HOME / Reisebericht Polen, Tschechien
Jägerndorf - Krnov
Zurück
Wieder in Tschechien

Kaum bin ich jenseits der Grenze angekommen, schon scheint es mir, als könnte ich am Charakter der Ortschaften erkennen, dass ich wieder in Tschechien bin. Einerseits wirken die Orte sauberer, bei allem Chaos geordneter, fast „deutsch", die Straßenränder sind gepflegter, die Siedlungen kompakter, weniger wildwüchsig. Andrerseits vermittelt mir Tschechien nicht den Eindruck, wie ich es im Süden Polens teilweise empfunden habe, es habe den Anschluss an Westeuropa wirklich geschafft. Es ist ein Rest an Bescheidenheit geblieben, die das Land sympathisch macht.

Die Gegend um Ostrau ist zwar dicht besiedelt und stark industrialisiert, ein kleines Ruhrgebiet also, aber weit weniger schrecklich als ich befürchtet habe. Vielleicht sind es aber auch nur die heutigen Lichtverhältnisse, die sie in meinen Augen veredeln.

Der Landstrich gegen Troppau ist indessen eine kleine Überraschung. Hügelig und doch von großer Weite, grün, eher einsam, die Straßen ein Auf und Ab wie bei der Achterbahn, so dass die Asphaltbänder manch interessante Geometrie ergeben. Nur die späte Stunde hindert mich am Verbleib.

Während Bild vergrössernim Osten der Himmel fast wolkenlos ist, hängt in Fahrtrichtung eine riesige schwarze Wolke über der Landschaft, die nur zum Horizont hin einen dünnen gelben Streifen frei macht. Manchmal dringt die Sonne durch, und ich bin völlig ge­blendet, manchmal zieht es wieder ganz zu, wie in Troppau, wo ein starker Dusch minu­tenlang mit gro­ßer Gewalt herun­ter­prasselt. Es ist jedenfalls eine faszi­nierende Szene.

Nur noch wenige Kilometer und ich komme in Krnov (Jägerndorf) an, es ist jetzt schon fast ganz dunkel. Ich suche gleich nach Tante Marthas Haus. Vor fünf Jahren noch eine vor sich hin verfallende Halbruine, steht es noch da, es wird sogar gerade renoviert.

Abends in Jägerndorf (Krnov)

Ob die Bedienung weiß, dass sie wie Gundel Gaukeley, die Hexe in Dagobert Ducks Geschichten, aussieht? Schwarz angezogen, schwarze, struppige Haare, helle, fast durchsichtige blaue Augen, die ein wenig entgeistert wirken? Gut, dass sie keine Gedanken lesen kann. Gut auch dass sie nur Tschechisch spricht, denn das zwingt mich wieder dazu, diese Sprache zu üben. Auch im Hotel Morava zwingt mich die junge, immer lächelnde Simona zur Sprachpraxis. Das Zimmer sei bez sprchnou, langsam dämmert's bei mir – „ohne Dusche". Und ich bekomme das selbe Zimmer wie bei meinem ersten Besuch vor fünf Jahren. Was? Schon so lange ist es her?

25. August

Kaum zu vermeiden, dass ich zur Bestellung des Frühstücks die deutsche Speisekarte bekomme, Ehrensache, dass ich sie ignoriere. Ist doch das Bestellen von Gebäck, Butter, Marmelade und Kaffee auf Tschechisch inzwischen die leichteste Übung für mich.

Ich komme in Jägerndorf nicht drum herum, mich mit dem Phänomen Vertrei­bung zu befassen. Der Gedanke, dass die ganze Bevölkerung einer Stadt von einer Woche auf die andere durch eine neue ersetzt worden ist, ist fast so wenig vorstellbar wie die Annahme, dass in einem Körper zu einem gewissen Stichtag ein Personenwechsel stattfinden könnte, bei dem die neue Person nicht wüsste, was sich in dem Körper vorher alles abgespielt hat.

Alte Jägerndorf-Fotos                    
Vrbno (Würbenthal), Altvatergebirge

Es ist wie eine Gegenwelt zu Hollywood. Uglyland gegen Beautyland. Bewegen sich in der einen Welt nur fiktive Personen unvergleichbarer Schönheit im wundervollen Ambiente von Luxuswohnungen und Fünf-Sterne-Hotels, so sieht es in der anderen nur schäbig und hässlich aus. Ehrwürdige alte Gebäude, die vor langer Zeit schön waren, werden jeden Tag schwärzer vor Ruß und Staub, ihr Putz bröckelt in unerbittlichem Tempo ab, ihr Umfeld wird immer öfter von schreienden Werbeplakaten oder modernen Klötzen, die nicht einmal die Eigenschaft der Funktionalität aufweisen, verunstaltet, und der kleine Rest ihrer Würde geht verloren.

Kaum inspirierender finde ich die Menschen: die Frauen, mit ihren billigen Wühltisch-Kleidern und ihrer Ungepflegtheit – wo ist die Anmut der jungen Frauen aus Prag? –, und auch die Männer mit ihren groben, verbraucht wirkenden, ausdruckslosen Gesichtern, die, oft unrasiert oder durch ungepflegte Vollbärte entstellt, Visagen zur Schau tragen wie in einem Sergio-Leone-Western. Ihre Kleidung ist eher eine Verkleidung. Grellbunte Trainingsanzüge, vergammelte, unpassende Jacken oder fettig-blaue Arbeitsklüfte.

Ist es nur der Verfall einer Kultur, der sich auf diese Weise manifestiert? Ein kollektives Sich-gehen-lassen während 40 Jahren Kommunismus? Lässt sich dieses Bild allein mit der Armut erklären, oder war der Identitätsverlust der entwurzelten zwangsweise in diese einst von Deutschen bewohnte Gegend umgesiedelten Habenichtsen die Ur­sache? Diese Menschen passen jedenfalls in dieses trostlose Ambiente, als ob sie sich ihm durch Mimikry angepasst hätten.

Freilich, man kann das Ganze auch aus einer etwas bejahenderen Perspektive betrachten. Die Verunstaltung dieser Ortschaft ist so augenfällig, dass sie fast wieder kulturhistorischen Wert bekommt – die Schönheit des Paradoxen. Und bei den Menschen könnten einem ihre Charakterköpfe auffallen, könnte man ihnen in die Augen sehen, dort ihre Menschlichkeit entdecken und Anteil an ihrem Schicksal nehmen.

Im Restaurant Morava

Szegediner Gulasch mit böhmischen Knödeln und Bier für umgerechnet drei Mark fünfzig. Was kann die Abgeschiedenheit dieses Ortes besser bezeugen als dieser Preis?

Ich schaue unauffällig, um nicht aufdringlich zu erscheinen, zum Nebentisch hinüber. Ein Mann mittleren Alters, im blauen, verschmutzten Overall und mit ungepflegtem blonden Vollbart sitzt einem kleinen Mädchen, wohl seiner Enkelin, gegenüber und isst. Seinen kleinen, in Lach- und Weinfalten eingebetteten Augen entspringt jedes Mal ein warmes, liebevolles Lächeln, wenn er das kleine Mädchen ansieht. Und wie lebendig lachen ihre dunklen Augen dann zurück.

An einem anderen Tisch sitzen zwei Buben, ich schätze sie etwa auf sechs oder sieben Jahre. Wie „artig“ wirken sie auf mich. Als ob sie noch nicht alle Ansprüche auf­ge­nommen hätten, noch nicht von tausend Eindrücken überflutet worden wären, noch nicht die Alles-bekommen-haben-Attitüde angenommen hätten.

Eine bescheidene, kleine Welt, diese, die all die Widrigkeiten in Kauf nimmt – nehmen muss.

Bad Karlsbrunn

Ich glaube, ich kann meinen AugenBild vergrössern nicht trauen. Dieser Ort, Karlova Studanka (Karlsbrunn), am Fuß des Praded (Altvaters) gelegen, wi­der­spricht all dem, was ich bisher geschrieben habe. Er ist wohl, trotz seiner nur 300 Einwohner, ein über­aus mondäner Ort. Die mächtigen, meist im klas­si­zis­ti­schen Stil er­rich­teten, mit dunklem Holz ver­klei­de­ten Gebäude stammen aus den Vier­zi­ger­jah­ren des 19. Jahrhunderts. Karlova Studanka, das heute Kur­gäste aus dem Westen umwirbt, verbreitet noch immer den Hauch der K.u.K.-Monarchie, wie einst, als es noch Bad Karlsbrunn hieß.

Bild vergrössernDie distinguierte Atmosphäre eines Badeorts aus der Jahr­hun­dert­wen­de ist völlig erhalten geblieben, Stilbrüche im Ortsbild konnte ich nicht finden.

Und angeblich weht hier der sau­berste Wind ganz Mitteleuropas. Und auch die Landschaft scheint in der Zeit stehen geblieben zu sein.

Das Altvatergebirge (heute Hruby Jeseník genannt) ist das zweit­höch­ste Gebirge des Sudeten-Ge­birgs­sys­tems und etwa 40 Kilometer lang.

Sein höchster Berg, der Altvater, misst 1492 m. Zwischen seinen oft felsigen Gipfeln erstreckt sich eine sanfte Mittelgebirgslandschaft mit großen menschenleeren Flächen und romantischen Tälern.

Von Karlsbrunn an gewinnt die Landschaft einen immer makelloseren Charakter, es ist ein kleines Wunder an Ausgewogenheit von Berg und Tal, Feld und Wald,Wasserläufen Bild vergrössernund Streudörfern, eine der wohl schönsten Landschaften dieser Art in Mitteleuropa. Filtert man etwas von der Moderne, die sich dennoch eingeschlichen hat, im Geiste weg, könnte man meinen, man befände sich wieder in Großvaters heilen Welt.

Auf einer Anhöhe bei Ostružná (Spor­nau) pfeift eine Reihe von Wind­ge­ne­ra­to­ren ihre leise Wind­me­lo­die. Es ist faszi­nierend, diesen sanften Energiegiganten (ich schätze sie auf etwa 50 Meter Höhe) von größter Nähe zuzuschauen. Ich empfinde weder ihr Aussehen noch ihr Geräusch als störend, so schlicht und elegant, fast wie die Windmühlen einer holländischen Landschaft, wirken sie auf mich einerseits, und so beruhigend ist ihr leises Brummen anderseits. Kein eigentliches Brummen wirklich, nur ein regelmäßiges, einlullendes Summen.

Zurück