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Montag, 14. November |
Auf in den Süden |
Ich liebe diesen Aeroparque Jorge Newberry, den Flughafen für die innerargentinischen Flüge. Er ist überschaubar, fast gemütlich und - was mir am meisten gefällt - er liegt direkt am Río de la Plata. Da sitzt man in der ersten Etage des Gebäudes und genießt durch die breite Fensterfront den freien Blick auf das Gewässer. Dazwischen liegt nur die stark befahrene, von Akazien gesäumte sechsspurige Uferstraße. Die Wasseroberfläche des Flusses, dessen gegenüberliegende Ufer nicht zu sehen ist, glitzert im Gegenlicht. Ein wenig beneide ich die Menschen, die dort unten auf der Promenade vor einem kleinen Kiosk sitzen und an ihren Getränken nippen. Vor ihren Augen nichts als das unendliche gelbbraune Wasser dieses Flusses, der breit ist wie ein Meer. Wie schade, dass es auf dem Río Parana, dem Fluss, der in den Río de la Plata mündet, keine Flussschifffahrt mehr gibt. Ein Abenteuer weniger auf dieser Welt. |
Río Gallegos |
Über das etwa 80.000 Einwohner große Städtchen Río Gallegos, das an der Mündung des gleichnamigen Flusses liegt, gibt es nicht viel zu sagen. Außer, dass es in der Provinz Santa Cruz liegt, nahe dem südlichsten Festlandpunkt Argentiniens, dem Cabo Vírgenes, an der Atlantikküste. Touristen halten sich hier höchstens auf, um weiter nach El Calafate mit seinem berühmten Gletscher zu fahren, oder nach Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens. |
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Booking.com
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Aber allein wegen der kristallklaren Luft und des fast überirdischen Lichtes hat es sich gelohnt, hierher zu kommen, in dieses Städtchen ohne Eigenschaften, das außer den schachbrettartig angeordneten Straßen und den flachen Häusern nichts zu haben scheint, was das Herz eines Reisenden begehren könnte. Merkwürdig, wie gerade dieses Unscheinbare, dieses zutiefst Provinzielle, das nur durch seine Lage am Ende der Welt die Fantasie anregt, eine Faszination auf mich ausübt. Nein, hier füllen nicht Scharen von Touristen die Straßen und die (wenigen) Speiserestaurants. Es läuft alles porentief argentinisch ab, wie bei dem Paar am Nebentisch, das bereits zum zweiten Mal Unmengen von gebratenem Fleisch auf einem kleinen Tischgrill serviert bekommen hat. Zusammen mit dem Fußballspiel, der im Fernseher läuft, treffen sich hier zwei urargentinische Leidenschaften. |
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Fútbol |
In Argentinien kommt man gar nicht darum herum, mit Fußball konfrontiert zu werden. Anscheinend läuft gerade ein Spiel der Copa Libertadores (des südamerikanischen Gegenstücks der UEFA Champions League) und in jedem öffentlichen Lokal winkt einem von teils riesigen Flachbildschirmen irgendein Fußballspiel entgegen. Während ich das aus reiner Verlegenheit bestellte Gericht „milanesa de pollo“ (Hühnchenschnitzel) genieße, werde ich vom typischen ununterbrochenen und maschinengewehrschnellen Kommentar des Sportreporters bombardiert. Ich verstehe selbstverständlich kein einziges Wort davon, außer die öfters wiederholten Namen der argentinischen Spieler Messi und Agüero, sowie zwei Mal ein in die Länge gezogenes, fast geschrienes Gol (Tor!) des Sprechers, als Argentinien gegen Kolumbien zum 1:1 und wenige Minuten vor dem Abpfiff zum 2:1 ein Tor schießt. Unnötig den Jubel zu beschreiben, der daraufhin im Lokal vorherrscht. |
Dienstag, 15. November 2011 |
Lokomotivenfriedhof |
Was mich hierher geführt hat, ist ein altes Foto, das ich im Internet aufgespürt hatte. Es zeigt einen von einer Dampflokomotive gezogenen Zug, der durch eine weite und trostlose Steppenlandschaft fährt, und in mir auf Anhieb nostalgische Gefühle weckte. Der Zug war auf der 750-mm-Schmalspurstrecke zwischen Río Gallegos und Río Turbio unterwegs, weit unten am Südzipfel Argentiniens. Er beförderte Kohle aus dem patagonischen Kohleabbaugebiet in Río Turbio hin zum 255 km entfernten Hafen Río Gallegos, zur Verladung auf Schiffe. Ein bis zwei Züge waren pro Tag in diesen endlosen Weiten unterwegs. Die Strecke wurde in den 1940er Jahren gebaut, als der Kohlenachschub aus Großbritannien wegen des U-Boot-Krieges nahezu zum Erliegen gekommen war. |
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Weitere Recherchen ergaben, dass die Kohlezüge nur bis 1995 noch von japanischen Mitsubishi- und brasilianischen Tubarão-Dampflokomotiven gezogen wurden, danach setzte man gebrauchte Dieselloks aus Bulgarien ein, die der herrlichen Dampflokromantik ein Ende setzten. Der Streckendampfbetrieb auf der Kohlenbahn Río Gallegos - Río Turbio ist also längst Geschichte! Zur gleichen Zeit wurde auch der Hafenbahnhof von Río Gallegos mit dem Dampflokdepot aufgegeben und durch einen etwas östlicher gelegen moderneren Hafen ersetzt. |
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Aus dem Dampflokdepot ist längst ein Dampflokfriedhof geworden, in dem die alten Riesen vor sich hin rosten.
Seit dem Jahr 2004 gibt es neben diesem Lokomotivenfriedhof auch ein Eisenbahnmuseum, das „Museo Ferroviario Roberto Galian", das seine Existenz der Initiative von fünf Pensionisten der Eisenbahngesellschaft verdankt. Ihnen verdankt man auch die Wiederherstellung der alten Dampflok „José Meliton Aguirre", die heute wieder vollständig funktionsfähig ist. Es handelt sich um eine der letzten Dampfloks weltweit, die serienmäßig hergestellt wurde. |
Gut erhalten sind auch die Blockhäuser der ehemaligen Eisenbahnersiedlung geblieben, die ich dank der Freundlichkeit einer ihrer Bewohnerinnen besichtigen konnte. Ihr Großvater habe noch für die Eisenbahngesellschaft gearbeitet, erzählt sie, bis der Hafenbahnhof schließlich aufgegeben wurde. Jetzt stünden die meisten der Häuser leer. |
Mittwoch, 16. November |
Architektur |
Wenn das klare patagonische Licht - wie heute - von einem grauen Wolkenschleier verschluckt worden ist, gibt der Ort nicht viel her. Er ist dann nur ein unscheinbares Provinzstädtchen. Und dennoch schafft Río Gallegos es, mich mit dem Einfallsreichtum seiner Architektur in Erstaunen zu versetzen. Gemeint sind damit nicht die „avenidas“ des Zentrums, hässliche quadratische Blöcke deren einzige Originalität sich bestenfalls in einigen bunt gestrichenen Fassaden erschöpft. Es sind die Wohngegenden mit ihrer fantasievollen architektonischen Vielfalt, die ich in höchstem Maße anregend finde. |
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Cabo de Loyola |
Während ich verzagt versuche, den Rückwärtsgang meines erst vor einer Stunde gemieteten Autos zu finden, fährt ein Geländewagen Staub aufwirbelnd an mir vorbei und, von der Straße abkommend, direkt auf den Strand, wo hundert Meter weiter ein rostiges Schiffswrack liegt. |
Als ich es schließlich schaffe zu wenden, und aus dem Auto steige, wirft mich eine kräftige Windböe fast zu Boden. Der eisige Wind und der düstere Himmel erzeugen eine dramatische Stimmung, die eine ideale Kulisse für die Tragödie bildet, an die das Wrack erinnert. Hundert Schritte in Richtung Ozean und ich stehe direkt vor dem, was einmal ein stolzes dreimastiges Segelschiff gewesen ist. Der Anblick überwältigt mich. Schiffswracks sind wie verfallene Burgen: Sie erzählen Geschichten und beflügeln die Imagination. |
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Seit genau hundert Jahren befindet sich die stählerne Hülle des 1892 von der britischen Reederei „The Grangemonth Dockyard Company“ gebauten Kohleschiffs Marjory Glen schon auf diesem Strand. Am 13. September 1911, ca. drei Monate nach dem Auslaufen in Newcastle, lag das Schiff an der Mündung des Río Gallegos vor Anker, als sich die Ladung von 1800 Tonnen Kohle selbst entzündete. Wegen der Rauchentwicklung kamen zwei Mitglieder der Schiffsbesatzung ums Leben, und es gelang der Mannschaft nicht, das Feuer zu löschen. Daraufhin wurde das Schiff verlassen und vom Hafen zur Punta de Loyola abgeschleppt. Laut einer anderen Version waren es die Meeresströmungen, die dies bewerkstelligten. |
Während des Falklandkrieges im Jahr 1982 wurde das Wrack von den Flugzeugen der argentinischen Luftwaffe zu Übungszwecken als Zielscheibe verwendet. |
Als ich zurück zum Auto stapfe, ruft mir der Geländewagenfahrer zu: „Hace frio!". Ja, es ist kalt, mir frieren die Hände fast zu Eisblöcken. „Café?“ – „Gracias, sí!". So ein Angebot kann ich nicht ausschlagen, zumal mich auch die persönliche Begegnung freut. Während der aus Río Gallegos stammende aber in Buenos Aires lebende Mann aus seiner Thermosflasche den heißen Muntermacher einschenkt, erzählt er mir, dass er diese Reise unternommen habe, um seinem kleinen Sohn seine alte Heimat zu zeigen. Drei Tage habe die Fahrt von Buenos Aires bis hierher gedauert. Ohne Stress, betont er, denn die Straßen seien inzwischen durchgängig asphaltiert. |
Freilich, so denke ich mir, fehlt so einer „stressfreien“ Fahrt das Abenteuerliche, das eine Ruta 40 (ausgesprochen „ruta quarenta") bieten würde. Diese mit 5.224 km längste Nationalstraße Argentiniens ist eine der berühmtesten Fernstraßen auf dem Kontinent. Sie durchquert ganz Argentinien von Nord nach Süd und führt in Andennähe durch atemberaubende Landschaften. Diese Ruta 40 ist zu großen Teilen noch nicht asphaltiert - „di ripio“ nennt man das hier -, was seine Beliebtheit bei Abenteuersuchenden zu einem Mythos verstärkt. |
Die blaue Stunde |
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Und plötzlich ist er wieder da, der Wind, den es heute den ganzen Tag nicht gab, und mit seiner Ankunft sind auch die graue Wolkendecke und das stickige, ungewöhnlich warme Wetter verschwunden. Das blaue, klare Licht der Dämmerung hebt meine Stimmung, wie sie den ganzen Tag nicht war. |
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