... zurück weiter ...

Donnerstag, 24. November 2011

Weiterfahrt
Die Ortschaften (Pico Truncado, Koluel Kaike, Las Heras etc.), durch die wir fahren, sind eine Wie­derholung der bereits gesehenen in klein - aber viel einsamer. Es ist für mich schwer, sie mir als Mittel- und Bezugspunkt des Lebens - was sie für die Ein­woh­ner zwangsläufig sind - vorzustellen. Sie sind für mich der Inbegriff von weit, weit weg, von einem von der Welt vergessenen Nichts. Man muss sich das ausmalen kön­nen: Der nächste – eben­so winzige und unbedeutende – Nachbarort liegt mehrere Stunden Fahrt entfernt. Für mich entbehrt das nicht einer gewisser Faszination, mehr noch, als es all die über­lau­fenen Touristenorte tun, die freilich ganz andere, gewal­ti­gere Landschaften zu bieten haben.

Booking.com

Irgendwo mitten in der leeren Steppe hält der Bus an, und ein halbes Dutzend Fahr­gäste steigen mit Sack und Pack aus. Zu sehen sind nur eine Baracke am Straßen­rand, ein wartender Minibus und ein langer staubiger Fahrweg, der hin zum Horizont führt. Möglicherweise sind es Arbeiter in der Ölindustrie, die hier im Norden der Pro­vinz Santa Cruz und in Chubut ein starker Wirtschaftsfaktor ist. Im Vorbeifahren sind die zahlreichen Bohrtürme kaum zu übersehen. Es ist mir bekannt, dass die Arbeiter in Schichten von mehreren Wochen arbeiten, um dann für jeweils eine Woche in ihre Hunderte von Kilometern entfernte Heimatsorte zu kehren.
Perito Moreno
Sollte ich gedacht haben, Río Gallegos sei das gottverlassenste Provinznest, das ich auf meiner Reise begegnen würde, so war das ein grundlegender Irrtum. Es ist si­cher nicht das malerische Erscheinungsbild des Ortes, das Besucher hierher lockt, sondern einzig und allein die nahegelegenen Attraktionen, die für einen kontinuierlichen Auf­schwung des Tourismus sorgen.
Cueva de las manos
Mein Plan war einfach. Die großen Entfernungen per Bus bewältigen, vor Ort ein Auto mieten und dann die jeweilige Gegend in aller Bewegungsfreiheit auskundschaften. Leider hatte ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn dass man nicht über­all an ein Gefährt kommt, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, ist doch Patagonien die Hochburg des argentinischen Tourismus. Was für eine Enttäu­schung also, als ich erfahre, dass dieses Kaff außer Einsamkeit, Wind und ein zau­ber­haftes Licht - aber allein deshalb hat es sich gelohnt, hierher zu kommen - nicht viel zu bieten hat.  „Alquiler un coche"? Fehlanzeige. Die nächste Möglichkeit liegt im etwa 1000 km nördlicher gelegenen Esquel. Organisierte Touren gibt es hier an­schei­nend nicht, und falls überhaupt: Ich hätte bereits am frühen Morgen losfahren müs­sen. Was also tun? Schließlich werde ich an Herrn Campagnoli vermittelt, einen aus den Abruzzen stammenden Tourenanbieter mit einem gewinnenden Lächeln und – einen Geländewagen. Nicht ganz billig für mich als Alleinreisender, aber eine Al­ter­native dazu gibt es nicht.
Bild vergrössern Bild vergrössern
Zunächst fahren wir auf der gut asphaltierten Ruta 40 in Richtung Süden; die Land­schaft ist flach bis leicht hügelig und ohne nennenswerte Blickfänger, das Wetter klar. Ab und zu greift Herr Campagnolis Mitarbeiter zu der hierzulande kaum weg­zu­den­ken­den großen Thermosflasche, in der das Aufgusswasser für den Mate heißgehalten wird. Er füllt die "calabaza", das Trinkgefäß, das aus einem kleinen ausgehöhlten Kür­bis besteht, etwa zur Hälfte mit „yerba“ (getrockneten Mate-Blättern) und über­gießt diese dann mit dem 70 bis 95 °C heißen Wasser. Das Trinkgefäß wird von Mann zu Mann weitergereicht. Getrunken wird mittels einem kleinen Metalltrinkrohr mit Sieb, genannt Bombilla. Wobei betonen werden muss, dass wir alle, wie es üblich ist, das selbe Trinkrohr benutzen.

BUCHEMPFEHLUNG
In Patagonien: Ein „Muss“ für Reisende nach Patagonien. Bruce Chatwins behutsame Art, auf die Einheimischen wie auf die Eingewanderten zuzugehen oder den Schicksalen Verschollener nachzuforschen, sind der Schlüssel zu abenteuerlichen Entdeckungen.

Nach etwa 150 km, kurz vor Bajo Caracoles, zweigen wir nach links ab in die Ruta 97, eine Schotterstraße, auf der wir uns eine Zeit lang durchschütteln lassen müssen, um unser Ziel zu erreichen, die berühmte Cueva da las Manos, die „Höhle der Hän­de". Jetzt bin ich sehr froh, dass ich diese Strecke nicht selbst und dazu noch mit ei­nem kleinen Stadtauto fahren muss. So kann ich in Ruhe die steppenhafte, zerfurchte Meseta-Landschaft genießen, die mit jedem Kilometer beeindruckender wird. Die Höhle liegt in der Schlucht des Río Pinturas, einem Zufluss des Río Deseado, des wichtigsten Flusses im Norden der Provinz Santa Cruz.
Der italienische Salesianer Alberto de Agostini, der auch als leidenschaftlicher Berg­stei­ger, Forscher, Geograph, Ethnograf, Fotograf und Dokumentarfilmer bekannt wurde, entdeckte 1941 die Höhle, von der er in seinem Buch „Die Anden“ zahlreiche Fotos veröffentlichte. Die Cueva de las Manos ist für ihre bis zu 9300 Jahre alten Höhlen­ma­lereien bekannt. Was de Agostini nicht wusste, ist, dass es sich um die wohl ältesten und spektakulärsten Höhlenmalereien der Welt handelte, und dass er eine der in­te­ressanten Sehenswürdigkeiten Argentiniens ans Licht gebracht hatte. Die Cueva wurde 1999 von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Ihren Namen be­kam sie, weil ein Großteil der Höhlenmalereien aus Handabdrücken besteht. Zwar ist die Cueva de las Manos die bedeutendste Fundstätte, es existieren aber auch weitere Höhlen und Fels­wände in der Schlucht mit vergleichbaren Malereien, deren Farben in der Hauptsache aus Gips und Eisen bestehen.
Bild vergrössern Bild vergrössern
Manche der Malereien erreichen höchstes künstlerisches Niveau. Sie stellen haupt­säch­lich Jagdszenen dar, in denen Guanakos und menschliche Figuren dargestellt sind, wo­bei die Menschen seltsamerweise kleiner als die Guanakos gemalt wur­den. Nicht we­ni­ger schön sind die vielen statischen menschlichen Figuren mit kleinen Köpfen sowie verschiedene abstrakte Darstellungen, wie Kreise, Spiralen, Punkt­rei­hen, Schlan­gen­li­nien und Rechtecke, und vor allem die Abdrücke von Händen. Denn ein großer Teil der Malereien besteht aus Darstellungen von Händen in negativer Form, d.h., es wurden die Umrisse der Hand durch Übermalung dargestellt. Ähnliche Hand-­Abbildungen sind bis heute nur in dieser Höhle bekannt. Die Bedeutung dieser Dar­stellung der Hände ist immer noch wissenschaftlich ungeklärt, und auch weshalb die damaligen Künstler 829 Positiv- und Negativabdrücke ihrer Hände hinterließen, davon nur 36 Rechte waren.

Freitag, 25. November 2011

Transportmittel
Todavia no llegó“ („er ist noch nicht gekommen“), sagt mir das Mädchen hinter dem Schalter mit einem entschuldigenden Lächeln. Und Fahrkarten gebe es erst, wenn der Bus da sei. Was noch eine Weile dauern könne. Wegen der fehlenden Mobilfunk­ver­bin­dung - ich muss mich auch immer wegen der ständigen Meldung: „buscando red“ („Netzsuche“) ärgern - kann man am Schalter nicht wissen, mit welcher Verspätung der Bus tatsächlich kommen wird. Endlich, mit einer Dreiviertelstunde Verspätung ist der „colectivo“ endlich da. Kann mir übrigens jemand erklären, warum man den Pass herzeigen muss, wenn man ein Busticket kauft?
Los Antiguos
Los Antiguos ist eine Kleinstadt am Südufer des Lago Buenos Aires, des zweitgrößten Sees in den Anden, welcher direkt an der argentinisch-chilenischen Grenze liegt und in Chile Lago General Carrera genannt wird. Das Tal, in dem das kleine Städtchen liegt, hat ein für Patagonien recht mildes Klima, weshalb hier Kirschen, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren und Äpfel gezüchtet werden können. Los Antiguos gilt ins­be­sonders als Hauptstadt des argentinischen Kirschanbaus. Plakate kündigen das all­jährlich im Januar gefeierte Kirschfest an, die Fiesta Nacional de La Cereza. Man sieht die riesigen Obstplantagen anfangs gar nicht, denn sie werden in quadratischen Fel­dern angebaut, die von einer Doppelreihe „Alamos“ (Pappeln) als Windbrecher um­geben sind.
Bild vergrössern Bild vergrössern
In Argentinien gibt es Millionen Hektar an gepflanzten Pappeln, einer Baumart, die einst aus Europa importiert wurde. Sie fungieren als wahre Schutzmauern für Orte und Felder, denn Patagonien ist die Heimat des Windes. Ein Wind, der, wie man hier sagt, einem die Zähne aus dem Gesicht blasen kann. In Reih und Glied stehen sie, eine stramme grüne Armee, rund um die Obstplantagen, um sie zu schützen.
Weil ich die Topographie des Ortes nicht kenne, muss ich mir das Seeufer zunächst erkämpfen. Der Sechstausend-Einwohner-Ort Los Antiguos ist ein Exempel für Flä­chenverschwendung. Die Straßen sind breiter, als es der Verkehr erfordert, die klei­nen Landhäuser ("chacras") sind zwar meistens winzig, aber die ungenutzten Flächen, die sie von den Nachbarhäusern trennen, sind um ein Vielfaches größer. Ich muss also eine mehr als einen Kilometer lange, von Reihen von Pappeln flankierte Straße entlang gehen, ein paar Zäune übersteigen, zahlreiche Tümpel und Schilf­dickichte umgehen, ein paar Hasen in wilde Flucht versetzen, um endlich, bei eisigem Wind im Gesicht, das Ufer des Lago Buenos Aires vor mir zu  haben. Der See ist größer als der Titicacasee in Bolivien und als der Nahuel-Huapi-See in Bariloche - und fast vier­mal so groß wie der Bodensee.
Die Farben des Wassers decken wieder einmal alle Nuancen von Blau ab. Der starke Wellengang und die weiße Gischt lassen mich ans Meer denken. Die Berge auf dem gegenüber liegenden Ufer gehören vermutlich bereits zu Chile. Nur der böige eisige Wind hindert mich daran, hier stundenlang zu verweilen. Aber was für ein Gefühl des Einswerden mit der Natur! Alle paar Minuten fliegt irgendein kleiner Vogel vor mir auf. Hoch oben zieht ein Aguilucho (kleiner schwarzer Adler mit weißen Federspitzen) seine Kreise. Chimangos und Bandurrias erkenne ich längst auf Anhieb. Das Licht berauscht mich, der Wind gibt mir das Gefühl, lebendig zu sein und die unend­liche Weite jenes der Freiheit.
Bild vergrössern Bild vergrössern
Menschen
Ich fange an, die Reise wirklich zu genießen. Während ich in der confiteriaMorena mia“ in Los Antiguos meinen dritten „cafe con leche“ schlurfe und draußen der eisige Patagonien-Wind durch den Ort fegt, beobachte ich mit Entzücken die bildhübsche Bedienung, eine Miniausgabe von einer Frau mit ausgeprägten Indio-Gesichtszügen und einem Blick fangenden Dekolleté. Sie selbst ist fast noch ein Kind und doch hat sie bereits ein zehn Monate altes Baby, mit dem sie liebevoll umgeht. Das ver­meint­lich weißeste Land Südamerikas zeigt dem aufmerksamen Beobachter ein ganz an­de­res Bild. Einmal vom Geschäftsviertel und den „gutbürgerlichen“ Gegenden Buenos Aires' abgesehen ist die Urbevölkerung in den Zügen eines großen Teils der Men­schen noch sehr präsent. Manchmal fällt es mir schwer, die verräterischen Merk­ma­le in den Gesichtern genau herauszusehen. Es sind oft nur Nuancen in den Phy­sio­gno­mien: die rotbräunliche oder gelbliche Haut, die fast unmerkliche Mongolenfalte über den Augen, die breiten Gesichter, die betonten Backenknochen. Nur selten erinnert eine mehr oder weniger ausgeprägte Hakennase an die „Indianer“ Nord­amerikas, wie man sie sich vorstellt.
Ein wenig später erfreue ich mich an einem kurzen Gespräch mit vier Italienern, die aus dem Norden kommend, auf der Weiterreise nach El Calafate sind. Ich gebe Rat­schläge für den Süden, sie liefern mir Empfehlungen für den Norden. Busreisende kommen sich schneller näher als Flugreisende - Warten verbindet.
Kurz darauf spiele ich den Dolmetscher für zwei israelische Mädchen, die mit un­glaub­lich viel Gepäck (inklusive Zelt und Schlafsäcken) bereits seit mehr als einer Stunde auf ihren Bus nach Chile warten, kaum Spanisch sprechen und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Unglaublich wie viele junge Israelis man in Argentinien trifft. Ich habe mir sagen lassen, dass sie allesamt Abgänger der Armee seien, die nach den drei Jahren Militärdienst vom Staat Israel eine Reise finanziert bekommen, bevor sie ins Arbeitsleben eintauchen. Sparen müssen die jungen Leute trotzdem.

Zurück in Perito Moreno komme ich mit einem Spanier aus Granada ins Gespräch, der, als er von meiner österreichischen Herkunft erfährt, sofort in einem sym­pa­thi­schen, etwas holprigen Deutsch bekundet: „Ich habe gemacht den Donaufahrradweg von Passau bis Budapest.“ - Reisen verbindet!

Himmel und Licht
Bild vergrössern Bild vergrössern

Vor einiger Zeit erklärte mir ein österreichischer Ruheständler, der seit langer Zeit in Patagonien lebte, Bild vergrössernweshalb er seinen Lebensabend nicht in der fernen Heimat ver­brin­gen wollte. Seine für mich durchaus nachzuvollziehende Antwort war: „Keine Lust auf die langen, grauen Winter, in denen man selten den blauen Himmel sieht". Und tat­sächlich üben der Himmel Patagoniens und das Licht, das er ausstrahlt, eine au­ßer­gewöhnliche Anziehungskraft auch auf mich aus.


... zurück weiter ...