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Dienstag, 13 Dezember
Ankunft
Es ist bereits 14 Uhr, als wir im Hotel ankommen. Zu viel mehr, als die Avenida Cor­rientes auf- und abzugehen, raffen wir uns nicht auf. Eva und Daniela kommen erst um 19 Uhr. Wir schließen den Tag mit einem paar Empanadas in einer Bar ab.
Mittwoch, 14 Dezember
Weihnachten im Sommer
Welche sind für uns Europäer die typischen Assoziationen mit Weihnachten? Kälte? Schnee? Schlittenfahren? Nicht so in Argentinien! Denn in diesem auf der Süd­he­mis­phäre lie­genden Land fällt Weihnachten in den Hochsommer. In dieser Jahreszeit Weih­nachts­be­leuch­tung und weihnachtlich ge­schmückten Schaufenster zu sehen, das ist für mich – ich kann mir nicht helfen – schier unfassbar.
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Was aber, wenn ich in der Hitze des Tages einen Weihnachtsmann antreffe, der dazu auch nicht den gewohnten roten, mit weißem Pelz besetzten Mantel trägt, sondern ei­nen erbsengrünen? Das finde ich befremdend, wenn nicht sogar etwas lächerlich.
In der Tat findet in Argentinien seit Langem eine Diskussion statt über die Darstellung des „Papà Noel", wie er hier heißt, als dicklicher und freundlicher alter Mann mit lan­gem weißem Rauschbart und roter, mit weißem Pelz besetzter Kutte. Zumal man in Argentinien der Meinung ist, dass diese Weihnachtsmannkluft nicht auf eine alte Tra­di­tion zurückzuführen ist, sondern auf eine Werbeidee der Coca-Cola Company aus dem Jahr 1931. Diese Ansicht hat sich auch bei uns durchgesetzt, obwohl sie kei­nes­falls den Tatsachen entspricht. Bereits eine Postkarte aus dem Jahr 1897 zeigt einen Weih­nachtsmann im stattlichen roten Gewand. Die Karte ist Eigentum einer Post­kar­ten­samm­lerin aus Thüringen. Ähnliche Darstellungen findet man auch auf Ab­bil­dun­gen und Postkarten aus dem Jahr 1902, 1903 und weiteren, also wesentlich früher als die Coca-Cola-Version vermuten ließe.

BUCHEMPFEHLUNG
Buenos Aires - Eine litera­rische Ein­la­dung: Zahl­reiche erst­mals ins Deut­sche über­setz­te Texte von César Aira, Ro­ber­to Arlt, Jorge Luis Bor­ges, Mar­tín Ca­parrós, Ju­lio Cor­tá­zar, Maria­na Enrí­quez, Leila Guer­riero und vielen mehr führen durch die fas­zi­nie­ren­de multi­kul­tu­rel­le Metr­opole am Río de la Plata.

Wie dem auch sei. In Argentinien findet man verbreitet die Meinung, dass man nicht gezwungen sei, sich strikt an die Tradition zu halten, und dass es durchaus sinnvoll sein könnte, die Weihnachtsmannkluft an das Klima und die Sitten des Landes an­zu­passen. Man könnte, so eine Meinung, die Tradition demokratisieren und von Fall zu Fall den Weihnachtsmann anders ausstatten, beispielsweise – kein Scherz – mit San­dalen und Ber­mu­das, ggf. in den Farben des eigenen Lieblingsfußballvereins.
Donnerstag, 15 Dezember
Architektur
Ich blättere in einem Bildband mit Fotos von Buenos Aires' „pasado y presente“ (Ver­gangenheit und Gegenwart) und es verfestigt sich bei mir der Eindruck, dass diese einst sehr schöne Stadt systematisch und ohne irgendein urbanistisches Konzept zer­stört wurde. Allein für die 1937 eingeweihte, heute 14-spurige Prachtallee Avenida 9 de Julio, ein Symbol der rasanten städtebaulichen Entwicklung dieser Stadt, mussten ganze Stadtviertel abgerissen werden und Tausende Einwohner umgesiedelt werden.
Die ursprüngliche Vorgabe der Stadt, in der eleganten  Avenida de Mayo – einer der wenigen, die noch dieses Adjektiv verdient – keine Gebäude zuzulassen, die höher als 20 Meter sind, wurde längst fallen gelassen zugunsten der üblichen gesichtslosen Hochhäuser. Beim Vergleichen der alten Bilder mit der heutigen Wirklichkeit muss jedem Freund  schöner Architektur das Herz schmerzen.
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Andrerseits bewundere ich den gediegenen Geschmack der Innenräume von Bars, Cafés und Res­tau­rants, was ich mir dadurch erkläre, dass in dieser Stadt das „Pri­vate“ sehr wohl funktioniert, während alles andere dem Spiel der Kräfte über­las­sen wird. Immerhin hat dieses „Private“ der Stadt mehr Buchhandlungen als New York und ein hervorragendes kulturelles An­ge­bot beschert.
Freitag, 16. Dezember
Carlos Gardel
Gerade noch rechtzeitig habe ich im Carlos-Gardel-Museum Unterschlupf gefunden, und schon prasselt der Regen auf das Glasdach des kleinen Patios mit einer der­ar­ti­gen Kraft, dass man meinen könnte, es handle sich um einen Tropensturm.
Wer Argentinien bereist hat, ohne etwas von Carlos Gardel erfahren zu haben, der weiß nichts über dieses Land. Ein Besuch dieses Museums war also für mich schon lan­ge fällig. Kaum bin ich eingetreten, schon ergreift mich das Gefühl, in eine andere Welt und eine andere Zeit angekommen zu sein. Draußen erzeugen die Reifen vor­bei­kom­men­der Autos beim Überfahren der Wasserpfützen meterhohe Spritzer, drin­nen, in den Räu­men, wo der berühmte Sänger seine Kindheit verbrachte, atmet man die Atmosphäre der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen. Das Klatschen der Was­sermassen aufs Dach wirkt mit seiner Lautstärke wie eine Wand aus Lärm, die mir ein noch stärkeres Gefühl von Trennung von der Außenwelt vermittelt.
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Ich liebe vieles an der Zeit, in der Carlos Gardel seine großen Erfolge erntete. Mir gefällt es insbesondere, wie man sich damals klei­dete, der Mann in eleganten, zwei­reihigen Anzügen, ergänzt durch ebenso elegante Krawatten, die Hosen weit ge­schnit­ten, mit Mittelfalte und Aufschlag. Der breitkrempige Hut gehörte zu den un­verzichtbaren Accessoires.
Und obwohl ich zur Elvis-Presley- und Beatles-Generation gehöre, und auch deren Fan war, bekenne ich mich dazu, dass mir die Zeiten besser gefallen, als Sänger es nicht nötig hat­ten, sich wie Clowns zu verkleiden und beim Singen wie von der Taran­tel gebissen auf der Bühne herumzuhüpfen. Ebenso bevorzuge ich Musik, bei der Rhythmus hauptsächlich durch das Zusammenspiel der Instrumente erzeugt wird und nicht durch das penetrante Schlagzeug, das in der heutigen Popmusik zum alles über­tönenden „Stilmittel“ geworden ist.
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In den Jahren 1915 bis 1940 war der Tango die bei Weitem populärste Musikform im La-Plata-Raum. Sänger wie Carlos Gardel wurden zu Volksidolen, die bis heute von ihren Fans vergöttert werden.
Carlos Gardel, eigentlich Charles Romuald Gardès (laut einer Theorie 1890 in Tou­lou­se, Frankreich geboren, laut einer anderen 1887 in Tacuarembó in Uruguay), war ein Tango-Sänger und -Komponist. Er gilt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Tangos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als sein Flugzeug 1935 in Kolum­bien verunglückte, begingen viele seiner Fans Selbstmord. Und bis heute heißt es in Buenos Aires: „Gardel singt mit jedem Tag besser."
Um 1917, als Carlos Gardel „Mi noche triste“ aufnahm, begann die Ära des Tango-Liedes. Das Stück gilt als erster klassischer Tango Canción.
Carlos Gardel singt „Mi noche triste"
Carlos Gardel singt „Volver"
Der 1935 aufgenommen Tango „Volver“ (Zurückkommen) von Carlos Gardel und Al­fre­do La Pera ist einer der bekanntesten und schönsten Tangos alle Zeiten.

Der Text des Liedes ruft Nostalgie hervor. Einer seiner Sätze schaffte es, in Amerika zur Redewendung zu werden: „Veinte años no es nada” (zwanzig Jahre, das ist nichts)!

In „Por una cabeza“ (gesungen im Film Tango Bar) geht es um die beiden argen­ti­ni­schen Leidenschaften Frauen und Pferdewetten. Und den Umstand, dass man bei bei­dem oft por una cabeza, um eine Pferdekopflänge, verliert.

Carlos Gardel singt „Por una cabeza"
Zurück zum Museum: Der Antlitz von Tita Merello, einer von Gardels Partnerinnen, strahlt mit ihren fein gezeichneten Augenbrauen, ihrer „geformten“ Frisur, ihrem ver­führerischen, etwas arrogant-gelangweilten Blick und ihrem von Lippenstift be­ton­ten Mund eine Sinnlichkeit aus, die eine merkwürdige Nostalgie bei mir erzeugt und mich an ein zeitlich fernes Lateinamerika denken lässt, das vielleicht nur im meiner Fan­ta­sie existiert hat.

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