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Rathaus von Zamosz
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22. August
Weiterreise

Ich wache sehr früh auf. Vielleicht war es das Bellen des Höllenhundes (des hässlichen schwarzen Köters des Hauses) oder auch das heftige Klatschen des Regens, der bereits früh in der Nacht eingesetzt hat, ich weiß es nicht. Ich hoffte nur insgeheim, dass der Regen die Luft kräftig reinigen würde. Und tatsächlich, als sich die Wolken (wenn auch nur vorübergehend) verziehen, ist die Luft plötzlich klar. Jetzt, denke ich frohen Mutes, kann es endlich losgehen.

Und es geht auch los. Zum einen Bild vergrössernbeläuft sich die Hotelrechnung plötz­lich auf ein Vielfaches des Er­war­teten – was nur zwei Schlüsse zu­lässt: entweder hat mein Polnisch noch Lücken oder der Hotelier ist ein Schlitzohr –, und zum anderen reg­net es weiter auf eine Land­schaft, die kein Deut auf­re­gen­der werden will. Auf der Landstraße ist die Zeit nicht stehen geblieben. Und ich kann es nicht fassen, dass es hier am Ende der Welt nicht auch nach dem En­de der Welt aussieht. Immerhin bege­gne ich wieder einem Pferdegespann (es ist mein zwölftes) und es gibt auch während der Fahrt ein paar weitere Details, die mich hoffen lassen: einen Storch, der hoch über meinem Kopf fliegt, schnatternde Gänse mitten auf der Straße und die dunklen Regenwolken, die zusammen mit dem Wind und den fallenden Blättern eine magische Herbststimmung zu erzeugen beginnen. Ein bisserl wenig, freilich, um dafür tausend Kilometer gefahren zu sein.

19 Uhr, auf dem Marktplatz von Zamosc

Ich hatte bereits, bevor ich mich auf diese Reise begeben habe, einiges über die polnische Renaissancestadt Zamosc, die 1992 von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestuft wurde, gelesen. So wusste ich zum Beispiel, dass sie im 16. Jahrhundert im Auftrag von Jan Zamojski, einem der gelehrtesten Staatsmänner im damaligen Polen, vom italienischen Baumeister Bernardo Morando binnen zehn Jahren errichtet wurde.

Auch Zamosc, wie das toskanische Pienza, sollte eine „ideale Stadt“ werden, eine Stadt der Aufklärung und des Handels. Was von all der Pracht bleibt, ist kaum mehr als der große Marktplatz und eine Reihe von schachbrettartig angeordneten Straßen, die größtenteils seit Jahrzehnten im Dornröschenschlaf noch vor sich hin ergrauen und abbröckeln.

Der Marktplatz mit seinen prächtigen Bürgerhäusern und ihren Bild vergrössernArkadengängen wird vom imposanten Gebäude des Rathauses mit seiner geschwungenen barocken Freitreppe und seinem 52 Meter hohen Turm optisch beherrscht. Sieht man einmal vom Glockenturm ab, lässt das Bauwerk seine italienische Herkunft nicht leugnen.

Es hat aufgeklärt. Streifen von rosa gefärbten Wol­ken, die wie eine sanft aufgesetzte Krone über den Dächern schweben, verleihen dem Himmel etwas Ätherisches, Zauberhaftes, das mich an ferne Früh­lingsabende und an Verse italienischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert denken lässt.

Die Stimmen spielender Kinder und das Palavern der Spaziergänger übertönen jetzt fast das lästige Dröhnen der Bässe aus den Lautsprechern. Die Autos, der Nachmittagsrummel und das Transpa­rent, das zur Ankündigung eines Behinderten­ma­ra­thons die Renaissancetreppe des Rathauses „zier­te", sind jetzt weg, die Turmuhr leuchtet bereits.

Die Amerikaner, mit denen ich vor einigen Stunden zwischen Pizza und Hamburger ei­nen kurzen Wortwechsel hatte, grüßen mich freundlich im Vorbei­gehen.

Es ist kühl geworden, plötzlich ganz herbstlich, und mir ist bewusst, dass ich zum ersten Mal nicht im Freien essen können werde. Trotzdem kann ich mich nicht recht entscheiden, ein Restaurant aufzusuchen. Ich gehe in dieser blauen Stunde unentwegt auf dem Platz auf und ab, völlig in Gedanken verloren, und die Zeituhr dreht sich dabei unmerklich zurück; die Konturen des Rathausturmes, die Fahne, die Zwiebelturme, sie erinnern mich plötzlich an ein Märchenbuch, das ich als Kind sehr lieb hatte.

Wenn man zu einem Turm hinauf schaut, kann man, etwas Fantasie vorausgesetzt, alle Umbauten, Fernsehantennen, Stromleitungen, Leucht­reklamen Bild vergrössernund sonstigen Ver­un­stal­tungen der Moderne übersehen oder gar wegdenken. Und wenn man diesen Turm auch lange genug ansieht und der Fantasie noch eine weitere Chance gibt, dann sieht man vielleicht die alten Zeiten wieder erwachen und alte Geschichten, die mit ihnen verbunden waren, wieder lebendig werden. Das Markt­ge­sche­hen und das geschäftige Leben von damals, die Welt der Grimm'schen Märchen, Till Eulenspiegels Strei­che, Ritter- und Liebesgeschichten, alles kann wieder vor unseren Augen auftauchen. Sobald man den Blick aber wieder nach unten richtet, ist der Zauber schnell gebrochen.

Wenig später im Restaurant

Tum-tum, tum-tum, tum-tum dröhnt es immer noch aus allen Lautsprechern.

Bei meinem ersten Bummel auf dem Marktplatz haben mich diese Töne fast er­schlagen. Ich hatte zwar die Wahl zwischen Sonnenschirmen mit Pepsi-, Coca-Cola- und jenen mit Bierreklame, ich konnte auch frei zwischen Pizza, Hot Dog oder Ham­burger wählen – was zur schlechtesten Pizza meines Lebens führte, ein mit Ketchup übergossenes, mikrowellhalbaufgetautes Irgendwas –, aber ich hatte nicht die Freiheit, mich diesem Techno-Lärm zu entziehen, denn es dröhnte von überall gleichermaßen laut auf mich zu.

Hier im Restaurant ist das Volumen wenigstens auf ein erträgliches Maß reduziert, so kann ich mich in Ruhe dem Essen widmen. Leider habe ich meinen Polen-Reiseführer im Hotel gelassen und muss deshalb die Speisekarte selber entziffern.

Polnisch für Anfänger: Was wird wohl Zupa pomidorowa z ryzem sein? Diese erste Übung ist noch kinderleicht. Es ist Tomatensuppe mit Reis. Aber was bedeutet die Überschrift Dania z wieprozowiny? Wieprozowiny ähnelt dem tschechischen veprovy, was „schweinern“ bedeutet, also haben wir es mit Hauptgerichten vom Schwein zu tun, klar. Zeberka duszone hingegen könnte Kassler sein (gedünstetes Rippchen), denn auf Tschechisch heißt gedünstet dušeny und žebirko ist das Kotelett.

Bei Dania s cieleciny wird's schon schwieriger. Also Hauptgerichte aus - was fehlt noch? - ach ja, Kalbfleisch. Unter diesem Oberbegriff steht auf der Speisekarte weiter unten Sznycel cielecy po wiedensku z jaikiem. Ist auch leicht zu übersetzen: Schnitzel gebraten auf Wiener Art (also tatsächlich vom Kalb) aber jaikiem? Frage ungelöst.

Leichter wird es wieder bei Karp panerowani, müsste panierter Karpfen sein.

Es wird immer schwieriger. Zupy barszcz czysty verstehe ich noch zur Hälfte (heißt nicht die saure russische Suppe Borszt?). Aber, Dania jarskie placek? Ohne Wör­ter­buch muss ich kapitulieren.

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