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23. August | |||||||
Bericht über eine unvergessliche Nacht! | |||||||
Ein weiteres Tum-tum-tum-Erlebnis erwartete mich. Damit meine ich die Hochzeitsfeier, die im Restaurant des Hotels Renesas (Renaissance), exakt unterhalb meines Zimmers stattgefunden hat. Angefangen am frühen Abend, ausgeklungen etwa um sechs Uhr morgens. Mit einer Lautstärke wie die der Trompeten Joshuas. Gut (aber nicht ausreichend), dass ich Ohrenstöpsel bei mir hatte. Ich will es kurz machen: Als ich in der Früh aufwachte – aber hatte ich überhaupt geschlafen? – war ich gerädert und übelst gelaunt. Und draußen regnete es bereits wieder. Auf meine Beschwerde hin konnte die Frau an der Rezeption plötzlich kein Englisch mehr. Pech für sie, dass ich meine Laune unbedingt mit einem kleinen Sieg retten wollte, was hieß: ich weigerte mich standhaft, die 120 Sloty für die Nacht zu bezahlen. Zumal ich beim Einchecken nicht auf die Feier aufmerksam gemacht worden war. Ich ließ nicht locker – und es lief, nach Hinzuholen des Managers, auf den halben Preis hinaus. Der Frühstückstisch-Nachbar formuliert es treffend. Die Menschen in diesen Ländern setzen Demokratie mit „man darf alles tun“ gleich. Und er muss es ja wissen, denn schließlich lebt er seit vier Jahren in Polen, wo er im Rahmen eines britischen Regierungsprogramms Mathematik unterrichtet. |
24. August | |||||||
In den schlesischen Beskiden | |||||||
Ein orkanartiger Föhnsturm fegt über die Landschaft. Der Himmel ist grau und ein hellblauer Streifen gibt im Süden die Sicht auf die Gipfel der Tatra frei. Das ist eine Art Wetter, die im Handumdrehen meine Laune hebt. Ich habe keineswegs die Absicht, so viele Kilometer wie gestern abzufahren. Ich nehme mir bewusst vor, nur die Fahrt an sich zu genießen. Und obwohl ich im Prinzip vorhabe, zurück nach Tschechien zu fahren, fühle ich mich jederzeit auch dazu bereit, diese Pläne ad hoc zu ändern. Das Kilometerfressen ermüdet. Es ist gut, um Eindrücke zu sammeln, nicht zum Vertiefen. Ich habe jetzt mehr das Bedürfnis, Menschen und Natur aus der Nähe zu erleben. Also fahre ich los in Richtung Bielsko-Biała, zu den Ausläufern der Schlesischen Beskiden, aber im Grunde ohne Ziel. „Ich siebzehn Kilometer vor Paris geboren", erzählt die alte Frau, die mich beim Fotografieren angesprochen hat, und sie kämpft dabei mühsam um jedes deutsche Wort. „Mein Vater Pole, 1924 keine Arbeit, zurück nach Polen.“ Kopftuch über dem Kopf, kaum Zähne im Mund, wirkt sie noch sehr agil und wirft mir einen verschmitzten, leuchtenden Blick zu. Sie kramt auch ein paar Sätze Französisch aus dem Gedächtnis. Ich verstehe zwar nur Choucroute (Sauerkraut), von der Aussprache klingt es aber echt. „Ich in Deutschland gearbeitet, Dortmund, Düsseldorf, Karlsruhe. Bei großen Bauer, aber nix gut. Andere Bauer sehr gut". Auf meine naive Frage „Wann?“ antwortet sie prompt „in Krieg". Schon wieder eine Zwangsarbeiterin für das tausendjährige Reich! Auch ihr Mann habe während des Krieges im Reich gearbeitet, in Österreich. Aber dafür kein Geld bekommen, denn der Mann in der Fabrik, der die Unterschrift geleistet hatte, sei gestorben. So war das also damals. Hier endlich, in den Beskiden südwestlich von Krakau, nahe am Babiogorsky Nationalpark, dessen bis zu 1700 hohen Berge im Hintergrund hochragen, fängt man an, Schilder mit der Aufschrift Pokoje (Zimmer) oder Noclegi zu sehen. Verstanden? Noc wie Nacht und legi wie (hin)legen. Auch sieht man wieder vermehrt Häuser, die so etwas wie einen eigenständigen polnischen Baustil vorweisen. Es handelt sich dabei entweder um kleine einstöckige, nicht sehr stark gegliederte Konstruktionen aus dunklem oder manchmal bunt angestrichenem Holz, kaum mehr als einfache Wochenendhütten, oder um etwas größere, zweistöckige Häuser, ebenfalls aus Holz, denen manchmal ein verglaster, verandaartiger Vorbau das Aussehen von Landhäusern russischer Adeliger verleiht, wie sie mir die Lektüre von Pushkins Erzählungen vermittelt haben. Auffälliger aber ist eine Bauweise, die mir derart typisch für diese Gegend erscheint, dass ich mit Sicherheit behaupten könnte, sie in keinem anderen Land bevor gesehen zu haben. Das Typischeste und gleichzeitig auch Ansehnlichste daran sind die sehr steilen Sattel- oder Giebeldächer, die manchmal bis zum Parterre reichen und gegebenenfalls auch asymmetrisch sind, ferner die spitzen Giebel, an dessen Fuß schmale Fußwalmdächer verlaufen, die Giebelgauben und Zwerchhäuser, diese ebenfalls mit spitzen Dächern, die durch ihre Verschachtelung und diese Asymmetrien ein wenig an orientalische Pagoden erinnern. Was in der Gegend nach wie vor fehlt, sind Ortschaften mit intaktem Ensemblecharakter. Man sieht nur weit über das Land verstreute Häuser, gegebenenfalls irgendwo eine vereinsamte Kirche als Mittelpunkt und Blickfang. Und von Abgeschiedenheit und Menschenleere kann ebenso kaum gesprochen werden. Überall wird auf Teufel komm raus gebaut. Die halb fertigen Häuser sind in manchen Gegenden fast so zahlreich wie die bereits bezogenen. Ein Adieu, also, der Illusion (dem Traum) von kleinen Dörfern im Dornröschenschlaf, wo Hinterwäldler in bunten Trachten die – sehr seltenen – Touristen gastfreundlich empfangen. Der Verkehr ist, selbst hier auf den Nebenstraßen, wesentlich dichter als beispielsweise im Böhmerwald, und die wenigen Pferdegespanne – ich habe bisher 16 davon gezählt –, denen man begegnet, wirken inmitten der überwiegenden Moderne nur noch armselig und unzeitgemäß. Mein 17. Pferdegespann will ich dennoch fotografieren. Obwohl der alte Mann nicht besonders freundlich in die Kamera schaut. Er wird sich schon denken können, warum ich ihn fotografiere. Wie eine vom Aussterben bedrohte Tiergattung in einem Naturreservat. Es ist mir ein wenig peinlich. Auf der Passhöhe angekommen, weht der Föhn so böig, dass das Auto bei jedem Stoß anfängt zu schwanken. Und es regnet sich wieder ein und dieser Regen verstärkt meine Absicht, noch heute weiter nach Tschechien zu fahren. Der Grenzübergang Ciesyn ist mein Ziel. Aber je näher ich zur Grenze komme, desto großartiger wird das Schauspiel des Himmels. Eine Apotheose mit goldenen Wolken im Westen und darunter eine entsprechend leuchtende Landschaft, die in dieses Gold getaucht ist. Eine nordische Lichtstimmung. Zwar verdüstern die vom Wind in rascher Abfolge gejagten Wolken immer wieder den Himmel, aber um so schneller werden sie auch wieder weggefegt. Entlang den von Baumreihen gesäumten Landstraßen wirbelt der Wind die Blätter stoßartig auf und schüttelt gewaltig die Baumkronen. Es ist ein Herbstzauber, dem nur noch die Verfärbung der Blätter fehlt. Das Licht-und-Himmel-Schauspiel steigert sich weiter zu einem großartigen Finale. |
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