Reisebericht Tschechien, Polen
Krakau - Wawel-Schloss
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18. August
Intermezzo in der Slowakei

Und wieder hat meine Reise den Charakter einer Flucht angenommen.

Ist meine Fahrt durch die slowakischen Wälder anfangs noch mit Hoffnung erfüllt – ich kann ab und zu manch ein schönes dunkles Holzhaus sehen und Pferdefuhrwerken begegnen – so folgt die Enttäuschung Schlag auf Schlag. Welch ein Abgrund von Hässlichkeit sind die Dörfer, die ich durchfahre. Es sind nur zufällig hingewürfelte Häu­ser, dessen Architektur nur zwischen dem tristen Grau der sozialistischen Epoche und einem kaum definierbaren Neustil schwankt.

Ohne Ausnahme – das gilt jedenfalls für diesen Teil der Slowakei – sehen diese Sied­lungen so aus, als hätte der Herrgott alte abgewohnte Häuser, die woanders niemand mehr wollte, willkürlich und ohne Liebe auf die Gegend verstreut.

Und wie fünfzig Jahre Nachkriegsgeschichte dem Erscheinungsbild der Ort­schaften die Spuren ihrer Kultur genommen haben, so beraubt das diesige Wetter nun auch die Landschaft ihrer Anmut.

Es hatte Slowakei eben nicht sein sollen. So wandern die slowakischen Kronen, die ich erst wenige Stunden früher gewechselt habe, bei Trstená / Chyzne gleich wieder in die Wechselstube.

In Krakau

Würde ich einen Unterschied merken, wenn ich statt in Krakau in Prag oder in Venedig wäre? Oder vielleicht vor der Arena in Bild vergrössernVerona? Man sitzt abends in den Straßencafés und nimmt von der Architektur oder der Geschichte der Stadt kaum Notiz. Wie könnte man auch? Die Atmosphäre hat nicht im Gering­sten etwas damit zu tun. Ein junger Mann hat soeben, ohne eine Miene zu verziehen, sein über­di­mensioniertes Kassettengerät vor mir auf­gestellt und spielt dazu, kaum hörbar, auf seiner Flöte. Er schaut ins Leere, der junge Bursche, der sich das Reisen damit finanzieren will. Jetzt geht er mit dem Teller einsammeln. Ich höre es nur einmal klingeln. Ist das Krakau? Eine Gruppe Belgier – daran zu erkennen, dass sie Fran­zösisch sprechen und wie Deutsche angezogen sind – geht laut schnatternd vorbei, ein an­ge­trun­kener Bettler streckt die Hand aus und bekommt von mir zwei Sloty. Am Nebentisch klingelt es und ein Pole zuckt sein Handy, während zwei Jugendliche auf ihren Skateboards vorbeizi­schen – lasst mich raten, sind wir vielleicht in Venice, Kalifornien? Jetzt kommt mir ein beißender Geruch zur Nase – aha, Bratwurst: Dem­nach kann ich jedenfalls sicher sein, mich nicht nicht am Markusplatz in Venedig zu befinden.

Wer hätte das gedacht? ich habe zum ersten Mal polnische Bratwürste in Polen gegessen! Ebenso hätte es aber Pizza oder Döner Kebab sein können, denn diese gibt es an jeder Ecke.

Eine Pferdekutsche fährt vorbei - aha, ich könnte also ebensogut in Wien sein! Etwas später ist ein Rikschafahrer an der Reihe, leider fährt er leer. Ich schaue in seine Augen und was sehe ich? Traurigkeit.

Ein kreischender Amerikaner zwei Tische Bild vergrössernweiter verdirbt mir mit seinem Kau­gum­mi­englisch die Laune. Gott sei Dank ist seine Stimme von einem Trompeter (der die alte polnische Weise „Sum­mertime“ spielt) überdeckt. Dieser muss sich wiederum gegen eine bekannte russische Melodie auf der Ziehharmonika durchsetzen. Am Nach­bartisch wird laut Fränkisch gesprochen – über Wechselkurse.

Merkwürdig: am Nebentisch sitzen zwei sehr hübsche Mädchen – allein. Soo einen Busen und nur wenige Quadratdezimeter Stoff unterhalb der Taille. Wo sind denn die zwei Begleiter mit Zuhältervisagen geblieben? Hatte ich die Szene nicht bereits in Prag erlebt? Die verlassenen Jungfrauen? Inzwischen dreht ein Rikschafahrer mit voller Besetzung eine Runde und ich freue mich für ihn. Die mitfahrenden Mädchen quietschen vor Vergnügen.

Etwas später fährt die Rikscha wieder leer vorbei und dann wieder mit zwei gelangweilt vor sich hin blickenden Gästen zwei Mal um den Platz. Ein Online-Skater zischt an mir vorbei. Zwei wählerisch gekleidete Schwule mit Imponier-Huskys schlendern vor den Gästen des Cafés Aufmerksamkeit heischend hin und her.

Der alte Mann mit der Rikscha fährt nun zum fünften Mal vorbei – wieder leer.

19. August
Stadtführung

80 % aller außerhalb Europas lebenden Juden haben ihre Wurzeln im Polen des 16. Jahrhunderts. Denn Polen war zu dieser Zeit das einzige Land Europas, das die Juden nicht nur aufnahm, sondern auch ermunterte, sich im Land niederzulassen. Noch heute haben 40 % der Menschen in Krakau jüdische Vorfahren. Das jedenfalls behauptet unsere Reiseführerin, Jane Witoch.

Solche Zahlen lassen einem ein klein wenig verstehen, wie innigst das Judentum mit Polen verwachsen war und welchen Ausmaß dadurch die Tragödie des 2. Weltkriegs in diesem Land annahm.

Jane ist während der Führung außerordentlich Bild vergrössern gesprächig. Während ihr Wortschwall, die Stadtführung selbst betreffend, fast zu groß ist – die Namen aller Könige Polens gehen sowieso im Hintergrundlärm der Tou­ris­ten­mas­sen unter –, wird es schlagartig in­te­ressant, wenn sie Details ihrer eigenen Erleb­nissen schildert.

Erschütternd wird es, wenn sie von den Verfolgungen durch die Nazis spricht. Diese hatten bereits, noch lange vor dem Jahr 1942, als die systematische Vernichtung der Juden begann, pol­nische In­tel­lek­tu­el­le, Offiziere, Zigeu­ner, Außenseiter, Geisteskranke und Behin­derte systematisch aus den Weg räumen wollen, in einem Vernichtungswahn, der seinesgleichen sucht. Hätte ein deutscher Soldat damals, so schildert sie, einen Hund erschossen, er wäre verurteilt worden. Bei der Tötung eines Polen hingegen hätte bereits die Behauptung, dieser habe etwas gegen Hitler gesagt, gereicht, ihn straffrei ausgehen zu lassen.

Als sich Janes Vater, ein hoher polnischer Offizier, vor den Nazis versteckte, wurden alle Familienmitglieder, die eine Auskunft über seinen Aufenthaltsort verweigert hatten, ausnahmslos umgebracht, und das Gleiche geschah auch ihren kleinen Geschwistern. Ihr kleinstes Brüderlein erlitt den Tod, indem es gegen eine Wand geschleudert wurde. Jane selbst überlebte nur durch Zufall.

Sie erzählt auch, wie verblüfft die Bild vergrössern Deutschen jedes Mal waren, wenn man ihren Befehlen Widerstand leis­tete. Denn sie konnten sich kaum vorstellen, dass der Zwang zu „gehorchen“ den Menschen nicht von Gott gegeben war, sondern von ihrer Erziehung, und sich nur in den Köpfen abspielte. Und die Polen hät­ten nun andere Köpfe, betont Jane.

Während ich schreibe, hat sich uns eine Gruppe Zigeuner mit Gitarren, Bass und Ziehharmonika genähert und will uns mit einigen Takten Musik unterhalten. Die Klänge eines Dudelsackspielers an der nächsten Ecke machen ihnen Konkurrenz und wetteifern mit ihnen um die größte Lautstärke. Was aber nicht weiter stört, denn kaum haben sie ein paar Slotys kassiert, sind sie auch gleich wieder verschwunden – um drei Tische weiter andere Gäste zu beglücken.

Wie unzureichend sind meine Kenntnisse der europäischen Geschichte - ins­be­son­de­re der polnischen!

Ich wusste zum Beispiel nicht, dass Polen drei Mal vollständig von der europäischen Landkarte verschwunden war. Zum zweiten Mal verschwand es 1795, und zwar für 120 Jahre, aufgeteilt zwischen Österreich, Russland und Preußen. Zum dritten Mal geschah es nach dem Hitler-Stalin-Pakt.

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