Reisebericht Tschechien, Polen
Hotel Tatra
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Abends in Velké Karlovice in den mährischen Beskiden.

Während ich im Hotel Tatra genüsslich an meinem Eis schlürfe, denke ich zurück an den Verlauf des Tages. Deutlich erkenne ich wieder das Muster, nach dem alle meine Reisen verlaufen: Erwartung, Ernüchterung, angenehme Über­raschung. Nachdem ich die Grenze bei Laa an der Thaya während der Mittagszeit überschritten hatte, tauchte ich in die langweilige südmährische Ebene ein, die sich – ich hätte es wissen müssen – kaum von jener des Weinviertels unter­scheidet, sieht man vielleicht von dem größerem Maß an Verlassenheit und von der Architektur ab, die die übliche Mischung von Übriggebliebenem aus fernen Zeiten und Trostlosem aus der Zeit des Sozialismus ist.

Das Mittagessen – eigentlich wäre es völlig überflüssig gewesen, aber ich war ungeduldig, den Ambientewechsel zu erleben – ermöglichte mir nach langer Zeit wieder, Versuche mit der tschechischen Sprache anzustellen. Die Bedienung brachte mich zwar sofort mit Deutsch in Versuchung – jeder in der Touris­musbranche spricht es ein wenig –, aber ich blieb tapfer.

Ach wie herrlich gewöhnlich, und das auf eine so ausgesprochen böhmische Art, waren die beiden Kellnerinnen im Restaurace „Bístro Gol". Ein Gesichtsausdruck wie die Mädchen von Pepe le Moko in der Unterwelt von Marseille, hochtoupierte Frisuren, wie sie bei uns vor dreißig Jahren in Mode waren, körperbetonte Kleidung, lange Beine, Superminiröcke aus hauchdünnem, glattem Stoff, der die wohl geformten Po-Backen – zum Grapschen nahe – aufs Deutlichste unter­streichen. Ein Schmaus für männliche Augen. Dennoch freundliche, fast naive Blicke.

Bald hatte mich die eintönige Landschaft wieder. Aber es verging nicht viel Zeit und das diesige Wetter und das Fehlen jeglichen Höhepunkts gingen mir aufs Gemüt.

Auch als die Ausläufer der Beskiden bei Zlín auftauchten, das Licht milder wurde, der Himmel blauer und die Wälder dichter, ging es mir nicht besser. Es fehlten – ich merkte es plötzlich – die heiß geliebten Schilder „Zimmer frei", die in Böhmen wie Sand am Meer zu finden sind. Mit Sorge dachte ich auch daran, dass ich gar kein Zelt bei mir hatte.

Der Mittelgebirgscharakter der Umgebung verstärkte sich langsam aber die Ort­schaf­ten waren nach wie vor reizlos und die wenigen Hotels ausnahmslos verheerend hässliche Klötze direkt an der Hauptstraße: Sie wären für mich auch in der allergrößten Verzweiflung nicht in Frage gekommen.

Ich fing sogar an zu befürchten, diesmal im Auto übernachten zu müssen. Und den­noch: Meine Niedergeschlagenheit hielt sich in Grenzen.

Mit allerletzter Hoffnung bog ich schließlich am Bild vergrössern späten Nahmittag in eine landschaftlich sehr anmutige Seiten­straße ein und versuchte dort in einer kleinen Pension, die vollgestopft mit Kin­dern war, und mich daher ver­mu­ten lies, es könnte sich um Fe­rien­heim handeln, nach einem Zim­mer zu fragen. Die Umgebung, die stark dem Alpenvorland gleicht, und die heile Welt mit diesen Scharen von spielenden Kindern und frei lau­fen­dem Geflügel hatten es mir an­ge­tan. Mein Tsche­chisch reichte aber gerade dazu aus, zu verstehen, dass es keine Zimmer mehr gab – škoda (leider)!

Schließlich mischte sich mein Schutzengel doch noch ein: Als ich bereits kurz vorm Verzweifeln war, erschien mir auf einem Hügel, wie aus dem Zylinder eines Magiers hervorgezaubert, ein altmodisch anmutendes Hotel im Stil eines Schweizer Chalets.

An der Rezeption empfing mich ein bildhübsches, außerordentlich charmantes Mäd­chen. Sie allein wäre schon Motivation genug gewesen für mich, meine Sprach­kennt­nisse auf die Probe zu stellen, leider gingen aber meine dies­be­züg­li­chen Versuche sehr schnell ins Deutsche über, da die junge Frau diese Sprache hinreichend be­herrschte.

Von außen sehr einladend und nahezu vornehm, kann das Hotelinterieur nur im Entfernten diesem Anspruch genügen. Die Ausstattung wirkt, wie auch beim ähnlichen Hotel Rixi im Böhmerwald, etwas billig. Was musste ich aber staunen, als ich mein Zimmer sah. Hochmodern und geschmackvoll eingerichtet, mit blitzblanken Ba­de­zim­mern und ausreichender Beleuchtung (üblicherweise muss man sich hier zu Lande mit 25-Watt-Lampen begnügen).

Ich mache es kurz. Der Preis sollte etwa 1/5 dessen betragen, was ich in Krems bezahlt habe.

Horsky Hotel Tatra (Velke Karlovice)                   
17. August
Velké Karlovice

Es ist heiß, der Himmel ist wieder hinter einem flimmernden weißen Schleier verschwunden und ich marschiere schweißgebadet den Berg hinauf. Um das zu tun, den­ke ich, hätte ich keine siebenhundert Kilometer weit fahren müssen – in eine mit­tel­eu­ro­päische Berglandschaft, wie es viele gibt. Hätte man mich mit zu­ge­bun­de­nen Augen hierher gebracht, ich könnte kaum unterscheiden, ob ich in Bayern, in Südtirol, in Österreich oder eben hier wäre, keine sechs Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt. Am Ende der Welt und doch nicht weit genug.

Nur unten im Ort erkennt man an kleinen Details, dass man doch woanders ist: an einer Diesellok, die mit zwei klapprigen Wagons in den kleinen Bahnhof (nádražý) hereintuckert und ein halbes Dutzend autoloser Wanderer ausspuckt; an den Scharen von Kindern, die in kleinen Gruppen unterwegs sind, an den kleinen Familien auf „Sommerfrische“– wie gut passt dieses altmodische Wort hierher –, die aus bis auf den letzten Sitzplatz vollen Skodas aussteigen.

Das ununterbrochene Auf und Ab von teuren Limousinen in ampelreichen auf Hochglanz getrimmten Ortschaften fehlt vollkommen. Man muss unwillkürlich an die Zeit zurückdenken, als Urlaub nicht mit Surfbrettern, Mountainbikes, Minigolf-Plätzen, Trimm-dich-Pfaden, Superwasserrutschen in Luxusschwimmbädern, oder mit Tennis und Sesselliften gleichzusetzen war und als Campingplätze nicht mit tonnenschweren Campingwagen mit meterhohen Fernsehantennen zugeparkt waren, sondern – was sonst – mit Zelten.

Damals badete man noch im „Weiher“ oder im Fluss, und die Seeufer glichen noch keinen Grillplätzen. Man spielte Federball, aß mitgebrachten „Proviant“ statt Pommes mit Ketchup, trank „Kracherln“ an Stelle von Cola. Es war alles viel bescheidener, und doch bedeutender und erholsam.

Genau diese Atmosphäre meine ich hier wieder gefunden zu haben, aber ich frage mich, ob es reicht, um so eine Reise zu rechtfertigen. Ich komme nicht drum herum, ein wenig daran zu zweifeln. Also versuche ich, quasi als Alibi, mein Tschechisch aufzupolieren und den Text einer kleinen Votivtafel mitten im Wald zu übersetzen.

„Pavel Janavindiše, z Frydlantu N./Ostr.
zdejšiho kooperatora, ktery zde nahle
zemrzel na ceste do školy
26. zárí 1928 3 mesíce po svecení“.
„Pavel Janavindiše, aus Friedland a. d. Ostrau
der hiesige Kaplan, der hier plötzlich
auf dem Weg zur Schule gestorben ist
am 26.9.1928, 3 Monate nach der Priesterweihe„
Einen halben Liter Schweiß weiter

"Stand“ vor wenigen Augenblicken noch die Hitze buchstäblich in der Luft, gefüllt mit all den Düften des Waldbodens, so weht mir jetzt eine willkommene Brise ins Gesicht, mein Gehen wird sanft, befreit, und eine Bild vergrössernunerwartete Ruhe ergreift mich. Der Wind haucht in den Baum­wipfeln, Grillen zirpen, Fliegen umsum­men lästig mein Gesicht. Ich setze mich auf die ungemähte Wiese und blicke auf eine unspektakuläre und doch beeindruckende Landschaft. Eine Weite, die alle Sinne öffnet und meine Gedanken so weit schwei­fen lässt wie selten. Jetzt bin ich endgültig nicht mehr im hei­mat­li­chen Bayern, jetzt bin ich endlich angekommen – ich weiß nur im­mer noch nicht wo. So weit das Auge reicht, folgen Wälder auf Wälder. Mit ihrem blaugrünen Samt bedecken sie die Rücken von mehreren aufeinanderfolgenden Hügelreihen, als möchten sie damit ein Meer mit seinen Wellen nachahmen. Es ist kaum ein Zeichen von menschlicher Präsenz zu erkennen.

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