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27. August
"Jay Ganeshi Jiva, Jay Ganeshi Jiva" murmelt ein weltvergessener
Hindu monoton vor sich hin, während er in einem ununterbrochenen
Strom von Gläubigen den Hügel zum Shankaracharya Tempel
hinauf pilgert.
Heute wird Raksha Bandhan gefeiert, das Fest an dem Schwestern
von ihren Brüdern alles erbitten dürfen. Mädchen und Frauen
binden ein aus feinen Baumwoll-, Seiden-, Silber- oder Goldfäden
gewirktes Amulett ihren Brüdern um das rechte Handgelenk, damit sie
vor Krankheit und Gefahr geschützt werden. Als Gegenleistung erhalten
sie Geschenke. Auch mir wird auf dem Weg zum Tempel ein kleines Armband
um das Handgelenk gebunden; auch kleine Kerzen und Räucherstäbchen
werden zum Kauf angeboten, sowie Blumen, Obst und Prasad (geweihte
Speise) in Form von Zuckerkörnern, die man als Opfergaben verwendet.
Vor dem Tempel stehen die Pilgermassen dicht gedrängt in langen Reihen
und werden von Polizisten, die sie nur in Schüben (Männer und
Frauen getrennt) voran lassen, streng überwacht. Viele lassen sich
einen glückbringenden Tilak auf die Stirn tupfen, spenden
dafür eine Kleinigkeit und nehmen noch etwas Prasad entgegen
(hier kleine Teigfladen mit klebriger Zuckerpaste) bevor sie sich in die
endlose Schlange einreihen, die sich sehr langsam und in mehreren
Schleifen zu den Tempeltreppen hin bewegt.
Margit und ich stehen eine Zeit lang ziemlich unschlüssig da, bis
uns ein "freundlicher" Polizeioffizier ("Head Constable" Ghulam) weiter
hilft.
Zuerst müssen wir uns die Schuhe ausziehen, dann darf sich Margit
bei den Frauen einreihen, während ich ganz vorne in die Männerschlange
eingeschleust werde. Dann scheint man es sich noch einmal überlegt
zu haben und führt auch mich zum "Fraueneingang" bei dem es
etwas schneller vorwärts geht. Den Treppen folgend, dicht gedrängt
und ohne einen Augenblick stehen zu bleiben, schiebt sich die Menge bei
der einen Seite hinauf und der anderen hinunter. Endlich erreiche auch
ich das Innere des Tempels.
Es ist schummerig und die Luft stickig. Bald bin ich schweißgebadet.
Ellbogen an Ellbogen drängen sich die kleinen Frauen an den Sadhus
vorbei, die segnend und Opfer entgegennehmend um den Shiva-Lingam
herum sitzen. Meine Kamera und ich werden in diesem Strom, der sich bewegt,
aber in dem man sich nicht bewegen kann, wörtlich mitgesogen. Eine
Birne, mit der ich nicht viel anzufangen weiß (soll ich sie als
Puja an die Gottheit opfern, soll ich sie essen?), wird mir in die Hand
gedrückt; verlegen mache ich ein paar Rupien locker, und
schon bin ich wieder an der frischen Luft.
Um der Gefahr zu entgehen, den am Nachmittag besuchten Shalimar
Garten mit eigenen zwangsläufig zuckersüßen Worten zu
beschreiben, zitiere ich lieber den etwas trockenen Reiseführer:
"Der Shalimar Garten (der Garten, 'in dem die Liebe wohnt') ist der berühmteste
aller Moghulgärten. Er wurde 1619 von Kaiser Jehangir angelegt, der
mit seiner Frau Nur Jahan in den Sommermonaten hier lebte." Hinzuzufügen
wäre nur, dass Jehangir, der Kaschmir völlig verfallen war,
seine Architektur mit Wasser schuf: unter Brücken, über Terrassen
und durch Blumenbeete und Wiesen fließend, sprudelnd aus Fontänen,
und Pavillions umspülend, bestimmt das Wasser den Charakter dieser
malerischen Anlage.
Falls wir immer noch glaubten, dass es die Inder sind, die exotisch sind,
müssen wir unsere Meinung im Shalimar Garten ändern:
In einer seltsamen Situationsumkehrung fotografieren hier indische Touristen
uns. So, nur um die Fotos zu Hause zu zeigen. Margit wird natürlich
bevorzugt, mal von links, mal von rechts, manchmal setzt sich jemand neben
sie, manchmal sind es gleich drei oder vier: "klick, klick", jetzt alle
zusammen, einmal mit einer Rose in der Hand selbst die Requisiten bekommen
sie von uns.
Wir leben uns langsam ein. Margit ist bereits perfekt im Aushandeln der
Taxipreise, und so können wir uns bei der Rückfahrt eine längere
Strecke leisten: dem See entlang und an der in ganz Indien bekannten
Hazrat-Bal-Moschee vorbei. Hier verehren Gläubige
ein Haar des Propheten, das 1634 nach Indien gelangte.
Ihre Bekanntheit erlangte die Moschee aber erst in der Nacht zum 27. Dezember
1963, als die heilige Reliquie gestohlen wurde. Ganz Kaschmir erlitt einen
Schock. Unruhen durschüttelten das Land. Es gab lange Trauerprozessionen
mit nicht aufhörenden "Allah-o-Akbar"-Rufen. Schwarze Fahnen
wehten über den Dächern der Häuser. Die Hausfrauen weigerten
sich zu kochen. Alle: Hindus, Buddhisten, Moslems und Sikhs schlossen
sich der Revolte an. Dann, so geheimnisvoll wie sie verschwunden
war, tauchte die Reliquie am 4. Januar 1964 wieder auf.
27. August, abends
Daumen als Phasenprüfer: Ein Mann fasst mit dem
Daumen das Ende eines Kabels an und sagt mit ernster Miene: "there is
power, actually."
Am Abend essen wir wieder im Halbdunkeln (diesmal im Restaurant Dal
Rock und mit weiteren Gästen im Saal) mit Blick durch getönte
Fensterscheiben auf den Verkehr der Hauptstraße, vorzüglicher
chinesischer und indischer Küche und Sodawasser. Letzteres leider
nur auf der Speisekarte vorhanden weil "not available".
28. August, 5 Uhr Früh
Zum "Schwimmenden Markt"
Wie im Traum gleitet die Shikara durch eine Zauberwasserwelt
aus Weiden, Schilf und rosaweißen Lotusblüten. Die Nacht ist
in der Stille noch spürbar, die Luft kühl und das Licht kommt
nur zögernd auf.
Vollmond, leichter Dampf über der Wasseroberfläche, wuchernde
Vegetation; Vogelgezwitscher, kreischend auffliegende Krähen,
blaugefiederte Eisvögel im Sturzflug: Es ist fast unwirklich schön.
Der Tag wird nur zögernd heller, die Silhouette der Berge in der
außerordentlich klaren Luft allmählich deutlicher. Wir fahren
an kleinen, auf Inseln gebauten Hütten vorbei. Alles, was man sieht,
von der Bretterbude bis zur ehrwürdigen, Patina ausstrahlenden
Villa, ist harmonisch eingerahmt von Wasserlilien und Schilf.
"Allah-o-Akbar"-Rufe begleiten uns aus der Ferne, Boote, die auch zum
"floating market" fahren, tauchen jetzt öfter neben uns auf.
Wir fahren in freigeschnittenen Fahrrinnen zwischen den Wasserpflanzen.
Als von einem auf Pfählen errichteten und als Toilette dienendem
Bretterverschlag eine Hand herausragt, um Wasser zu schöpfen, kann
ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Schon sehen wir die vollbeladenen
Kähne der Gemüsehändler: Ein Kahn mit ein paar Rüben
überholt uns, später schiebt sich ein Blumenboot vorbei. Bald
wird gefeilscht, gewogen, verkauft und verladen. Berge von Gemüse
wechseln den Eigentümer.
Und die Sitten sind rauh: Ein Käufer wirft sein Geld in das Boot
eines Händlers und fängt an, die Gurken in sein Boot herüberzuschaufeln.
Der zweite lässt es sich nicht gefallen, wirft das Geld verächtlich
zurück und holt sich unter aufgeregtem Gestikulieren und
Palaver sein Gemüse zurück. Unerschrocken wiederholt der Möchtegernkäufer
den Vorgang einmal, zweimal, mehrmals, aber ohne Erfolg.
In der Zwischenzeit lässt sich Margit Samen verschiedener exotischen
Blumenarten vorführen. Exotisch klingende Namen wie "Persian Cockbar"
verleiten sie zum Kauf.
"Push-Push", ruft mir auffordernd ein Händler zu, und meint dabei,
ich solle unser Boot wegschieben. Geistesabwesend halte ich es aber für
einen Blumennamen und der Zusammenstoß mit einer anderen
Shikara lässt sich nicht mehr vermeiden.
Man muss sich die Szene vorstellen: Wir kommen im Morgengrauen an; nur
etwa 20-30 Kähne bilden den eigentlichen schwimmenden Markt; während
der Tag heller wird, gesellen sich immer mehr Touristen-Shikaras dazu,
in kürzester Zeit ist der Markt umzingelt, Foto und Filmkameras sind
gezückt, die Vorstellung kann beginnen.
Die Akteure nehmen von den zahlreichen Zuschauern kaum Notiz und gehen
mit gewohnter Hektik ihren alltäglichen Geschäften nach.
Im Gegensatz dazu verfolgen die allgegenwärtigen fliegenden Händler
mit ihren Booten die Shikaras der Touristen und bieten ihre Waren an:
Blumensamen, Lotusblüten, Getränke, billigen Schmuck, Schals,
Pelzmützen, Kinderjacken, Pappmaché-Dosen, Filme, Postkarten (alles
ist selbstverständlich "cheaper", und "looking is free").
Kameraverleih und Reparatur direkt vom Boot aus, das gibt es auch.
Der Spuk dauert nicht länger als eine Stunde. So schnell wie sie
gekommen sind, eilen alle auch wieder weg. Auch wir machen uns auf den
Rückweg. Im grellen Tageslicht ist die Verzauberung der ersten Stunde
rasch verschwunden aber die nüchterne Schönheit der Seerosenteppiche,
der Lotusknospen und der auf dem See schwimmenden Inseln ist nicht
minder begeisternd.
"Do you want some tea?", fragt uns der Shikara-Mann, als er bei seinem
Haus in der Lagune hält. Als wir, überrascht von dieser Geste
der Gastfreundlichkeit, erwartungsvoll (und durstig) bejahen, fährt
er zielstrebig zu einer unscheinbaren Baracke auf einer taschentuchgroßen
Insel ein "Kashmir Artshop". Hier müssen wir bei einer Tasse Tee
allerdings zwanzig Minuten lang Teppiche ansehen. Die Preise? Wie im Kaufhof
in München.
Dann lassen wir uns zurückfahren. Paraden von hölzernen Hausbooten
mit vielsagenden Namen säumen die Ufer: NAVRATTAN,
MOTHER INDIA, NEW CALIFORNIA, PLEASURE PALACE, GENEVA, MICHAEL JACKSON,
MISS AMERICA, NEW MOON.
Taxifahrt nach Gulmarg.
Schweigsam ist er sicher nicht: Abdul, der selbstsichere,
selbsternannte "Fremdenführer", der den eher stillen Fahrer,
der offensichtlich kein Wort Englisch versteht, begleitet. Der junge Mann
gibt sich auch etwas frech. "I nephew, you uncle and aunt", sagt er uns
mit einem verschmitzten Lächeln, quasi um die Rollen zu verteilen
und festzulegen. Mit einem Dauerlächeln auf den Lippen, die großen,
perlweißen Zähne ewig zur Schau stellend, erläutert er
uns vieles, was unzählige Touristen vor uns vermutlich auch aus seinem
Munde erfahren haben: dass die Kirsch- und die Erdbeersaison
vorüber sind, dass Cricket-Schlagstöcke aus Weidenholz hergestellt
werden, während man zur Anfertigung von Streichhölzern Pappelholz
verwendet. Und der kleine blaue Vogel da, der vor unserem Auto plötzlich
auffliegt, das ist ein Eisvogel (King Fisher). Als wir Abdul fragen,
wo er sein gutes Englisch erlernt hat (immerhin kann
er weder lesen noch schreiben), sagt er listig: "From God I had my bones
and my muttons from you." Seine Begabung (die Knochen) hat er von Gott,
und seine Sprache (das Fleisch) von uns (Touristen). Auch zur Politik
nimmt er Stellung. Indira Gandhi, meint er, hätte nicht nur ihren
Sohn Rajiv, dessen Frau ihr als politische Widersacherin zu stark
geworden war, umbringen lassen (tatsächlich kam er unter nie
geklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben), sondern
auch ihren eigenen Vater. Wenn man die blutrünstigen Familiengeschichten
der Mogulen kennt, ist so etwas durchaus im Rahmen des Vorstellbaren.
Man darf zur Wahrung der Objektivität allerdings nicht vergessen,
dass Kaschmir Pakistan-freundlich ist und die Nehrus (Brahmanen aus
Kaschmir) schon immer als Erzfeinde dieses islamischen Landes betrachtet
wurden.
Gulmarg ist alles andere als der vornehme Urlaubsort aus den Reiseprospekten,
es sieht eher wie eine armselige Barackensiedlung aus. Ich sehe kaum Gebäude,
die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, geschweige denn eine Faszination
auf mich ausüben könnten wie die Schlösschen aus Simla
oder Mussourie, die sehr stark an England und an die Schweiz erinnern.
Wer die Alpen kennt, findet auch die Bergkulisse nicht besonders beeindruckend,
die Siebentausender sind noch in weiter Ferne. Dafür ist aber für
Sport gesorgt: Beim Hauptparkplatz lauern Dutzende von Ponyvermietern
auf die Touristen. Wie begeisterte Kinder auf einem Karussell vergnügen
sich ganze Familien aus allen Ecken Indiens bei einer kleinen Abenteuertour
hin zur nächsten Aussicht.
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