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1. September
Die Nacht hat mir etwas Neues gebracht. All der Staub
und der Rauch der vergangenen Tagen, die Müdigkeit und
die Klima-Anpassung haben das Ihre getan - ich habe eine Erkältung.
Auch Margit leidet still und dezent wegen eines Schnupfens vor sich hin.
Leicht wie eine Feder marschiere ich nachmittags dennoch durch Leh, erfreue
mich an den Gesichtern der Ladakhis, erkundige mich nach Taxis nach Srinagar,
klettere zur Burg hinauf, spreche Alt und Jung an, all die Zwänge der
Anpassung sind eine Zeit lang vergessen.
Leh ist Leh geblieben, der unendliche Himmel hat seine blaue Farbe nicht
meinetwegen geändert, und die indische Besatzungsarmee ist vorhandener
denn je.
Am Abend besuchen wir
eine Ladakhi-Vorstellung, mit Gesang-, Tanz- und Geschichten-Darstellungen.
Wenn es auch sehr stark danach aussieht, vermeide ich das Wort "Folklore-Show",
weil die Initiatoren, die Studenten der SECMOL (Students'
Educational & Cultural Movement of Ladakh) nicht den Zweck haben, sich
an den Touristen zu bereichern, sondern die Ladakhi-Kultur und die
traditionellen Werte dieses Landes erhalten wollen.
Zum Abschluss der Veranstaltung wird den Gästen Tee mit gesalzener
Butter und eine Art Most serviert.
Zu Abend essen wir im absolut überfüllten - mit Touristen, versteht
sich - "Dreamland Restaurant".
Es tut auch
einmal gut, wieder mit Europäern zu sprechen, Tipps und Meinungen auszutauschen
oder einfach nur die eigene Sprache zu hören. So kann ich mich am Gespräch
mit einem deutschen Ehepaar über die Frage, ob Jesus
Christus in Kaschmir gestorben sei, erfreuen. Sie erzählen
auch von Unruhen, die sie in Srinagar erlebten, von fanatischen Schiiten,
die mit Steinen auf ihr Hotel auf dem Dal-See warfen, und Feuer zu legen
versuchten. Wie schließlich der Manager beschloss, das Hotel aus Sicherheitsgründen
zu schließen, und alle Gäste ausziehen mussten.
Ich nehme auch an dem jungen, frisch verheirateten Paar Anteil, das ihre
Rucksäcke durch die Schlampigkeit der Syrian Arab Airlines
verloren hat, und bedauere das ältere Ehepaar aus Belgien,
das mit dem Flugzeug direkt aus Delhi eingeflogen ist. Der Mann leidet
furchtbar an Höhenkrankheit (ein Wahnsinn, den Höhenunterschied
von 300 auf 3600 Meter so schnell bewältigen zu wollen), der Rückflug
ist aber erst für den 15. September gebucht. Die Flüge nach Srinagar
sind total überbucht, so bleibt nur der Bus, eine Mitfahrgelegenheit
oder das (teure) Taxi.
Man empfiehlt auch uns, uns für die Rückfahrt in die Warteliste
einzutragen, was wir dann, lange vor dem Schalter stehend, auch machen werden.
Am Tag vor der Fahrt werden, zur Bestätigung der Reservierung, zuerst
die Eingetragenen in der Warteliste aufgerufen. Zur Kontrolle soll sogar
der Pass verlangt werden, es ist also alles korrekt und organisatorisch
gut gelöst.
2. September
8 Uhr:
Treffen bei SECMOL, Eintragen der Passnummer in die
Teilnehmerliste, denn: Staatssicherheit ist das oberste Gebot, dann Zusammenzwängen
in den Jeeps.
8 Uhr 30:
Abfahrt zur obligatorischen Gompa-Rundfahrt.
Die weite Wüstenlandschaft der durch
Erosion geprägten Berge und die flockenartigen Wolken am Himmel beeindrucken
mich, nach all dem Sehen der vergangenen Tagen, nicht mehr besonders.
Die Nase läuft, und nicht nur meine: Hier hört man es husten,
dort niesen, überall triefen die Nasen, tränen die Augen, und
die Stimmen hören sich heiser an. Der Staub, die dünne Luft und
die rasche Klimaveränderung haben das Ihre getan.
Nach 47 Km, Ankunft im Hemis-Gompa (buddhistischem Kloster).
Ein kurzer Fußmarsch, dann die Ernüchterung: Die Touristen stehen
im Hof an jeder Ecke herum, sind sich gegenseitig im Weg, gucken trostlos
um sich, leiden unter der Hitze und dem Staubschnupfen. Es herrscht wahrhaftig
keine "holy atmosphere", wie eine amerikanische Touristin zu Margit sagt.
Dümmlich aussehende Mönche betätigen sich in diesem heruntergekommenen,
in meinen Augen eher unattraktiven Kloster als Fremdenführer.
Man lässt sich fast interesselos von Buddha-Statue zu Buddha-Statue
führen. Zieht die Schuhe aus, zieht sie wieder an, dann noch einmal
aus und so weiter und so fort.
Kulturausverkauf à la Neckermann. So verstärkt sich bei mir der unangenehme
Eindruck, dass diese Kultur äußerst fragil sei, allzu anfällig
für die Aufgabe der eigenen Identität.
Eine
kurze Zusammenfassung über Ladakh
3. September
Als mich um fünf Uhr früh der Muezzin mit
seinem "Allah-uh-Akhbar" Ruf aus dem Schlaf reißt - wie zudringlich
wirkt doch der Islam in diesem überwiegend buddhistischen
Land - ist es noch kalt und dunkel, mein Hals brennt wegen all dem Staub
und der trockenen Luft, und ich friere und ärgere mich beim mühsamen
Versuch, meine vollgepackten Koffer zu schließen.
Während Margit nach Kargil, wo wir uns am Abend zur Weiterfahrt nach
Srinagar wieder treffen wollen, mit dem Bus fährt und unsere
Plätze freihält, leiste ich mir zum teueren ausgehandelten Preis von 1400
Rupien (ca. 200 DM) ein Taxi. Nur so kann ich nach Herzenslust anhalten
und fotografieren.
Mohamed Iqbal, der Fahrer, ist Ladakhi und Moslem. Sein Monatsverdienst,
so erfahre ich, entspricht etwa der Hälfte dessen, was ich selbst
für die geplante Tagesfahrt bezahle.
Er fährt den alten Ambassador ganz gemächlich und überholt
nicht einmal die stinkenden Lkws; gleichwohl kann er bei all
seiner Vorsicht wegen der Unübersichtlichkeit der Kurven ein paar
Fastzusammenstöße nicht vermeiden. Was wäre doch das Leben
ohne einen täglichen Adrenalinschuss!
Lastwagenfahren im Himalaja: Das ist ein wirklich harter Job. Allein in
den paar Stunden, die wir seit Leh unterwegs sind, habe ich zwei
umgekippte Lastwagen am Straßenrand liegen gesehen, in gefährlicher
Nähe des Abgrunds. Was nutzen da die Verkehrserziehungssprüche,
die man überall lesen kann? Denn, wer von den Fahrern kann schon
Englisch verstehen?
"IF MARRIED, DIVORCE SPEED",
"DRIVE LIKE HELL, YOU WILL BE THERE",
"WHY ARE YOU RUNNING? YOU STILL HAVE TO WRITE YOUR WILL".
Diese Rückreise beginnt für mich mit etwas mehr Nüchternheit
als bei dem in meinen Augen großartigen, faszinierenden Hinweg.
Der Neuigkeitseffekt ist verpufft, und die Landschaft zeigt jetzt, was
sie wirklich ist: eine knochenharte, trockene Wüste. In diesem Bewusstsein
kommen mir die vier Mountainbike-Fahrer, die uns unterwegs begegnen, noch
absurder vor.
In der Raststätte oberhalb vom Kloster Lamayuru, dessen Besichtigung
ich leider auch diesmal ausfallen lassen muss, machen wir eine Mittagspause.
Während Mohamed unaufdringlich beim Auto bleibt, nehme ich an einem
Tisch im Freien Platz und bestelle Dal, ein scharfes Linsengericht.
Beim Essen komme ich mit einem aufgeschlossenen, gepflegt gekleideten
älteren Herrn ins Gespräch. Mir fällt sein mit Türkisen
bestücktes Armband im "Navajo"-Stil sofort auf. Er wirkt rüstig
und munter und ist mit der Busreisegesellschaft Rotel unterwegs.
Er nennt sie humorvoll Mumienexpress, wegen des hohen Durchschnittsalters
der Mitreisenden.
Außer von einigen amüsanten Rotel- und sonstigen Erlebnissen
erzählt er auch zu meiner großen Überraschung, wie
die Vorgängergruppe eine ganze Reihe verregneter Tage hatte hier,
im regenärmsten Gebiet der Welt.
Nach Ladakh ist der Weiterflug nach Pakistan geplant, und dort soll das
organisierte Abenteuer für Rentner und Pauschaltouristen im Karakorum-Gebirge
fortgesetzt werden.
Der Rest des Tages ist ein dauernder Wechsel zwischen fahren, schauen,
anhalten, fotografieren, weiterfahren, Müdigkeit, Begeisterung und
Ernüchterung. Das Berauschende der Hinfahrt ist verflogen. Ich
suche die Aussichten, die Berge, die Schatten und die Farben, die ich
in Erinnerung hatte, aber es sieht alles etwas blasser aus. Auch das zauberhaft
klare Licht von damals ist einem milchigen, leicht verhangenen Himmel
gewichen.
Kargil, abends
Es will mir nicht ohne weiteres gelingen, in diesen
unrasierten, schäbigen, in staubigen Fetzen gehüllten armseligen
Menschen am Ende der Welt, Menschen wie du und ich zu sehen. Ich kann
mir, aus der Distanz des wohlhabenden, überlegenen Europäers
nicht vorstellen, wie sie leben, wie sie denken, wie sie mit dieser erbarmenswürdigsten
aller Existenzen fertig werden. Aber plötzlich denke ich an die zwei
Mönche von Kloster Tikse zurück, wie sie miteinander
scherzten, wie Lausbuben fangen spielten, scherzhaft balgten; oder
ich sehe ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter und denke dabei an
meinen eigenen Sohn, oder ich beobachte die Jugend am Abend auf der Hauptstraße
beim Flanieren und Nichtstun in der lauen, staubigen asiatischen Nacht
und fühle mich in ein vergangenes Italien zurückversetzt.
Dann verflüchtigt sich in mir die Vorstellung, dass so ein Leben
nicht lebbar sei, und ich wünsche mir sogar, und sei es nur für
eine kurze Zeit, in so einen Menschen hineinschlüpfen zu können,
um zu entdecken, wie normal dies alles ist: normal der Staub, der Lärm,
die Armut, die Sorgen; normal der Lebenskampf in seinen ungewöhnlichsten
Formen, normal die mir unverständlichen Gewohnheiten und sozialen
Zwänge und die langsame, unentrinnbare Veränderung durch die
Konfrontation mit der Industriegesellschaft.
Wenn man den Menschen nur ins Gesicht schaut, dann kommt die Gleichheit
augenfällig zur Schau: das neugierige Kind, der verärgerte
Händler, der resignierte Ladenbesitzer, dessen Augen beim Vorbeigehen
eines möglichen Kunden einen Augenblick lang vor Hoffnung aufleuchten
- Blicke als Versprechungen und Enthüllungen.
Man braucht innere Ruhe, um die vorhandene Distanz zu verringern, um von
der Ablehnung zum Verständnis zu kommen, oder wer weiß, zu
einer Form der Liebe.
Und während ich auf die stundenlange Fahrt von Leh zurückblicke
und all die Menschen, die ich gesehen habe, und deren offene, gleich
zum Lächeln bereite Gesichter Revue passiere, wächst ein Gefühl
von Harmonie und Verständnis in mir und breitet sich von innen langsam
aus wie die wohlige Wärme eines Kachelofens. Mit der wachsenden
Anteilnahme wird mir aber auch schmerzhaft bewusst, dass gerade solche
Menschen, die ihr lebendiges, naives Ich noch bewahrt haben - wie es übrigens
alle Psychologen verlangen -, beim Zusammenprall mit unserer so totalitären
westlichen Zivilisation, in der Geld und Dinge zunehmend geistige Werte
ersetzen, besonders verletzlich sind in ihrer Person und Lebensart. An
keinem Ort hatte ich jemals so einen starken Eindruck, eine zum Sterben
verurteilte Kultur zu erleben, wie in Ladakh: Wie schon erwähnt,
verstärkten die Inder nach dem bewaffneten Konflikt mit China im
Jahre 1962 ihre militärische Präsenz in dieser entfernten Ecke
des Landes und bauten die Infrastruktur (wie die Straße Kargil-Leh)
entsprechend aus. Dies wiederum erleichterte auch den teilweise
nur saisonalen Zuzug kaschmirischer Einwanderer und die Ausbreitung des
Islams: in Leh bekam ich den Eindruck, dass bereits jedes zweite Gesicht
indisch/kaukasische Züge trug. Und mit der 1974 erfolgten Öffnung
des Landes für die Außenwelt kamen die größeren
Zerstörer, die Touristen, die zum Glück nur in der kurzen Sommerzeit
ihre materialistische und merkantile Lebensweise auf Kosten der Zufriedenheit,
der Ehrlichkeit und der Einfachheit der Leute zur Schau stellten.
Bald schwenken meine Gedanken wieder von den Menschen dieses Landes zu
seiner großartigen Landschaft, tauchen in deren unermesslichen Weiten
ein, in denen die gewaltigen Felsen, die Steine und die reißenden
Flüsse die Geschichte der Erde erzählen, und verweilen bei den
unerwarteten Inseln der Fruchtbarkeit, wo das liebliche Grün von
Pappeln und Weiden wasserreiche Täler vermuten lässt.
Was geht in mir vor? Ist es nur diese weich machende Abenddämmerung,
die mich, wie schon oft, so stark berührt? Ich fühle mich noch
mittendrin, möchte, obwohl der Abstecher nach Ladakh schon fast Vergangenheit
ist, noch nicht zurück. Dennoch: Bald werden die Busse und Lastwagen,
die das Straßenbild beherrschen, nur noch Erinnerung sein,
wie auch die riesigen Russ- und Staubwolken, die von diesen Dieselungetümern
erzeugt werden, und denen man bei jedem Überholmanöver trotz
Schal vor Mund und Nase schutzlos ausgeliefert ist.
Vergessen werden die klappernden Fenster und die Zugluft in unserem "Luxus"-Reisebus
sein und die nicht eingestandene Angst bei manch gefährlicher Kurve,
vergessen die Nur-für-zwei-Tage-Reisegefährten wie der britische
Sonderling mit Ohrring und Schweißfüßen auf den hinteren
und die dicke redselige Amerikanerin auf den vorderen Sitzen. Aus dem
Gedächtnis entschwunden wie viele Details, die nicht durch Fotografie
oder Aufschreiben - diese wundersamen Suchpfade zum Noch-nicht-verschollenen
- festgehalten wurden. Oder könnte ich mich auch noch in einigen
Jahren ohne helfendes Lichtbild an die Gesichtszüge der lächelnden
Wirtin in der Antelope Lodge erinnern ?
Tagesabschluss in Kargil bei Kerzenlicht: "Today light comes very
late". Im Zimmer heißt es: Katzenwäsche bei Dunkelheit (Taschenlampe)
und kaltem Wasser.
Morgen soll es sehr zeitig weitergehen: Um vier Uhr früh wollen wir
uns wecken lassen. Oh Traum vom Ausschlafen in einem komfortablen, sauberen
Hotel !
4. September
Es geht weiter: erst in völliger Dunkelheit,
bei der ich erfolglos versuche, weiterzuschlafen und dann
beim ersten Licht, dass die Gipfel der mächtigen Berge anstrahlt.
"Stop and go"! Die Straßen über die Pässe sind alle nur
einspurig, und man muss manchmal in der Kolonne bis zu einer Stunde auf
die Weiterfahrt warten. Einmal sind es Ziegenherden, die uns entgegen
kommen, ein anderes Mal werden gerade die Straßenschäden des
letzten Regens oder des schneereichen Winters beseitigt, oder wir begegnen
einem großen Militärkonvoi, der selbstverständlich uns
gegenüber Vorfahrt hat. Nach Grenzüberschreitungen von Seiten
Pakistans - Kargil ist nur 6 Kilometer von der Waffenstillstandslinie
entfernt - konzentrieren die Inder Truppen in der Gegend. Solche Vorfälle
sind jedoch ziemlich häufig und werden in der westlichen Presse kaum
erwähnt.
"Down we go": Nach einer Stunde Wartezeit am Zoji-la, was uns unerklärlich
bleiben wird, weil wir keinerlei Gegenkonvoi zu sehen bekommen, können
wir im Schneckentempo in der Kolonne weiterfahren.
Schütteln, Schaukeln; Rütteln, plötzliches Bremsen, Weiterfahren,
Staub und wieder Staub; Schweißgeruch, der sich zu steigern scheint,
als die Passstraße enger, steiler am Hang und angsteinflößender
wird.
An dieser Stelle muss ich bemerken, dass meine Nerven nur mittelstarker
Natur sind. Und weil ich diesmal nicht direkt am Fenster sitze, kann ich
auch nicht den Straßenrand (genauer gesagt, den Abstand der
Reifen vom Abgrund) direkt sehen, sondern nur die Tiefe des Abgrunds selbst.
So gesehen wird Jede Kurve zum spannenden Erlebnis! Die Fahrt auf der
Passstraße - dieses Wort wäre eigentlich nicht angebracht,
denn Erde, Staub, Steine und Löcher verdienen solch einen Namen nicht
- hat auch beim zweiten Mal nichts von seinem aufregenden Charakter verloren.
Ein paar Mal schaukelt der Bus derart stark um die Längsachse, und
das gerade an einer beängstigend steilen Stelle, dass wir alle
(wenn man es genau nimmt, könnte ich natürlich nur von mir sprechen)
feuchte Hände bekommen. Den indischen Fahrern zur Ehre muss ich gestehen,
dass ich auf diesen Pässen zwar mehrmals umgekippte Lastwagen beobachten
konnte, niemals aber einen verunglückten Touristenbus. Mit so einer
Fahrt (gleich zweimal) hinter mir verstehe ich nun, wie sich im Himalaja
niemand von Straßenschilderweisheiten wie "CAUTION WEAK BRIDGE"
aus der Ruhe bringen lässt.
In Sonamarg angekommen werden wir von nicht näher einzuordnenden
Uniformierten angehalten und aufgefordert, eventuell aus Kargil
mitgebrachtes Obst wegzuwerfen, es könnte infiziert sein. Vielleicht
ist es besser, genaueres nicht zu erfahren, denn tatsächlich haben
mir die kleinen, süßen Aprikosen außerordentlich gut
geschmeckt.
Etwas Positives hatte diese Schüttel und Rüttelfahrt auf jeden
Fall: Meine Rückenschmerzen sind wie verschwunden !
Srinagar 4. September, abends
"Today no light", sagten wir uns mit einem spontanen
Lachen, als auch im vornehmen Hotel Dar es Salam die Lichter ausgingen.
Aber diesmal sollte es zum Glück nur für kurze Zeit sein, und
so fühle ich mich, noch etwas müde von der Reise freilich, aber
frisch geduscht, umgezogen und gut gelaunt, innerlich ruhig und in der
Lage, den gestrigen mit dem heutigen Abend zu vergleichen.
Gestern: Mit triefender Nase und dickem Hals saßen wir bei
(nicht beabsichtigtem) Kerzenlicht in einer Spelunke in Kargil.
Zu essen? Das Hühnerfleisch sei leider ausgegangen, sagte
man uns, denn die letzte Lieferung von 100 Hühnern aus Srinagar
sei bereits verbraucht; wie wäre es mit einem Mutton Chop Suey?
Soda and lime wollten wir haben? Nein, leider sei es auch schon
aus, warum kein applejuice? Nach diesem romantischen Abendessen
mussten uns die Taschenlampen den Weg ins "Hotel" zeigen, wo uns im Zimmer
die mehrmals benutzten Betten, in die wir bei völliger Dunkelheit
schlüpften, erwarteten.
Hoffentlich leisten uns heute Nacht keine Tierchen Gesellschaft, dachte
ich. Wecker auf 4 Uhr.
Heute: In diesem Hotel unmittelbar am Nagin-See, schweben wir in
einer Welt der "white sahibs und memsahibs". Lotosfelder reichen bis zum
englischen Rasen am Ufer. Der Blick auf den See, die Hausboote und den
beleuchteten Hari Parbat Fort im Hintergrund erfreut Auge
und Gemüt, während sich das Personal diskret aber zuvorkommend
im Hintergrund hält.
Wir nutzen zwar weder die "special arrangements for Honey Mooners",
noch brauchen wir "private kitchen and quarters for domestic servants",
aber wir genießen diesen Tag hier unbeschwert inmitten blasierter
Inder der "Upper Class" (so dachte ich wenigstens, bis sich herausstellte,
dass es Teilnehmer an ein Symposium indischer Englischlehrer waren).
Wir freuen uns am chinesischen
Abendbuffet, an der Ausstrahlung der alten aus Holz geschnitzten Möbel,
den Teppichen und an der Patina der "bygone times of the Raj".
Ab morgen droht uns wieder Staub und Hitze.
Unruhen in Srinagar, Scharmützel an der Waffenstillstandslinie, Ausschreitungen
zwischen Moslemsekten in Bombay (wo wir hinwollen), ein Toter und hundert
Verletzte - oh Land der Gewaltlosigkeit, wir kommen!
5. September Ein
Sperber kreist in geringer Höhe über uns, der Rasen ist nass
von frischem Tau, von einem Hausboot steigt Rauch auf. Plötzlich
erscheint ein schwarzweißer Vogel, "steht" einen kurzen
Augenblick in der Luft, den Schnabel nach unten gerichtet. Dann saust
er im Sturzflug aufs Wasser zu.
Tage auf diese Weise vergehen lassen, nichts tun, "one soda and lime please"
dem Hotelboy zurufen, lesen, die frühen und späten Stunden des
Tages im Garten sitzen, Details der Natur beobachten - man könnte
ins Schwärmen geraten.
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