alledem, was sich bewegt, Lärm macht, farbig ist und sich um sie herum be­merk­bar macht, neige ich beim älter werden immer mehr dazu, das Wesentliche auszusuchen, und den ganzen Schrott, den meine Sinne gezwungen sind in ununterbrochener Vergewaltigung ihrer selbst zu schlucken, abzuwehren: die kontinuierliche, omnipräsente Berieselung durch Musik, oder was andere erstaunlicherweise darunter verstehen, die penetrante, abstoßende Werbung, den Ver­kehrs­lärm, die Flut von Dingen, die man nur braucht, weil man meint, dass man sie braucht, oder schlimmer noch, weil andere meinen, dass wir sie brauchen. Wenn man daran denkt, dass seit Hunderttausenden von Jahren oder mehr, seit es die Menschheit gibt, das Meiste, was man heute benutzt, nicht existiert hat, dann ist die Frage sehr schnell beantwortet, ob man darauf verzichten könnte.