Reisebericht Tschechien, Polen
Krems
15. August, 1998

Der letzte Schluck Tee ist ausgetrunken, das Polohemd flattert zum Trocknen im Wind. Aber es ist nur ein schwacher Lufthauch, der es nicht schafft, meine Schwere und meine Schläfrigkeit an diesem Sommervormittag zu vertreiben. Von der Straße kommt ein gleichmäßiges, nicht allzu lautes Rauschen zu mir und gelegentlich das Knattern eines Motorrads. Diese akustische Kulisse und die ungewohnte Hitze erinnern mich ein wenig an die verschlafene Atmosphäre des Ferragosto in einer italienischen Kleinstadt. Der Himmel ist weiß und voller Fragezeichen. Alle Pflanzen sind bewässert, die Koffer gepackt und ich habe die Seufzer nicht gezählt, die mir, wie immer beim Aufbruch zu einer Reise, entflohen sind.

Krems, 20 Uhr

Wer kennt das Gefühl? Verschwitzt und verstaubt aus dem Auto raus, schnell unter die Dusche und in frische Klamotten schlüpfen? Anschließend im Gastgarten eines Restaurants (in meinem Fall im Brauhaus vor dem Steinertor []) sitzen und den Schnurrbart tief in den Bierschaum eintauchen?

Apropos Bier: Es heißt, dass die Stadt Krems – was in einer Weingegend auch verständlich ist – dem Brauereigewerbe jahrhundertelang eher feindlich gegen­über gestanden sei. Aus dem Jahr 1588 ist sogar ein Edikt bekannt, dass den hiesigen Wirten das Ausschenken von Bier verbot.

Ich sitze im Freien unter Linden, schneide genüsslich einen Bissen von meinem Cordon Bleu ab und erfreue mich am Anblick eines schönes Barockgebäudes am angrenzenden Südtiroler Platz. Freilich braucht man auch hier einen recht selektiven Blick, will man sich nicht von der allgegenwärtigen Stadtmöblierung durch die Autos oder von der Verunstaltung durch die Modernisierung der Häuser in der Fuß­gän­ger­zone verstimmen lassen.

Es gibt kaum noch Erdgeschosse, in denen sich nicht Warenhäuser, Schnell­imbisse, Banken oder chemische Reinigungen, bar jeder denkmalverträglichen Gestaltung, breit gemacht haben. Ohne jedes Verständnis für kleinteilige, in sich geschlossene Strukturen oder Rücksicht auf die Gestaltung der Obergeschosse wurden der Vorkriegsarchitektur überdimensionierte Kaufhauselemente aufgesetzt. Alle weisen sie unverhältnismäßig große, hässliche Fenster auf, knallbunte Werbeschriften und, obszön ins Auge stechend, großformatige Präsentationsflächen für Waren, sodass die Aufmerksamkeit der Passanten ganz automatisch auf diese Hässlichkeit geleitet wird und von den behutsam restaurierten oberen Stockwerke abgelenkt wird.

Es ist als ob man von einer ehemals schönen Frau nicht das hübsche Gesicht, die edlen Züge, die anmutigen Rundungen der Brüste oder der Hüften sehen würde, son­dern ihre von einem grausamen Unfall verunstalteten Beine.

Dennoch gehe ich gerne in der lauen Abendluft durch die Straßen dieser Stadt spa­zieren. Abseits der Geschäftsstraßen und der Hauptsehenswürdigkeiten finde ich zahl­reiche Details, die mich in die Zeiten des Kaiserreichs versetzen oder in das Wien meiner Kindheit (nicht die Kaiserzeit!), teilweise sogar nach Italien. Barocke Bür­ger­häuser, oft liebevoll restauriert, abbröckelnde Mauern, hinter denen sich große, fast verwilderte Gärten verbergen, das klotzige, wie eine Festung wirkende Gebäude der Justizanstalt, Straßenschilder in gotischer Schrift, all das versetzt in ein Mitteleuropa, das – jedenfalls vom architektonischen Standpunkt aus – eine Idylle gewesen sein muss.

16. August
In Retz

Bild vergrössern Seit langem hatte ich diese Stadt auf meiner Wunschliste. Ein Foto des weltbekannten Graffitohauses fehlte noch in meinem Portfolio. Und jetzt stehe ich hier, mitten auf dem riesengroßen, in dieser Mit­tags­stunde fast leeren Marktplatz und bewundere ihn. Zweifelsohne, ein Juwel. Und sogar das Licht meint es gut mit mir. Die Sonne ist fast völlig im weißen Dunst ver­schwundenund hat nicht mehr Bild vergrössern die Kraft, die für Aufnahmen so ungünstige harte Schatten zu werfen, während der nördliche Himmel noch Reste von Blau aufweist, die dem wuchtigen Rathaus einen Kontrast bringenden Hintergrund liefern.

Interessant, wie viele Parallelen die Stadt zu ihren vernachlässigten Schwestern im Böhmerwald, auf der anderen Seite der Grenze, zeigt. Am meisten fällt der große, von barocken Bürgerhäusern eingerahmte quadratische Hauptplatz auf, und das hochragende, imposante Rathaus, das, von allen Seiten gut sichtbar, in dessen Zentrum steht.
Nur zwei Schönheitsfehler gibt es: Der Platz ist nicht autofrei und die wundervollen Fassaden leiden an der bereits beschriebenen Fußkrankheit: Riesige Inschriften wie: „Weinviertler Sparkasse", „Foto Optik Hartlauer", „Strobl Handelshaus“ und „Elektro Frei“ verunzieren entschieden die Erdgeschosse der fast vollkommenen Juwele.

Im Grenzgebiet

Manchmal hängt meine Stimmung doch von seltsamen Zufällen ab. Ich fahre durch die nahezu ebene Landschaft südlich von Retz. Die etwas schwermütige Arie aus einer Oper „Richarda Wagnera“ – ich höre einen tschechischen Sender und die Endung „a“ kennzeichnet das tschechische Genitiv – harmoniert erstaunlich gut mit der un­end­lichen, trockenen Ebene rund um mich. Welkende Sonnenblumen, Weinreben auf fla­chen Hügeln, abgeerntete Kartoffelfelder, gelbbraune von der Sonne ge­trock­ne­te Wiesen oder Stoppelfelder unter einem Himmel, der immer weißer wird, Tendenz grau. Eine Eisenbahn fährt, halb leer, in einiger Entfernung zur Straße. In den Dörfern reiht sich ein flaches, meist gelb gestrichenes Haus an das andere. Spätsommer in einer ein wenig trostlosen, melancholischen Landschaft.