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Viñales, 21. Februar
Morgenspaziergang

Um acht Uhr ist die kleine Stadt bereits voll erwacht, das Licht ist knallhart und kündigt einen heißen Tag an. Von der Haupt­straße sind es nur ein paar Schritte in eine Ne­benstraße, und schon bin ich auf dem Land, mit gackernden, frei­lau­fenden Hühnern, an Pfos­ten in Hinter­hö­fen fest­ge­bun­denen Schweinen, guajiros (Land­arbeitern), die langsam auf ihrem Pferd oder Maultier vorbeireiten und Kin­dern in Schuluniformen, die eilig zum Bus laufen.
Pinien säumen die Hauptstraße, Ba­nanen, Palmen, Flamboyantes und Kastanien erzeugen ein üppiges, tropisches Ambiente, fast so wie ich es mir vorgestellt habe, Weihnachtssterne wachsen sparrig und mannshoch vor den armseligen Be­hau­sun­gen, die sehr stark an "Onkel Toms Hütte" erinnern.
Am Dorfrand gibt es - Erbschaft der Ame­rikaner - einen Base­ball­platz. Davor steht in dieser früh­en Stunde eine Grup­pe äl­te­rer Menschen, die nach den An­wei­sung eines Trainers ihre Mor­gen­gymnastik machen. Die­ser kleine zau­ber­hafte Mor­gen­spa­ziergang hat meinen Wunsch, hier länger zu ver­weilen, noch verstärkt. Doch zu zweit muss man Kompromisse schließen, und für die zwei Wochen, die uns zur Verfügung stehen, haben wir uns eine Menge vorgenommen.
So fangen wir damit an, das ganze touristische Pensum zu absolvieren, das uns der Reiseführer für diese Gegend vorschlägt: Die bizarre Mogotes-Landschaft aus der Nähe bewundern, die Cueva del Indio in einer unterirdischen Bootsfahrt erkunden, das Mural Prehistorico, ein überdimensionales Felsengemälde, das prähistorischen Felsmalereien nachempfunden ist, wenigstens aus der Ferne in Augenschein nehmen, und schließlich eine fabrica de tabaco (Zigarrenfabrik) in Pinar del Rio besichtigen.

Abstecher nach Pinar del Rio

Für "nur" fünf US-Dollars kann man den tabaqueros zuschauen, wie sie die Deck­blätter nach Größe und Farbe sortieren, die Zigarren rollen, schneiden, eti­ket­tie­ren, prüfen.
Man kommt sich vor wie in einem Zoo. Während die Arbeiter und Arbeiterinnen in langen Reihen von Bänken wie in einer Schulklasse bei ihrer Arbeit sitzen, be­we­gen sich Scharen von Touristen zwischen den selben, knipsen nach Belieben, ohne die Fotografierten auch nur zu fragen - man hat schließlich fünf Dollar bezahlt! -, marschieren durch die Räume, ohne ohne sich wirk­lich die Zeit zu nehmen, die ganzen Arbeitsabläufe zu beobachten oder sich diese erläutern zu lassen.
Ich kann es natürlich auch nicht lassen, die eine oder andere Person auf meinen Film zu bannen, versuche aber, mein Gewissen wegen dieser nicht gerade würdevollen Vorgangsweise zu beruhigen, indem ich die Betroffenen freundlich anlächle und sie mit einigen Münzen entschädige. Monedas ist ohnehin das am häufigsten gehörte Wort in diesen Räumen. Vermutlich verdienen die Fotogensten unter ihnen mehr durch Trinkgelder als mit ihrem Arbeitslohn.
Nach dem Fabrikbesuch fährt uns Omar zu einer der bekanntesten Tabakfarmen in Kuba, die von Alejandro Robaina. Hier in der Gegend von San Luis widmet sich seine Familie bereits seit 1845 dem äußerst schwierigen und anspruchsvollen Job des Tabakanbaus. Nicht umsonst gilt heute "Don Alejandro Robaina", Sohn des "Maruto Robaina", als Kubas bester und mit nun 94 Jahren auch ältester Tabakfachmann. Laut Grandma International "The world's best tobacco grower" - eine Legende.
Wer von uns sich bisher große, weite Tabakfelder im Freien vorgestellt hat, der wundert sich jetzt darüber, dass die Füh­rung in einem von einem Gaze ähnlichen Stoff über­dach­ten Feld beginnt. Man er­klärt uns, dass zur Produktion der gro­ßen, dünnen Blätter für die Zi­gar­ren­deck­blätter über den Feldern große Baldachine aus feinem lichtdurchlässigen Gewebe errichtet werden. Diese filtern etwas von der Sonnenkraft heraus, was den Blättern einen zarteren Geschmack gibt.
Bei den dafür verwendeten großblättrigen Stämmen werden vor der Blüte die Blütenstän oben an der Pflanze entfernt, damit sich das Wachstum auf die Blätter kon­zentriert.
Die Blätter werden dann, sobald sie ei­nen bestimmten Reifegrad erreicht ha­ben, zeitlich ge­staf­felt von Hand ge­ern­tet. Man hängt sie in der Folge in Troc­kenspeichern auf, wo sie an der Luft, über einem Feuer oder mittels Trock­nung­sautomaten getrocknet wer­den; je­de Tabaksorte welkt, färbt sich und trocknet so auf spezielle Weise, um jeweils das erwünschte Aroma zu erzielen.

Zurück in Viñales

In der Villa Heriberto angekommen, bin ich mir zuerst nicht sicher, ob es sich um die richtige casa particular handelt. Die dickliche alte Frau mit feinem Oberlippenbart und traurigem, fast beleidigten Blick, die im Haus herumschleicht, scheint mir überhaupt keine Ähnlichkeit mit der freundlichen Frau zu haben, die mir gestern Abend begegnet ist. Aber ich muss gestehen, ich erinnere mich nicht mehr genau an ihr Aussehen. So grüße ich verlegen aber freundlich und ernte dabei ebenfalls nur ein verlegenes, fast ab­wei­sendes Lächeln.
Inzwischen hat Roberto ent­ge­gen der Absprache mit unseren Gastgebern das Abendessen wieder in seiner casa be­stellt, was mich noch etwas mehr in Ver­le­gen­heit bringt. Tatsächlich fragt mich et­was später die traurige Gestalt, jetzt mit sehr vorwurfsvollen Blick, warum wir denn drüben essen würden, wo sie doch alles schon hier vorbereitet habe.
Die Wogen glätten sich erst als die Tochter - in ihr erkenne ich jetzt die freundliche Frau von gestern - von der Arbeit zurückkehrt und nach langem Palaver mit der Nachbarin mit dieser eine Übereinkunft findet.
So können wir schließlich ohne Gewissensbissen unser Abendessen genießen, das im Übrigen eine fast identische Kopie des gestrigen Essen ist; Gurken, Tomaten, Reis, Bohnen etc., nur der Hummer wird diesmal von pollo (Hühnchen) ersetzt.
Wie das Abendessen entpuppt sich auch der Abendspaziergang als ein Duplikat des gestrigen. Merkwürdigerweise kann ich ihn aber heute mehr genießen. Vielleicht liegt es am lauen Abend, an der Sternennacht, am Halbmond, der auf dem Rücken liegt, an der wirklich guten Musik, die von den zwei Lokalen herausströmt, oder vielleicht bin ich auch nur ausgeruhter. Ich kann aber auch nicht ausschließen, dass es die zwei Mojitos sind (Cocktails aus weißem Rum, Zucker, Zitronensaft, Eis und Pfefferminzblättern), die mir zu einer gelasseneren Stimmung verholfen haben.
Es sind die selben in Dunkelheit getauchten Nebenstraßen, es ist die selbe Hauptstraße, es sind die gleichen Menschen, die hin und her schlendern oder nur gelangweilt herumstehen. Ich erkenne den einen oder anderen sofort. Wieder sehe ich die Schwarze mit dem prallen Hintern. Aber heute erscheint mir die primitiv wirkende Frau nur als das, was sie wirklich ist: eine einfältige Dorfschönheit, die im Leben keine Chance bekommen hat, und die durch ein wenig Sex, Musik und menschlichem Kontakt, sich das zu nehmen versucht, was sie kann - vielleicht auch nur ein paar Dollar von den Touristen.