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Bergkristall
von Adalbert Stifter
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Samstag, 25. Februar 1995 |
Auf der Suche nach dem Winter |
In ständigem Auf
und Ab folgt meine Laune den Höhenmetern. Trüb und
düster ist sie bis Deggerndorf, wie das
regnerische Wetter. Dann, als die ersten Ausläufer des
Bayrischen Waldes auftauchen, erhellt sie sich mit
dem ersten Schnee. Dichter Nebel begleitet mich auf dem Weg
nach Regen, dann wieder die reinste Winterlandschaft!
Hoffnungstropfen in meinem Inneren. Danach werden die Hügel
wieder kahl, in elezná Ruda liegt
wieder etwas Schnee. Aber es herscht Tauwetter, mit unbeschneiten,
dunkle Fichtenwäldern.
Es ist, als würde man den Kampf des Winters sehen, Kilometer
für Kilometer kann ich ihn verfolgen. Als ich
bei Gerlova Hut in Richtung Osten abbiege und durch das
offene Plateau in Richtung Srní (Rehberg)
fahre, offenbaren sich mir manchmal lückenlose weiße
Felder, dann wieder das Muster brauner Grasbüscheln, die
aus der weißen Decke hervorschaut. Nach jeder Kurve scheint
der Winter seine Meinung zu ändern und entweder auf dem
Rückzug zu sein oder das Land noch voll in seinem Griff
halten zu wollen. Bei Práily ist der Winterzauber
lückenlos, Skilangläufer kreuzen die Straße,
während mein Herz einen Plumpser macht und ich am liebsten
sofort aussteigen würde; etwas weiter, in Srní,
tauchen wieder die nackten, dunklen, Böden auf, der
Matsch und die weiß-schwarzen Felder. |
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Während
ich spazieren gehe, träume ich von bizarren Schneegestalten
und zugeschneiten Bäumen, die wie vom Wind geformte Skulpturen
aussehen. Auf diese nüchterne, feuchte Realität eines
Winters auf der Flucht bin ich innerlich nicht eingestellt.
Es fängt an zu schneien. Bei der Brücke in Antýgl
(Antigl) haben die Granitriesen im
Flussbett Schneemützen aufgesetzt. Während
ich kilometerweit den Flusswindungen
der vydra folge und es grauer und nasser wird, reißt
die Wolkendecke ab und zu auf, um blaue Himmelsausschnitte
durchzulassen. Der Schnee geht in Graupeln über und mein
Anorak ist bald, trotz gelegentliches Schütteln,
patschnass. So steige ich wieder ins Auto und fahre weiter nach
Modrava (Mader), dann hinauf nach Filipova
Hut (Philipshütten), und plötzlich - es
sind keine hundert Meter Höhenunterschied - bin ich wieder
im tiefsten Winter. Das Hochplateau bei Horska Kvilda (Innergefild)
ist ein Wintermärchen. In weißen Staubwolken weht
der Wind den Schnee über die Straße, schwere
Schneemassen hängen auf den Ästen der Fichten. Der
Himmel ist grau, aber die Landschaft ist von Licht durchdrungen.
Abwärts über Zhuří (Haidl am
Ahornberg) und Svoje wird die Straßenoberfläche
wieder weich, der Matsch patscht unter den Rädern, und
weiter unten in Svoje (Zwoischen) ist es
nur noch eine dunkle, nasse, schneelose Landschaft mit kahlen
Laubbäumen. Die Landschaft ist wie ein imaginärer
Guglhupf, oben dicht mit Puderzucker bestäubt, unten nackt
und dunkelbraun. |
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Zurück in Srní,
wo ich mich einquartiert habe, hat es + 1° C und es hat
wieder zu schneien begonnen. Wässrig kommt das
weiße Gut vom dunklen Himmel herab. Die Felder sehen noch
ausgewaschener aus als vor ein paar Stunden.
Nur leicht steigt die Straße auf dem Weg zu meiner Pension
und doch - es reicht. Die Schneedecke auf dem Waldboden neben
der Straße wird wieder dicker. Ich muß das Fernlicht
ausschalten, um bei dem Flockengestöber noch etwas sehen
zu können. |
Während ich in meinem
Zimmer diese Zeilen niederschreibe, pfeift der Wind in den Baumwipfeln
und es schneit. Gott sei Lob und Dank. Mein Herz ist leichter.
Ein Grad Temperaturunterschied bedeutet nämlich den Unterschied
zwischen schön und häßlich. |
Horska Kvilda, 26. Februar |
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Der
Winter spielt hier oben in Innergefilden noch seinen
letzten Akt. Tief verschneit zeigt sich dieser Landstrich
meinen Augen und die Filigrane der dunklen Baumspitzen
ist streckenweise ein Muster in Schwarzweiß.
Aber es taut auch hier. Man merkt es an den tropfenden Dachrinnen,
am Klatschen unter den Stiefeln, am klebrigen Schnee, der
meine Skier nicht gleiten lässt. Ich muss immer wieder
stehen bleiben und die weißen Klumpen von den Laufflächen
herunterkratzen. |
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Viel lieber als langzulaufen
stapfe ich im tiefen Schnee abseits der Pisten im jungfräulichen
Winterwald. Ich werde mir Schneeschuhe kaufen müssen,
sage ich mir, wie die Trapper in Kanada. Es muss ein herrliches
Gefühl sein, im tiefen weichen Schnee nicht zu versinken
und auf leichtem Fuße so eine Landschaft zu erkunden. |
Abends |
Ich drehe das Licht aus,
offne das Fenster und schaue, ob es schneit. |
27. Februar |
Der Winter ist zurück |
Nachts hat es einen Zentimeter
Schnee heruntergerieselt, es ist kälter geworden,
unter den Stiefeln macht es "Krk, krk." |
Tanken? Nur in Kasperské
Hory, etwa 12 Km von hier! So fahre ich wieder über
Srní, weiter hinunter den Fluss entlang,
und sehe wie der Puderzucker diesmal etwas weiter nach unten
gewandert ist. Bald wird der Boden braun. Nach Kaperské
Hory (Bergreichenstein) geht es erneut bergauf, der
Schnee liegt wieder wie Puderzucker auf den braunen Hügeln;
während ich nach Vimperk weiterfahre, kommt die
Sonne manchmal raus, kurz darauf ist alles wieder grau. Unmittelbar
vor Vimperk zweige ich nach Kvilda ab, und schon
ist der Winter wieder da. |
Bei Kvilda selbst
werde ich von einem derart heftigen Schneesturm überrascht,
dass die Scheibenwischer kaum nachkommen. Er dauert
nicht lange, ich sitze im Auto und genieße das Schauspiel.
Ab und zu lassen die Wolken blaue Himmelausschnitte durch, aber
es vergehen nur wenige Minuten, dann nähert sich von Westen
her neuerlich eine dunkelgraue Wolkenwand. Bald ist die Landschaft
wieder von flatternden Schneeflocken umhüllt. Farben und
Konturen sind im Schneegestöber, der wie ein dichter
Nebel alles versteckt, verschwunden. Es weht ein eisiger Wind. |
Nach einem halbherzigen
Fortbewegungsversuch auf Skiern, entscheide ich mich schließlich
dafür, zu Fuß durch den jungfräulichen Wald
zu spazieren, die Bretteln kommen ins Auto, die Mütze tief
über die Stirn, und bald bin ich allein in der Zauberwelt.
Nicht ein einziger Laut ist weit und breit zu vernehmen,
auch nicht der leiseste, außer mein eigener Atem, oder
das sanfte Knirschen meiner Stiefel, die bisweilen 50 cm
im samtweichen, unberührten Schnee versinken. |
Hätte ich meinen kleinen
Sohn bei mir, geht es mir durch den Kopf, dann könnten
wir auf Spurensuche gehen, unser kleines Abenteuer leben,
uns in eine Märchenwelt versetzen, die niemandem anderen
gehören würde; dieser Wald könnte sich doch überall
auf der Welt befinden, im entfernten Alaska wie in den Karpaten,
er ist jedenfalls weit, weit weg. |
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Manchmal
bleibe ich stehen und gebe mich der Stille hin, oder den schwachen
Sonnenstrahlen, die zartgelbe Streifen auf den Boden malen,
manchmal genieße ich das sinnliche Erlebnis des beschwerlichen
Gehens im tiefen Schnee, und irgendwann - die Zeit spielt keine
Rolle mehr - komme ich zu einer kleinen Lichtung, einem Ort
außerhalb der Welt, so scheint es mir, und ich fühle
mich so voller Ehrfurcht, dass ich kaum wage den Schnee durch
meine Fußstapfen zu entweihen. |
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Doch
nach einiger Zeit kann ich nicht mehr anders, ich betrete vorsichtig
die weiße Fläche, beobachte die verschneiten
Bäume aus dem zentralen Blickwinkel wie eine freundliche
blauweiße Mauer um mich herum und vergesse alles
andere. Und wieder schneit es. Unmerklich beginnt der Schnee
zu fallen, bald legt sich das Muster der in der Luft wirbelnden
Flocken wie ein grobmaschiger Schleier vor das Landschaftsbild,
sodass die Konturen immer ungenauer werden, fast verschwinden.
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Lange
Zeit bleibe ich ganz still stehen, atme tief die kalte
Luft ein und lasse den Schnee auf mein Gesicht rieseln; ich
merke, wie sich einzelne Flocken in meine Wimpern
verfangen und meine Wangen allmählich nass
werden - weiß, bleigrau, grau, blau, sind die Farben.
Die Kälte? Ich spüre sie nicht.
Verirrt im Wald? Fast scheint es so, denn ich will nicht meinen
eigenen Spuren nachgehen, ich richte mich nach dem Licht - und
nach meinem Orientierungssinn. Nach einer halben Stunde
Umherirren ist es fast kein Spiel mehr. Ich finde wieder zurück
zur Loipe. |
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28. Februar, Hotel Rixi |
Wenn ich vom Speisesaal
durch die breite Fensterfront nach außen schaue, die verschneiten
Fichten und die Konturen der bewaldeten Bergrücken
betrachte, wenn ich darüber hinaus mit viel Fantasie die
laute Jukebox-Musik aus den sechziger Jahren, das Geschnatter
einer Gruppe von Touristen aus der deutschen Provinz, die Plastikblumendekoration,
die Wandbilder und Billigeinrichtung in Kaufhof-Qualität,
sowie die Glühbirnen, die direkt an der Fassung von der
Stuckdecke baumeln, in anderen Worten wenn ich 40 Jahre Kommunismus
wegdenke, dann - und erst dann - kann ich mir vorstellen, wie
dieses Hotel einmal die Haute Volée der Vorkriegszeit
beherbergt hat. Das haben die roten Herrscher letztlich erreicht
- die Nivellierung der Gesellschaft. Aber ich lasse mir den
altböhmischen Schweinsbraten trotzdem schmecken. |
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